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Auswertung in Arbeit!Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der N H in W, vertreten durch Mag.a Sarah Moschitz-Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. März 2022, W204 2232874-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine afghanische Staatsangehörige aus der Provinz Baghlan, beantragte am 23. Jänner 2020 internationalen Schutz in Österreich. Sie gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischen Glaubens. Sie verließ Afghanistan im Kleinkindalter und lebte vor der Einreise nach Österreich mit ihrer Mutter im Iran.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies mit Bescheid vom 16. Juni 2020 den Antrag auf Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).
3 In ihrer gegen den Spruchpunkt I. erhobenen Beschwerde brachte die Revisionswerberin vor, dass sie und ihre Mutter bei einer Rückkehr Verfolgung durch den Halbbruder befürchteten. Andere männlichen Verwandte in Afghanistan hätten sie nicht. Außerdem sei die Revisionswerberin „westlich“ orientiert. Sie wolle als Frau ein selbstbestimmtes Leben führen und sich ihren Partner selbst aussuchen. Es sei ihr wegen der Corona-Pandemie und ihres Aufenthalts in einer kleinen burgenländischen Gemeinde bisher kaum möglich gewesen, Deutschkurse zu besuchen. Sie habe jedoch über ihr Mobiltelefon mit ihrer Volkshochschullehrerin kommuniziert und auf diesem Weg Deutschaufgaben gelöst. Ergänzend brachte sie vor, dass sie in Österreich eine selbstbestimmte Lebensweise führe und eine moderne, „westlich“ orientierte Frau sei, die in Afghanistan nicht überleben könnte. Sie habe sich in Österreich fortgebildet, den Pflichtschulabschluss abgeschlossen und absolviere eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Sie wolle weiterstudieren und weiterhin Erfolg haben. Sie wolle Rechte wie ein normaler Mensch haben, Hobbies, Jobs und Studium.
4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
5 Begründend führte es im Wesentlichen aus, dass die Revisionswerberin im Alter von ungefähr einem Jahr aus Afghanistan in den Iran ausgewandert sei. In Afghanistan lebten noch mehrere (entfernte) Verwandte und Bekannte der Revisionswerberin, unter anderem auch die Schwiegereltern der älteren, ebenfalls in Österreich lebenden Schwester der Revisionswerberin. Die Revisionswerberin könnte bei einer Rückkehr bei diesen männlichen Verwandten Schutz erhalten. Gefahr durch den Halbbruder der Revisionswerberin drohe in Afghanistan nicht. Die Revisionswerberin habe sich hauptsächlich im Selbststudium sehr gute Deutschkenntnisse angeeignet, obwohl sie in Österreich - einerseits aufgrund der mangelnden Lernbereitschaft ihrer Kolleginnen, andererseits aufgrund des geringen Angebots wegen der Corona-Pandemie - nur wenige Deutschkurse besucht habe. Sie beherrsche Deutsch mündlich auf B2- und schriftlich auf B1-Niveau. Sie habe außerdem die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden. Derzeit absolviere sie eine überbetriebliche Ausbildung zur Bürokauffrau. Außerdem besuche sie fallweise ein Fitnessstudio. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit verbringe sie ihren Alltag, auch am Wochenende, zu Hause bei ihrer Mutter mit Lernen für Deutsch, Englisch und im Umgang mit Computern. Selten treffe sie sich mit arabischen und afghanischen Freundinnen. Sie habe während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität geworden sei und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre, wenn sie diese auch in Afghanistan auslebte. Sie stehe der Art der Eheschließung, wie sie bei ihrer Schwester erfolgt sei, nicht entgegen (arrangierte Ehe durch die Mutter).
6 Des Weiteren führte das BVwG aus, der Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen sei bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig, es würden sich aber deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten abzeichnen. Berichte über unterschiedlich ausgeprägte Repressionen und Einschränkungen für Frauen beträfen Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkung von Schulbesuch und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern. Im September 2021 sei der Sitz des Frauenministeriums in den Sitz des neuen „Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“ umgewandelt worden. Auch wenn die Talibanführer eine sanftere Rhetorik in Bezug auf die Rechte der Frauen an den Tag legten, gebe es oft eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Aussagen und der Realität vor Ort, wo Befehlshaber der Taliban oft harte Regeln durchsetzten, die in Widerspruch zu den Beteuerungen ihrer Führer stünden. Es gebe Berichte, wonach die Taliban weibliche Angestellte einiger Banken aufgefordert hätten, nicht an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Einige Frauen hätten ihre Arbeit fortsetzen können, andere seien von Talibankämpfern am Betreten ihres Arbeitsplatzes physisch gehindert worden; viele andere seien vorsichtshalber zu Hause geblieben.
7 Staatliche Universitäten seien derzeit sowohl für Männer als auch für Frauen geschlossen, weil neben neuen Lehrplänen noch Konzepte für die strikte Geschlechtertrennung erarbeitet werden müssten. Viele Privatuniversitäten hätten mit Regelungen zur Geschlechtertrennung ihren Betrieb wieder aufgenommen. Weiterhin seien tausende Mädchen vom Besuch der siebenten bis zwölften Schulstufe ausgeschlossen und ein Großteil der Frauen sei seit der Machtübernahme der Taliban nicht an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Es gebe vermehrt Berichte von Ehen, die aus finanzieller Not arrangiert oder eingegangen werden. Auch gingen Talibankämpfer Zwangsehen mit Minderjährigen ein. Erwachsene Frauen sähen sich gezwungen, zu heiraten, wenn sie unverheiratet sind und ihre Familie nicht mehr ernähren können. Fahrer seien angewiesen, Frauen nur mit Hijab zu transportieren und Frauen dürften nur maximal 72 km ohne die Begleitung eines männlichen Verwandten (Mahram) reisen. Auch jenseits von Bildung und Arbeit seien Frauen durch Dekrete, willkürliche Bedrohung und Angst weitgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Frauen dürften keinen Sport machen und nicht unbegleitet in Sport- und Gesundheitseinrichtungen gehen, Frauen und Mädchen in Afghanistan seien stark gefährdet, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden und sähen sich mit erheblichen Hindernissen beim Zugang zu Gesundheitseinrichtungen nach erlittenen Gewalttaten konfrontiert.
8 Aus diesen Feststellungen folgerte das BVwG rechtlich, dass Frauen in Afghanistan nicht allein aufgrund ihrer Eigenschaft als Frauen Verfolgung fürchten müssten. Seit der Machtübernahme durch die Taliban bestünden die früheren, vor allem in städtischen Regionen vorherrschenden Freiheiten für Frauen aber nicht mehr „in diesem Ausmaß“. Vielmehr seien die Rechte der Frauen weiter beschränkt worden, auch wenn sie nach anfänglichen Schwierigkeiten durch die Machtübernahme durchaus wieder Zugang zur Bildung hätten. Dementsprechend müsse auch ein geringeres Ausmaß an „westlicher“ Orientierung ausreichen, um asylrechtlich relevante Verfolgung zu begründen. Die Revisionswerberin habe allerdings auch unter diesem Maßstab keine „westliche“ Orientierung glaubhaft darlegen können.
9 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe der Revisionswerberin zu Unrecht kein Asyl gewährt. Denn es habe die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Ermittlungs- und Begründungspflicht hinsichtlich der von der Revisionswerberin vorgebrachten Furcht vor Verfolgung und zur „angenommene[n] Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt“ außer Acht gelassen (Verweis auf VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388 und VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301). Das BVwG hätte feststellen müssen, dass in der Lebensführung der Revisionswerberin die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme und diese Lebensführung zu einem so wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden sei, dass von ihr nicht erwartet werden könne, dieses Verhalten in Afghanistan aus Furcht vor Verfolgung zu unterdrücken. So könne etwa die Tatsache, dass die Revisionswerberin ein Kopftuch trage, für sich genommen eine „westliche“ Orientierung nicht ausschließen. Gerade angesichts der seit Machtübernahme der Taliban selbst vom BVwG zugestandenen nunmehr lediglich erforderlichen „westlichen“ Orientierung „geringeren Maßstabs“ sei von der Entscheidungsrelevanz der aufgezeigten Mängel auszugehen.
10 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet.
12 Der Verwaltungsgerichtshof ist zwar zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen; eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2020/18/0126).
13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund ihres „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung von staatlichen Organen im Herkunftsland ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 7.1.2021, Ra 2019/18/0451, mwN).
14 Aus den Feststellungen des BVwG ergibt sich, dass die Revisionswerberin eine hohe Bildungsaffinität aufweist und ihre Ausbildung einen wesentlichen Teil ihres Lebens einnimmt. Sie hat in kurzer Zeit sehr trotz mangelnder öffentlicher Bildungsinfrastruktur die deutsche Sprache erlernt, den Pflichtschulabschluss gemacht und ist in Ausbildung zur Bürokauffrau. Das BVwG stellt entgegen dieser von der Revisionswerberin objektiv aufgewiesenen Lebensumstände zu ihrer subjektiven Einstellung fest, dass sie keine Lebensweise verinnerlicht habe, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität geworden sei und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre.
15 Zu dieser Feststellung gelangte das BVwG mit einer nicht nachvollziehbaren Beweiswürdigung: Aus der bloßen Schilderung des Ehearrangements ihrer Schwester durch die Mutter leitet das Gericht eine Zustimmung der Revisionswerberin zu dieser Vorgehensweise ab; nicht gewürdigt wird hingegen die Aussage der Revisionswerberin, dass sie sich ihren Partner selbst aussuchen werde. Des Weiteren wird der Revisionswerberin nachteilig ausgelegt - nämlich als an afghanischen Traditionen hängend - das Tragen eines Kopftuches, wobei das BVwG damit die ständige Judikatur des VwGH verkennt, wonach allein dieser Umstand nicht gegen eine asylrechtlich relevante Lebensweise von Frauen spricht (vgl. zB. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388). Zudem werden aus den afghanischen und arabischen „Freunden“, die die Revisionswerberin in ihrer Aussage erwähnt, „Freundinnen“ - dies ohne, dass es von den Beweisergebnissen gedeckt wäre - und die Schlussfolgerung, dass sie keinen gemischtgeschlechtlichen Freundeskreis habe, wobei nicht erläutert wird und auch nicht ersichtlich ist, welche Relevanz dieser Umstand selbst bei Zutreffen für die Beurteilung der gestellten Rechtsfrage hätte. Abgesehen von erfolgreichen und anerkennenswerten Bemühungen im Bereich der Bildung habe sie keine Schritte zu einer „westlichen Orientierung“ getan.
16 Dem ist Folgendes entgegenzuhalten: Aus dem gesamten Akteninhalt, so bereits aus der Einvernahme der Revisionswerberin vor dem BFA und insbesondere auch aus ihren - laut Protokoll bis zur verspäteten Teilnahme der Dolmetscherin in sehr gutem und verständlichem Deutsch getätigten - Angaben in der Verhandlung, geht jedoch deutlich hervor, dass sie ihre Berufsausbildung und ihr Lernen als identitätsstiftend erachtet. Nach ihren Aussagen in der mündlichen Verhandlung strebt sie Bildung, freie Berufswahl und ein selbstbestimmtes Leben als Frau an. Damit korrespondiert eine tatsächlich angenommene Lebensweise in Österreich, in der diese Anliegen bereits zum Ausdruck kommen.
17 Ausgehend davon und im Hinblick auf die getroffenen Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan erweist sich die Feststellung des BVwG, die Revisionswerberin habe keine identitätsstiftende Lebensweise verinnerlicht, die bei Rückkehr nach Afghanistan zu asylrelevanter Verfolgung im Sinne der zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung führen könnte, als Ergebnis einer unvertretbaren Beweiswürdigung.
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG aufzuheben.
19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 5. September 2022
Schlagworte
Auswertung in Arbeit!European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022180103.L00Im RIS seit
29.09.2022Zuletzt aktualisiert am
29.09.2022