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Auswertung in Arbeit!Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. Sutter und Mag. Tolar sowie die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. Z H, und 2. M H, beide in W, beide vertreten durch Mag. Manuel Wegrostek, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 3/Lugeck 6, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag.a Alexandra Cervinka, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Kärntner Ring 12, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. September 2021, W155 2204754-3/11E, W155 2204751-3/10E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in Bezug auf die Erstrevisionswerberin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und in Bezug auf den Zweitrevisionswerber wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers; sie sind afghanische Staatsangehörige der Volksgruppe der Hazara und stammen aus Mazar-e Sharif.
2 Am 30. Dezember 2015 beantragte die Erstrevisionswerberin für sich und den Zweitrevisionswerber internationalen Schutz. Sie brachte zusammengefasst vor, in Afghanistan ein schweres Leben gehabt zu haben. Nach dem Tod ihres Vaters sei sie bei ihrem Onkel aufgewachsen, der sie oft geschlagen habe. Sie habe mit 15 Jahren geheiratet und sei zu ihrem Ehemann gezogen, der etwas später von den Taliban getötet worden sei. Einen Monat nach dem Tod des Ehemanns hätten sie die Taliban in ihrem Haus überfallen, bewusstlos geschlagen, ihren Schwager erschossen und die Schwägerin vergewaltigt. Daraufhin sei sie mit dem Zweitrevisionswerber in die Berge geflohen und habe dort in einer Höhle gewohnt, ehe sie die Flucht in Richtung Europa angetreten habe.
3 Mit Bescheid vom 4. Mai 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Partei bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab. Ihnen wurde jedoch der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und befristete Aufenthaltsberechtigungen gewährt.
4 Begründend führte das BFA aus, im Fall der Erstrevisionswerberin sei zwar keine drohende Verfolgung im Herkunftsstaat zu erkennen, jedoch sei absehbar, dass sie aufgrund ihrer individuellen Situation als verwitwete alleinerziehende Mutter eines minderjährigen Kindes, ihrer Arbeitsunfähigkeit, wegen mangelnder Schulbildung, schlechter allgemeiner Gesundheit und mangelnder Selbstfürsorge, mangels Planungs- und Umsetzungsvermögens und eines fehlenden familiären Netzwerks/Rückhalts (Kernfamilie) in Afghanistan einer Lage ausgesetzt werden könnte, die einer unmenschlichen oder menschenunwürdigen Behandlung gleichzusetzen sei. Deshalb seien ihr und dem Zweitrevisionswerber subsidiärer Schutz zu erteilen.
5 Die gegen den abweisenden Teil des Bescheides erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
6 Es stellte fest, dass die Erstrevisionswerberin in Mazar-e Sharif geboren worden sei, wo sie nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrem Onkel aufgewachsen sei. Sie verfüge über keine Schulbildung und sei zunächst im Haushalt tätig gewesen. In der Folge habe sie als Teppichknüpferin, Bäckerin und Schneiderin gearbeitet. Sie habe mit ihrem Ehemann gemeinsam mit dem Zweitrevisionswerber in der Provinz Balkh gelebt. Nach dem Tod des Ehemannes (ca. im Jahr 2010) sei sie in den Iran übersiedelt und von dort im Jahr 2015 mit ihrer Schwester, dem Schwager und deren Kindern nach Europa weitergereist. Zwei Schwestern der Erstrevisionswerberin lebten im Iran, eine Schwester in Australien und eine Schwester seit 5 ½ Jahren in Österreich (Salzburg). Zwei Brüder lebten noch in Afghanistan.
7 Die revisionswerbenden Parteien seien in ihrer Heimat keiner konkret und gezielt gegen ihre Person gerichteten Verfolgung ausgesetzt gewesen und sie hätten keine gegen sie gerichteten konkreten individuellen Verfolgungshandlungen darlegen können. Auch im Fall der Rückkehr nach Afghanistan wären sie keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.
8 Die Erstrevisionswerberin habe seit ihrer Einreise nach Österreich im Dezember 2015 keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Sie sei keine auf Eigen- und Selbständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sei. Die Erstrevisionswerberin habe in Österreich eine Ehe mit einem Iraner traditionell geschlossen, aber wieder aufgelöst; sie gehe spazieren und erledige den Haushalt. Sie habe an einem Alphabetisierungskurs teilgenommen, sonst aber keine Integrationsunterlagen vorgelegt. Sie leide an Diabetes Typ II, überhöhten Cholesterinwerten und einer Anpassungsstörung. Sie sei nicht in psychiatrischer Behandlung und nehme diesbezüglich keine Medikamente. Im Alltag sei sie auf die Unterstützung ihres minderjährigen Sohnes angewiesen.
9 Zur Lage von Frauen in Afghanistan traf das BVwG Länderfeststellungen gestützt auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Gesamtaktualisierung vom 11. Juni 2021 (Version 4). Zu den Auswirkungen der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan und der Machtübernahme der Taliban im August 2021 auf die Lage von afghanischen Frauen finden sich im angefochtenen Erkenntnis außerdem gestützt auf ein Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Fassung 16. September 2021, folgende Feststellungen:
„Die Taliban-Führung hat erklärt, dass Frauen in Zukunft ein wichtiger Teil der afghanischen Gesellschaft sein werden und dass sie nach islamischen Regeln Schulen besuchen und arbeiten dürfen. Die Taliban-Führung war jedoch vage darüber, wie sie ‚in Übereinstimmung mit den islamischen Regeln‘ interpretieren. Daher bleibt die Situation für Frauen in Afghanistan ... ungewiss“.
10 Beweiswürdigend erachtete das BVwG das Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin, die Taliban hätten sie in ihrem Haus überfallen, ihren Schwager getötet und die Schwägerin vergewaltigt, für nicht glaubhaft. Dabei werde nicht verkannt, dass die Erstrevisionswerberin eine Erwachsenenvertretung für die Vertretung vor Ämtern, Behörden, Gerichten aber auch bei Geschäften, die das tägliche Leben beträfen, habe. Trotz ihrer kognitiven Einschränkungen sei davon auszugehen, dass sie die zentralen Aspekte ihrer Erlebnisse gleichlautend wiedergeben könne, ohne Sachverhalte völlig auszutauschen und sich in massive Widersprüche zu verwickeln (was fallbezogen aber geschehen sei). Die Erstrevisionswerberin habe ca. sechs Jahre im Iran gelebt, zwei ihrer Schwestern lebten noch dort, sodass davon auszugehen sei, dass sie ihre persönliche Situation habe verbessern wollen und deshalb in den Iran bzw. später mit ihrer Schwester und deren Familie im Rahmen der allgemeinen Fluchtbewegung 2015 nach Österreich gereist sei.
11 Aufgrund des in der Beschwerdeverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks gehe das BVwG nicht davon aus, dass die Erstrevisionswerberin eine „westliche Lebenseinstellung“ übernommen habe und nunmehr ein gänzlich von afghanischen Verhältnissen abweichendes Leben führen wolle. Der Grad ihrer Integration sei als gering zu werten, sie verfüge über keine selbständige und eigenständige Lebensweise in Österreich und sei auf die Unterstützung ihres Sohnes angewiesen. Sie habe in der Beschwerdeverhandlung zwar erstmals angegeben, als Bäckerin selbständig arbeiten zu wollen, jedoch keine Angaben dazu machen können, welche Voraussetzungen sie hierfür mitbringen müsse. Trotz ihres über fünfjährigen Aufenthalts habe sie lediglich die Absolvierung eines Alphabetisierungskurses nachgewiesen. Sie kümmere sich im Wesentlichen um den Haushalt und koche für den Sohn. Sie habe kaum soziale Kontakte. Diese beschränkten sich auf den Kontakt zu Lehrerinnen ihres Sohnes. Die Möglichkeiten zu sportlichen, kulturellen Aktivitäten oder die Mitgliedschaft in einem Verein nehme sie nicht in Anspruch. Zur äußeren Erscheinung der Erstrevisionswerberin sei festzuhalten, dass sie in der Beschwerdeverhandlung in traditioneller afghanischer Kleidung erschienen sei und ein Kopftuch getragen habe. Zusammenschauend ergebe sich, dass sie keine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Sie habe keine „westliche Geisteshaltung“ angenommen und führe kein freibestimmtes Leben nach westlichen Normen. Aus diesen Gründen sei nicht anzunehmen, dass sie bei Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre.
12 Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan hätten sich - so das BVwG in seiner weiteren Begründung - auch keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß aufgrund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, einer Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe ausgesetzt zu sein.
13 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In ihr wird geltend gemacht, das BVwG habe den revisionswerbenden Parteien zu Unrecht kein Asyl gewährt. Es weiche von der höchstgerichtlichen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach gerade alleinstehende Frauen nach den einschlägigen Länderberichten und UNHCR-Richtlinien in der männerdominierten afghanischen Gesellschaft als besonders vulnerabel angesehen werden und asylrechtlichen Schutz benötigen. Das BVwG übersehe, dass die aktuelle Lebensweise der Erstrevisionswerberin auch auf ihre festgestellten psychischen Probleme zurückzuführen ist, aufgrund der sie einen Erwachsenenvertreter beigestellt bekommen habe. Der höchstgerichtlichen Rechtsprechung sei nicht zu entnehmen, dass eine „westliche Lebenseinstellung“ von Menschen, die sich aufgrund einer Anpassungsstörung und Analphabetismus nicht sehr aktiv am Gesellschaftsleben beteiligen könnten und deren Deutschkenntnisse niedrig seien, zu verneinen sei. Entscheidend sei vielmehr eine grundlegende und entsprechend verfestigte Lebensführung der betroffenen Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme und die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden sei. Dies treffe auch im Fall der Erstrevisionswerberin zu.
14 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
16 Die Revision ist zulässig und begründet.
17 Das BVwG bezeichnet die Erstrevisionswerberin im angefochtenen Erkenntnis als keine auf Eigen- und Selbständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sei. Es verneint daher, dass der Erstrevisionswerberin wegen ihres angenommenen Lebensstils im Herkunftsstaat Verfolgung drohen könnte.
18 Dem hält die Revision entgegen, die Erstrevisionswerberin sei zwar aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen auf Hilfe angewiesen, weshalb sie auch einen Erwachsenenvertreter beigestellt bekommen habe. Das allein reiche aber nicht aus, ihr einen Lebensstil abzusprechen, in dem die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme.
19 Nach der hg. Rechtsprechung ist bei der Beurteilung der asylrechtlich geschützten Lebensweise einer Frau, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt und deren Beibehaltung in Afghanistan zu Verfolgung führen würde (vgl. dazu VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388; jüngst etwa VwGH 10.3.2022, Ra 2021/18/0321), auf die individuellen Verhältnisse der betroffenen Asylwerberin Bedacht zu nehmen.
20 So hat der Verwaltungsgerichtshof schon zum Ausdruck gebracht, dass diese Beurteilung dem unterschiedlichen Erfahrungshorizont, dem Alter und der Bildung der betroffenen Frauen gerecht werden muss (vgl. VwGH 15.9.2021, Ra 2021/18/0143 bis 0151). Es wurde auch schon erkannt, dass allein die Tätigkeit im Haushalt und die Erziehung von Kindern die Annahme einer selbstbestimmten Lebensweise durch die betreffende Frau in Österreich, die zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist, nicht ausschließt (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 bis 0306).
21 Das gilt grundsätzlich auch für eine Frau, die ungeachtet ihrer psychischen Beeinträchtigungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine derartige Lebensweise angenommen hat, die sie bei Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr einer Verfolgung aussetzen würde.
22 Ob dies fallbezogen auf die Erstrevisionswerberin zutrifft, was vom BVwG verneint und von der Revision behauptet wird, ist aus folgenden Gründen nicht näher zu überprüfen:
23 Das BVwG vermeint, es lägen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Erstrevisionswerberin bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung erfahren würde. Ihrem besonderen Risikoprofil als verwitweter, alleinerziehender Mutter eines minderjährigen Kindes mit gesundheitlichen Einschränkungen sei nach Auffassung des BVwG mit der Gewährung von subsidiärem Schutz hinreichend Rechnung getragen worden.
24 Diese Einschätzung stützt das BVwG allerdings auf keine hinreichend aktuellen Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es zitiert zur Lage von Frauen in Afghanistan großteils nur Berichtsmaterial, das vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 datiert. Für die Zeit danach begnügt sich das BVwG mit dem Hinweis darauf, dass die Taliban angekündigt hätten, Frauen „nach islamischen Regeln“ zu behandeln. Was sie damit meinten, sei allerdings unklar, weshalb die Lage von Frauen in Afghanistan als ungewiss gelten müsse.
25 Auf dieser Grundlage lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob der Erstrevisionswerberin bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung im asylrechtlichen Sinne drohen könnte. Dabei darf insbesondere nicht außer Acht gelassen werden, dass sie ein besonderes Risikoprofil aufweist, welches eine erhöhte Vulnerabilität begründet und sie in besonderer Weise zum Opfer von Übergriffen bzw. Menschenrechtsverletzungen machen könnte.
26 Die vom BVwG getroffenen Feststellungen über die von den Taliban angekündigten Maßnahmen weisen darauf hin, dass die neuen Machthaber in Afghanistan religiöse und/oder politische Regeln für Frauen vorgeben wollen und werden. Welche Regeln das im Einzelnen sind und inwieweit sie in die Grundrechte von Frauen eingreifen, wurde vom BVwG nicht festgestellt. Es wurde auch nicht dargelegt, welche Konsequenzen Frauen zu erwarten haben, die sich an diese Regeln nicht halten.
27 Aus der angefochtenen Entscheidung geht somit nicht hervor, welche Lebensverhältnisse eine alleinstehende Frau (mit psychischen Beeinträchtigungen) wie die Erstrevisionswerberin in Afghanistan unter den neuen Machthabern vorfinden wird. Ohne derartige Sachverhaltsfeststellungen fehlt aber auch das notwendige Substrat für die asylrechtliche Beurteilung, ob der Erstrevisionswerberin bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) drohen könnte.
28 Als Verfolgungshandlungen definiert zum einen Art. 9 Abs. 1 lit. a der Statusrichtlinie solche, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Zum anderen kann nach Art. 9 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie die Verfolgungshandlung aber auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a beschriebenen Weise betroffen ist.
29 Dazu zählt die Statusrichtlinie ausdrücklich gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden bzw. solche, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen.
30 Der Grund für den im Falle einer Verfolgung im beschriebenen Sinne gebotenen asylrechtlichen Schutz könnte schon darin liegen, dass eine Abweichung von den herrschenden religiösen und/oder politischen Normen als Akt einer (allenfalls auch nur unterstellten) religiösen und/oder politischen Opposition betrachtet wird (vgl. dazu etwa VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118, 0119).
31 Zusammenfassend kommt daher aktuellen Feststellungen über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban im August 2021 für die Lebensverhältnisse der Erstrevisionswerberin bei Rückkehr nach Afghanistan für die Beurteilung des Asylanspruchs entscheidungsrelevante Bedeutung zu.
32 Da das BVwG derartige Feststellungen nur unzureichend getroffen hat, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Erstrevisionswerberin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
33 Dies schlägt im Familienverfahren auch auf den Zweitrevisionswerber durch und belastet das Erkenntnis insoweit mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG (vgl. etwa VwGH 10.3.2022, Ra 2021/18/0321 bis 0323).
34 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 31. August 2022
Schlagworte
Auswertung in Arbeit!European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180366.L01Im RIS seit
29.09.2022Zuletzt aktualisiert am
29.09.2022