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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des M Y, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. April 2021, L502 2157344-1/33E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein staatenloser Palästinenser, stellte am 29. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er im Wesentlichen vor, von israelischen Soldaten im Westjordanland verhaftet und misshandelt worden zu sein.
2 Mit Bescheid vom 6. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AslyG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.). Begründend führt das BFA - soweit hier maßgeblich - zu Spruchpunkt II. aus, aufgrund der instabilen Sicherheitslage sei die Zurückweisung in die Palästinensischen Gebiete für den Revisionswerber mit der realen Gefahr einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK verbunden.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA mit der Maßgabe ab, dass der Spruchpunkt I. zu lauten habe: „Der Antrag auf internationalen Schutz [...] wird bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z. 2 iVm § 6 Abs. 1 Z. 1 AslyG abgewiesen.“ weiteres erklärte es die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Begründend stellte das BVwG - soweit hier maßgeblich - fest, der Revisionswerber sei im israelischen Autonomiegebiet des Westjordanlandes geboren worden. Er sei als palästinensischer Flüchtling beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East - UNRWA) in der Region Amman in Jordanien registriert und bei einer Rückkehr nach Jordanien keiner individuellen Verfolgung ausgesetzt. Bei einer Rückkehr nach Jordanien oder in das Westjordanland könne der Revisionswerber wieder den Beistand der UNRWA in Anspruch nehmen. Rechtlich folgerte das BVwG, aufgrund der Registrierung bei der UNRWA in Jordanien als staatenloser palästinensischer Flüchtling falle der Revisionswerber in den Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt D GFK bzw. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Status-RL. Der Revisionswerber sei daher a priori in Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ausgeschlossen, es sei denn, es wäre festzustellen, dass dieser Schutz „aus irgendeinem Grund nicht oder nicht länger gewährt wird“, was wiederum zur Folge hätte, dass dem Revisionswerber „ipso facto“ der Flüchtlingsstatus zukommen würde. Unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 13. Jänner 2021 in der Rechtssache C-507/19, Bundesrepublik Deutschland gegen XT, könne es dahingestellt bleiben, ob sich der Revisionswerber zuletzt in Jordanien oder im Westjordanland aufgehalten habe, weil beide Regionen Operationsgebiete von UNRWA seinen. Die Voraussetzungen in Form der Feststellung von „nicht vom Beschwerdeführer zu kontrollierenden und von seinem Willen unabhängigen Gründen“ für den Wegfall des Beistands von UNRWA seien beim Revisionswerber nicht gegeben.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zunächst vor, es wäre vom BVwG zu erheben gewesen, ob dem Revisionswerber eine Einreise in ein Einsatzgebiet [gemeint wohl: der UNRWA] zur Verfügung gestanden habe, bzw. zur Verfügung stehe und ob Umstände eingetreten seien, die zu einem Wegfall des Beistandes [gemeint wohl: der UNRWA] führen würden. Das BVwG hätte ein spezifisches Operationsgebiet ausweisen müssen. Der Revisionswerber sei zum Verlassen des UNRWA-Einsatzgebietes gezwungen gewesen, weil es UNRWA unmöglich gewesen sei, dem Revisionswerber in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der dieser Organisation obliegenden Aufgabe im Einklang stünden. Es lägen Umstände vor, aufgrund derer der Schutz der UNRWA weggefallen sei, die dem Revisionswerber nicht zuzurechnen seien. Der Revisionswerber habe dies in Bezug auf die reale Verletzung der körperlichen Integrität des Revisionswerbers durch die Hamas und die Israeli Security Forces und die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie dargestellt. Das BVwG habe zudem keine ausreichenden Feststellungen zur damaligen Sicherheits- und Versorgungslage im UNRWA - Schutzgebiet Jordanien, sowie zur aktuellen Sicherheits- und Versorgungslage im Westjordanland getroffen. Das BVwG habe dem Revisionswerber außerdem das Ergebnis einer im Wege der Staatendokumentation an die Österreichische Botschaft Amman gerichteten Anfrage nicht zur Kenntnis gebracht.
9 Werden Verfahrensmängel - wie hier Ermittlungsmängel - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. VwGH 28.10.2021, Ra 2020/19/0413, mwN). Diesen Anforderungen wird die Revision im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union und des Verwaltungsgerichtshofes zum Wegfall des Schutzes bzw. Beistandes der UNRWA nicht gerecht.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat auf Grundlage der Bestimmungen des § 3 AsylG 2005, der GFK und der Richtlinie 2011/95/EU bereits geklärt, dass Voraussetzungen für den „ipso facto-Schutz“ lediglich die Stellung eines Asylantrags sowie die Prüfung durch die Asylbehörden sind, ob der Beistand von UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen wurde, dieser nicht länger gewährt wird und keiner der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 1 lit. b oder Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/95/EU vorliegt. Für die Frage der Zuerkennung des „ipso facto-Schutzes“ ist weiter maßgeblich, ob der Schutz bzw. Beistand von UNRWA als weggefallen im Sinn der Richtlinie 2011/95/EU anzusehen ist. Für die zur Klärung dieser Frage erforderliche Feststellung, ob dieser Beistand tatsächlich nicht länger gewährt wird, haben die nationalen Behörden und Gerichte zu prüfen, ob der Wegzug des Betroffenen durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen dieses Gebietes zwingen und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen (vgl. zu allem VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0274, mwN, mit Hinweis unter anderem auf EuGH 19.12.2012, El Kott, C-364/11, Rn. 61).
11 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat sich im Urteil vom 13. Jänner 2021 in der Rechtssache C-507/19, Bundesrepublik Deutschland gegen XT, mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU und der unionsrechtlichen Situation eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, auseinandergesetzt (vgl. dazu VwGH 15.2.2021, Ra 2021/01/0011). Der EuGH hielt in dem Urteil vom 13. Jänner 2021 fest (Rn. 59 und 63), dass
„die Asylbehörde und das Gericht, bei dem ein Rechtsbehelf gegen deren Entscheidung anhängig ist, alle maßgeblichen Umstände des fraglichen Sachverhalts berücksichtigen [müssen], die Aufschluss über die Frage geben können, ob der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft in dem Zeitpunkt, in dem er aus dem Einsatzgebiet des UNRWA ausreiste, die konkrete Möglichkeit hatte, in eines der fünf Operationsgebiete des Einsatzgebiets des UNRWA einzureisen, um dort den Schutz oder Beistand dieser Organisation in Anspruch zu nehmen.
[...].
Ergibt sich aus der Beurteilung aller maßgeblichen Umstände des fraglichen Sachverhalts, zu denen insbesondere die in den Rn. 59 bis 62 des vorliegenden Urteils genannten Umstände zählen, dass der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft eine konkrete Möglichkeit hatte, in das Gebiet eines der Operationsgebiete des Einsatzgebiets des UNRWA, in denen diese Organisation imstande war, ihm ihren Schutz oder Beistand anzubieten, einzureisen und sich dort in Sicherheit aufzuhalten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nicht länger gewährt wird“.
12 Das BVwG kam nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zum Ergebnis, der Revisionswerber sei - entgegen der Annahme des BFA in dem angefochtenen Bescheid - als palästinensischer Flüchtling bei der UN-Hilfsorganisation UNRWA in der Region Amman South in Jordanien registriert, bei einer Rückkehr nach Jordanien keiner individuellen Verfolgung ausgesetzt, und könne bei einer Rückkehr nach Jordanien oder in das Westjordanland wieder den Beistand der UNRWA in Anspruch nehmen. Beweiswürdigend führte das BVwG - von der Revision unbestritten und ohne Bezugnahme auf die Ergebnisse der Anfrage an die Österreichische Botschaft in Amman - aus, sowohl der durchgehende Aufenthalt des Revisionswerbers bis zu seiner Ausreise in Ramallah, als auch die vorgebrachte Verfolgung durch israelische Sicherheitskräfte sei aufgrund zahlreicher Unplausibilitäten und Widersprüche nicht glaubhaft. Die Voraussetzungen in Form der Feststellung von „nicht vom Beschwerdeführer zu kontrollierenden und von seinem Willen unabhängigen Gründen“ für den Wegfall des Beistands von UNRWA seien beim Revisionswerber nicht gegeben.
13 Die Revision legt nicht dar, welche zusätzlichen Ermittlungen das BVwG in Bezug auf die berücksichtigten Operationsgebiete des UNRWA in Jordanien und im Westjordanland hätte anstellen und welche Feststellungen das BVwG hätte treffen müssen, die zur Beurteilung geführt hätten, der Revisionswerber habe den Beistand des UNRWA in diesen Operationsgebieten nicht (mehr) in Anspruch nehmen können. Auch in Bezug auf die vorgebrachten Ermittlungs- und Feststellungsmängel zur Lage in dem Organisationsgebiet Jordanien im Zeitpunkt der Ausreise lässt die Revision jegliche Relevanzdarstellung vermissen.
14 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit des Weiteren vor, das BVwG habe hinsichtlich der Sachverhaltsannahme, der Revisionswerber habe den Schutz von UNRWA im Organisationsgebiet Jordanien in Anspruch genommen, gegen das Überraschungsverbot und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. Wäre dem Revisionswerber diese Sachverhaltsannahme vorgehalten worden, hätte er Beweismittel aus dem Westjordanland beigeschafft, die seinen durchgehenden Aufenthalt dort hätten belegen können.
15 Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das sogenannte Überraschungsverbot auch im Verwaltungsverfahren anzuwenden. Unter dem Überraschungsverbot ist das Verbot zu verstehen, dass die Behörde in ihre rechtliche Würdigung Sachverhaltselemente einbezieht, die der Partei nicht bekannt waren. Ferner hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass sich das zum Überraschungsverbot in Beziehung gesetzte Parteiengehör nur auf die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts, nicht aber auf die von der Behörde vorzunehmende rechtliche Beurteilung erstreckt. Auch führt ein Verstoß gegen das Überraschungsverbot nur dann zu einer Aufhebung der beim Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erledigung, wenn diesem Verfahrensmangel Relevanz zukommt, was im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof darzulegen ist (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0421, mwN).
16 Entgegen dem Vorbringen der Revision hielt das BVwG dem Revisionswerber im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor, dass die vom Revisionswerber vorgelegte Registrierungskarte der UNRWA in Amman ausgestellt worden sei und befragte den Revisionswerber zu seinen Bezügen zu Jordanien. Von einem Verstoß gegen das Überraschungsverbot - also der Einbeziehung von Sachverhaltselementen in die rechtliche Würdigung, die der Partei nicht bekannt waren, - kann somit im Revisionsfall keine Rede sein (vgl. zur Bedeutung der mündlichen Verhandlung in diesem Zusammenhang etwa VwGH 14.9.2017, Ra 2016/15/0015, mwN).
17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 21. September 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 62011CJ0364 Abed El Karem El Kott VORABSchlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190212.L00Im RIS seit
10.10.2022Zuletzt aktualisiert am
10.10.2022