Entscheidungsdatum
31.08.2022Index
40/01 VerwaltungsverfahrenText
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Landesverwaltungsgericht Tirol erkennt durch seinen Richter Dr. Wurdinger über die Beschwerde des AA, Adresse 1, **** Z (im Weiterem kurz Beschwerdeführer genannt), gegen Spruchpunkte 1., 2., 4., 5. und 6. des Straferkenntnisses der Landespolizeidirektion Tirol vom 03.07.2021, Zl ***, betreffend Übertretungen des Sicherheitspolizeigesetzes, der Straßenverkehrsordnung und des Führerscheingesetzes,
zu Recht:
1. Der Beschwerde wird Folge gegeben, die Spruchpunkte 1., 2., 4., 5. und 6. des angefochtenen Straferkenntnisses samt Kostenspruch behoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt.
2. Die ordentliche Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG ist nicht zulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
I. Verfahrensgang:
Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Tirol vom 03.07.2021, Zl ***, wurde dem Beschwerdeführer vorgeworfen, wie folgt:
„1. Datum/Zeit: 07.05.2021, 00:35 Uhr
Ort: **** Z, Adresse 2
Sie haben durch das unten beschriebene Verhalten, welches geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen, die öffentliche Ordnung gestört, obwohl das Verhalten, insbesondere durch die Inanspruchnahme eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts, nicht gerechtfertigt war.
Sie haben lautstark herumgeschrien, die anwesenden Beamten immer wieder lautstark beschimpft und die gesamte Amtshandlung durch Ihr unkooperatives Verhalten unnötig in die Länge gezogen.
2. Datum/Zeit: 07.05.2021, 00:40 Uhr
Ort: **** Z, Adresse 2
Sie haben sich durch das unten beschriebene Verhalten trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzliche Aufgabe wahrnahm, aggressiv verhalten.
Sie haben sich aufgebäumt, sind mit erhobener Hand auf Polizeibeamte zugegangen und haben dabei immer wieder die Faust geballt.
3. Datum/Zeit: 07.05.2021, 00:56 Uhr
Ort: **** Z, Adresse 2
Betroffenes Fahrzeug: PKW BB, Kennzeichen: *** (A)
Sie haben sich am 07.05.2021 um 00.56 Uhr in **** Z, Adresse 2 nach Aufforderung durch ein besonders geschultes Organ der Bundespolizei geweigert, Ihre Atemluft auf Alkoholgehalt untersuchen zu lassen, wobei vermutet werden konnte, dass Sie zum angeführten Zeitpunkt am angeführten Ort das angeführte Fahrzeug in einem vermutlich durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt haben.
4. Datum/Zeit: 07.05.2021, 01:00 Uhr
Ort: **** Z, Adresse 2
Sie haben sich durch das unten beschriebene Verhalten trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzliche Aufgabe wahrnahm, aggressiv verhalten.
Sie haben lautstark herumgeschrien, sind mit erhobener Hand auf Polizeibeamte zugegangen und haben mit einer Glasflasche bedrohlich vor deren Gesichtsbereich herumhantiert.
5. Datum/Zeit: 07.05.2021, 01:18 Uhr
Ort: **** Z, Adresse 2
Sie haben als Fußgänger den vorhandenen Gehsteig nicht benützt.
6. Datum/Zeit: 07.05.2021, 00:27 Uhr
Ort: **** Z, Adresse 3
Betroffenes Fahrzeug: PKW BB, Kennzeichen: *** (A)
Sie haben das angeführte Kraftfahrzeug der Marke BB mit dem Kennzeichen *** (A) auf einer Straße mit öffentlichem Verkehr gelenkt, obwohl Sie nicht im Besitze einer von der Behörde erteilten gültigen Lenkberechtigung der betreffenden Klasse, in die das gelenkte Kraftfahrzeug fällt, waren, da Ihnen diese mit Bescheid entzogen wurde.
Behörde: Landespolizeidirektion Tirol, Bescheid vom 20.02.2021, GZ.: ***.
Sie haben dadurch folgende Rechtsvorschrift(en) verletzt:
1. § 81 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz
2. § 82 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz
3. § 99 Abs. 1 lit b i.V.m. § 5 Abs. 2 StVO
4. § 82 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz
6. § 37 Abs. 1 FSG i.V.m. § 1 Abs. 3 FSG
Wegen dieser Verwaltungsübertretung(en) wird (werden) über Sie folgende Strafe(n) verhängt:
Geldstrafe von
falls diese uneinbringlich ist, Ersatzfreiheitsstrafe von
Freiheitsstrafe von
Gemäß
1. €250,00
7 Tage(n) 0 Stunde(n)
0 Minute(n)
§ 81 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz
2. €300,00
9 Tage(n) 0 Stunde(n)
0 Minute(n)
§ 82 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz
3. €2.000,00
16 Tage(n) 14 Stunde(n)
0 Minute(n)
4. €300,00
9 Tage(n) 0 Stunde(n)
0 Minute(n)
§ 82 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz
5. €50,00
0 Tage(n) 23 Stunde(n)
0 Minute(n)
§ 99 Abs. 3 lit. a StVO
6. €2.000,00
38 Tage(n) 12 Stunde(n)
0 Minute(n)
§ 37 Abs. 1 FSG i.V.m. § 37 Abs. 4 Z 1 FSG
Weitere Verfügungen (zB Verfallsausspruch, Anrechnung von Vorhaft):
Ferner haben Sie gemäß § 64 des Verwaltungsstrafgesetzes 1991 - VStG zu zahlen:
€ 495,00 als Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens, das sind 10% der Strafe, jedoch mindestens € 10,00 für jedes Delikt (je ein Tag Freiheitsstrafe wird gleich € 100,00 angerechnet).
Der zu zahlende Gesamtbetrag (Strafe/Kosten/Barauslagen) beträgt daher
€ 5.395,00“
In seiner fristgerecht dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Beschwerdeführer durch seine Vertreterin, seine Freundin CC vor, dass er sich in psychologischer Behandlung in der Klinik Z befinde. Seit dem 08.07.2021 sei er stationär in die geschlossene Abteilung eingewiesen worden. Zwecks des Vorfalles, der sich am 07.05.2021 ereignet habe, würde er ersuchen, sich nochmals den Fall anzusehen. Er sei zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. Er könne dies auch gerne näher in einem persönlichen Gespräch erläutern.
Dieser Beschwerde war eine Aufenthaltsbestätigung der Tirol Kliniken vom 19.07.2021 angeschlossen, aus der sich ergibt, dass der Beschwerdeführer seit 08.07.2021 bis laufend stationär in der Universitätsklinik Z aufgenommen wurde.
Am 27.09.2021 wurde die Vertreterin des Beschwerdeführers CC seitens des Landesverwaltungsgerichtes Tirol ersucht, sämtliche Krankheitsbefunde betreffend den Beschwerdeführer AA ehestmöglich vorzulegen, um seine Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt am 07.05.2021 überprüfen zu können. Nachdem bis zum 14.06.2022 keine Unterlagen vorgelegt wurden, wurde für den 04.07.2022 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Parallelverfahren Zl *** anberaumt.
Diese Verhandlung wurde am 04.07.2022 durchgeführt und Beweis aufgenommen durch Einvernahme des Beschwerdeführers sowie durch Einsichtnahme in den behördlichen Verwaltungsstrafakt sowie in den Akt des Landesverwaltungsgerichtes Tirol. In dieser Verhandlung legte der Beschwerdeführer die ärztlichen Entlassungsbriefe der Tirol Kliniken vom 02.08.2021 und 11.05.2022 vor.
Er gab weiters an, dass er sich an den gegenständlichen Vorfall vom 07.05.2021 nicht mehr erinnern könne und nur mehr wisse, dass ihm seine Freundin erzählt habe, dass er alkoholisiert gewesen sei. Dass er von den Beamten zur Durchführung des Alkomattestes aufgefordert worden sei, wisse er nicht mehr.
Beweis wurde aufgenommen durch Einsicht in den Akt der Landespolizeidirektion Tirol, Zl ***, sowie in den Akt des Landesverwaltungsgerichts Tirol, Zl ***. Beweis wurde weiters aufgenommen durch Einsicht in den Akt des Landesverwaltungsgerichts Tirol, Zl ***.
Dem dortigen Verfahren ist Spruchpunkt 3. des angefochtenen Straferkenntnisses zugeordnet. Im dortigen Verfahren wurde eine öffentliche mündliche Verhandlung am 04.07.2022 abgeführt sowie eine gutachterliche Stellungnahme des Amtes der Tiroler Landesregierung datiert mit 29.07.2022 eingeholt. Im dortigen Verfahren wurde der Beschwerde zu Spruchpunkt 3. des auch gegenständlichen Straferkenntnisses vom 03.07.2021 Folge gegeben und das Strafverfahren wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers zum Tatzeitpunkt eingestellt.
II. Sachverhaltsfeststellung:
Aufgrund der aufgenommenen Beweismittel steht folgender entscheidungswesentliche Sachverhalt fest:
Am 07.05.2021 gegen 00.30 Uhr wurden RI DD und Insp. EE im Zuge ihres Funkstreifendienstes von der Funkleitstelle in die Adresse 2 in **** Z beordert, da sich dort eine männliche Person in einem PKW befinden soll, die lautstark Musik hört und einen betrunkenen Eindruck erweckt. Die Streife traf nur kurze Zeit später an der genannten Örtlichkeit ein. Vor Ort konnte der PKW des Beschwerdeführers mit dem Kennzeichen *** und er selbst festgestellt werden. Es war die Zündung des PKWs eingeschalten und der Beschwerdeführer befand sich noch im PKW. Während des Einparkvorgangs der Streife stieg der Beschwerdeführer aus dem PKW aus und ging telefonierend in Richtung Eingangstüre der Wohnhausanlage gegenüber der Adresse 2 in **** Z. Der Beschwerdeführer wurde von den Beamten angesprochen und wurde ihm der vorliegende Einsatzgrund mitgeteilt. Dabei konnte auch festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer eine Glasflasche „FF“ in der Hand gehalten hat, welche geöffnet und halb leer war. Der Beschwerdeführer schrie die beiden Beamten an, kam mit erhobener Hand auf sie zu und teilte lautstark mit, dass er sich nicht ausweisen werde und er weiter telefoniere. Da die Stimmung seitens des Beschwerdeführers immer aggressiver wurde, forderten die kontrollierenden Beamten eine zweite Streife an, selbständig fuhr auch noch eine dritte Streife zu den Einsatzörtlichkeiten. Da eine Alkoholisierung des Beschwerdeführers offensichtlich war und beim Eintreffen der ersten Streife die Zündung des PKWs, in welchem sich der Beschwerdeführer alleine befand, eingeschalten war, und außerdem Insp. GG von der dritten Streife mitteilte, dass er den Beschwerdeführer wenige Minuten vor dem Einsatz mit dem PKW in der Adresse 2/Adresse 3 fahren gesehen habe, wurde der Beschwerdeführer am 07.05.2021 um 00.56 Uhr von Insp. EE zur Durchführung des Alkomattestes aufgefordert. Der Beschwerdeführer verweigerte jedoch dessen Durchführung und begann wiederum lautstark herumzuschreien. Nach einiger Zeit erschien seine nüchterne Lebensgefährtin CC und wurde ihr der Vorfall erklärt. CC konnte den Beschwerdeführer ein wenig beruhigen.
Der Beschwerdeführer weist zahlreiche verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen auf.
Aufgrund des Vorbringens in der Beschwerde und insbesondere aufgrund der Vorlage der ärztlichen Entlassungsbriefe der Tirol Kliniken vom 02.08.2021 und 11.05.2022 anlässlich der durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung hatte das Landesverwaltungsgericht Zweifel an der Dispositions- und Diskretionsfähigkeit des Beschwerdeführers. Es wurde daher der arbeitsmedizinische Dienst der Tiroler Landesregierung gebeten, gutachterlich zur Frage der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers zur Tatzeit Stellung zu nehmen.
In der gutachterlichen Stellungnahme des Dr. JJ des Amtes der Tiroler Landesregierung vom 29.07.2022 wurde zusammengefasst ausgeführt wie folgt:
„Laut dem ärztlichen Entlassungsbrief der Universitätsklinik für Psychiatrie I in Z stand AA dort vom 8.7.2021 bis 2.8.2021 wegen eines manisch-psychotischen Zustandsbildes nach Einweisung gemäß § 8 UbG in stationärer Behandlung. Der Patient war zuvor gegenüber der Familie bedrohlich aufgetreten und affektive angehoben. Wegen akuter Selbst- und Fremdgefährdung im Rahmen eines manisch-psychotischen Zustandsbildes erfolgte die Unterbringung. Er zeigte sich in der Folge weiterhin manisch angehoben, affektlabil, phasenweise dysphorisch-drohend und frei von jeglicher Krankheitseinsicht. Es ergaben sich auch Anzeichen eines paranoiden Wahns. Die Compliance bei der medikamentösen Therapie war nur unzureichend gegeben. Unter medikamentöser Behandlung stabilisierte sich der psychopathologische Zustand allmählich wieder, sodass der Patient am 29.7.2021 in die offen geführte Akut- und Kriseninterventionsstation verlegt werden konnte. Er zeigte sich dort teils überangepasst aber krankheitsuneinsichtig, berichtet weiterhin von Größenideen und religiösen Wahninhalten. Nach weiterem Abklingen der Symptomatik musste der Patient unter fortgesetzter Medikation gegen ärztlichen Rat bei fehlendem konkretem Hinweis auf Selbst- oder Fremdgefährdung wieder in häusliche Betreuung entlassen werden.
Laut dem ärztlichen Entlassungsbrief der Psychiatrie und Psychotherapie (A6 - Forensik) in Y stand AA dort vom 25.2.2022 bis 11.5.2022 wegen der vorhandenen bipolar affektiven Störung bei regelmäßigem THC-Konsum ab dem 22. Lebensjahr bis knapp vor seiner Inhaftierung neuerlich in stationärer Behandlung. Mit Beendigung des Maßnahmenvollzuges am 11.5.2022 entfiel die weitere Behandlungsgrundlage. Dem Patienten wurden die regelmäßige Medikamenteneinnahme, eine Alkohol- und Drogenabstinenz sowie regelmäßige fachärztliche Kontrollen im niedergelassenen Bereich dringend angeraten.
Gemäß den Ausführungen von CC im E-Mail vom 2.8.2021, Bekannte und Freundin des AA, sei dieser schon am 7.5.2021 nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. Über telefonische Nachfrage am 27.7.2022 teilte diese sinngemäß mit, dass ihr Freund im Mai 2021 noch nicht in ärztlicher Behandlung stand, da er keine Krankheitseinsicht hatte. Es gäbe für diesen Zeitraum somit auch keine Befunde.
Fachliche Diskussion und gutachterliche Schlussfolgerungen:
Laut Aktenlage machte der Beschwerdeführer AA am 7.5.2021 gegen 0:30 Uhr durch sein auffälliges Verhalten in der Adresse 2 auf sich aufmerksam. Er befand sich in einem Pkw und hörte lautstark Musik und vermittelte einen betrunkenen Eindruck. Ein dort befindlicher Anwohner versuchte mit AA in Kontakt zu treten, wurde von diesem aber sofort beschimpft und entschied sich sodann, die Polizei zu verständigen. Da AA im Rahmen der nachfolgenden Amtshandlung immer aggressiver wurde und alkoholisiert wirkte, erfolgte die Aufforderung zum Alkomat-Test, der verweigert wurde. Nach einiger Zeit erschien die Lebensgefährtin an der Einsatzörtlichkeit und konnte AA teilweise beruhigen. Die Amtshandlung wurde mit entsprechenden Anzeigen beendet.
Gemäß den vorliegenden ärztlichen Behandlungsunterlagen kam es bei AA am 8.7.2021, rund 2 Monate nach dem gegenständlichen Vorfall (Alkotest-Verweigerung), im Rahmen einer manischen Episode mit psychotischen Symptomen zu einer affektiven Entgleisung, so dass von der Familie die Polizei beigezogen werden musste und AA wegen Selbst- und Fremdgefährdung bei fehlender Einsichts- und Urteilsfähigkeit gemäß § 8 UbG in die Universitätsklinik für Psychiatrie I in Z in den geschlossenen Bereich aufgenommen werden musste. Da sich derartige psychische Störungsbilder in aller Regel nicht plötzlich, sondern über einen längeren Zeitraum, zumindest mehrere Monate, allmählich entwickeln und einen phasenhaften Verlauf zeigen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass AA auch schon 2 Monate vor dieser entgleisten manischen Episode Anfang Mai 2021 ähnliche psychische Auffälligkeiten, damals in Verbindung mit Alkohol, in wahrscheinlich milderer Ausprägung aufwies. Beim Beschwerdeführer bestand damals gemäß Außenanamnese und bei den weiteren ärztlichen Konsultationen gemäß Befundbericht praktisch keine Krankheitseinsicht, sodass das gegenständliche Leiden zunächst wahrscheinlich niederwellig verlief und erst durch die massive Entgleisung mit akuter Selbst- und Fremdgefährdung 2 Monate später am 8.7.2021 zur psychiatrischen Aufnahme und Behandlung führte. Aufgrund der Schilderung des Vorfalls vom 7.5.2021 im Polizeibericht ist unter Berücksichtigung der psychiatrischen Behandlungen im weiteren zeitlichen Verlauf nicht auszuschließen, dass AA bereits am 7.5.2021 eine eingeschränkte Dispositions- und Diskretionsfähigkeit aufgewiesen hatte. Ob damals schon von einer fehlenden Dispositions- und Diskretionsfähigkeit auch unter zusätzlicher Alkoholeinwirkung auszugehen war, kann rückblickend in Ermangelung medizinischer Befunde nicht mehr mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden.“
III. Beweiswürdigung:
Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich weitgehend zweifels- und widerspruchsfrei aus dem vorliegenden Akteninhalt und ist insbesondere auch Ergebnis der in der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 04.07.2022 getroffenen Erkenntnisse unter besonderer Berücksichtigung des Gutachtens des Amtes der Tiroler Landesregierung vom 29.07.2022.
Die Feststellungen zur Dispositions- und Diskretionsfähigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus dieser erwähnten gutachterlichen Stellungnahme.
IV. Rechtliche Beurteilung:
Rechtlich ist der festgestellte Sachverhalt zur würdigen, wie folgt:
Die im Gegenstandsfall maßgeblichen Bestimmungen nach dem Verwaltungsstrafgesetz (VStG) lauten wie folgt:
Zurechnungsfähigkeit
§ 3. (1) Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Tat wegen Bewusstseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln. (…)
§ 45. (1) Die Behörde hat von der Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens abzusehen und die Einstellung zu verfügen, wenn
1. die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat nicht erwiesen werden kann oder keine Verwaltungsübertretung bildet;
2. der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nicht begangen hat oder Umstände vorliegen, die die Strafbarkeit aufheben oder ausschließen; (…)“
Gemäß § 3 Abs 1 VStG ist nicht strafbar, wer zur Zeit der Tat wegen Bewusstseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln.
Die Bestimmungen des § 3 VStG sind von Amts wegen wahrzunehmen. Die Zurechnungsfähigkeit bildet eine unbedingte Voraussetzung der Strafbarkeit. Die Frage, ob der Täter zur Zeit der Tat zurechnungsfähig im Sinne des § 3 Abs 1 VStG war, ist eine Rechtsfrage. Sie ist allerdings von der Behörde mit Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen zu lösen. Es bedarf sowohl der Diskretionsfähigkeit als auch der Dispositionsfähigkeit, der Beschuldigte muss also fähig sein, nicht nur das Unerlaubte der Tat einzusehen, sondern auch dieser Einsicht gemäß zu handeln (vgl VwGH 10.10.1990, 90/03/0140; VwGH 10.10.2014, Ro 2014/02/0104; VwGH 13.4.2018, Ra 2017/02/0040).
Im gegenständlichen Fall hatte das Verwaltungsgericht aufgrund des Beschwerdevorbringens in Verbindung mit den anlässlich der durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung vorlegten ärztlichen Entlassungsbriefen der Tirol Kliniken vom 02.08.2021 und 11.05.2022 Zweifel an der Diskretions- und Dispositionsfähigkeit des Beschwerdeführers zum Tatzeitpunkt. Daher forderte das Landesverwaltungsgericht vom arbeitsmedizinischen Dienst der Tiroler Landesregierung, gutachterlich zur Frage der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers zur Tatzeit Stellung zu nehmen.
In der gutachterlichen Stellungnahme des Dr. JJ des Amtes der Tiroler Landesregierung vom 29.07.2022 wurde entscheidend ausgeführt, dass es beim Beschwerdeführer am 08.07.2021, rund zwei Monate nach dem gegenständlichen Vorfall (Alkotestverweigerung), gemäß den vorliegenden ärztlichen Behandlungsunterlagen im Rahmen einer manischen Episode mit psychotischen Symptomen zu einer affektiven Entgleisung gekommen ist, sodass von der Familie die Polizei beigezogen werden musste und der Beschwerdeführer wegen Selbst- und Fremdgefährdung bei fehlender Einsichts- und Urteilsfähigkeit gemäß § 8 UBG in die Universitätsklinik für Psychiatrie I in Z in den geschlossenen Bereich aufgenommen werden musste. Da sich derartige psychische Störungsbilder in aller Regel nicht plötzlich, sondern über einen längeren Zeitraum, zumindest mehrere Monate, allmählich entwickeln und einen phasenhaften Verlauf zeigen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer auch schon zwei Monate vor dieser entgleisten manischen Episode Anfang Mai 2022 ähnliche psychische Auffälligkeiten, damals in Verbindung mit Alkohol, in wahrscheinlich milderer Ausprägung aufwies. Aufgrund der Schilderung des Vorfalls vom 07.05.2021 im Polizeibericht ist unter Berücksichtigung der psychiatrischen Behandlungen im weiteren zeitlichen Verlauf nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer bereits am 07.05.2021 eine eingeschränkte Dispositions- und Diskretionsfähigkeit aufgewiesen hatte.
In Anbetracht dieser gutachterlichen Stellungnahme kann im gegenständlichen Fall nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt am 07.05.2021 aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht zurechnungsfähig im Sinne des § 3 Abs 1 VStG war.
Zweifel an der Schuldfähigkeit ließen sich nicht beseitigen. Insofern ist von einer fehlenden Schuldfähigkeit auszugehen.
Im Ergebnis konnte nicht mit der für eine Bestrafung im Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Sicherheit geklärt werden, ob der Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig war.
Das Verwaltungsstrafverfahren war daher gemäß § 45 Abs 1 Z 1 VStG einzustellen.
V. Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:
Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Soweit die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für zulässig erklärt worden ist, kann innerhalb von sechs Wochen ab dem Tag der Zustellung dieser Entscheidung eine ordentliche Revision erhoben werden. Im Fall der Nichtzulassung der ordentlichen Revision kann innerhalb dieser Frist nur die außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden.
Wenn allerdings in einer Verwaltungsstrafsache oder in einer Finanzstrafsache eine Geldstrafe von bis zu Euro 750,00 und keine Freiheitsstrafe verhängt werden durfte und im Erkenntnis eine Geldstrafe von bis zu Euro 400,00 verhängt wurde, ist eine (ordentliche oder außerordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichthof wegen Verletzung in Rechten nicht zulässig.
Jedenfalls kann gegen diese Entscheidung binnen sechs Wochen ab der Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben werden.
Die genannten Rechtsmittel sind von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt bzw einer bevollmächtigten Rechtsanwältin abzufassen und einzubringen. Soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, ist eine Eingabegebühr von Euro 240,00 zu entrichten. Die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist direkt bei diesem, die (ordentliche oder außerordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichtshof ist beim Verwaltungsgericht einzubringen.
Es besteht die Möglichkeit, für das Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof und für das Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof Verfahrenshilfe zu beantragen. Verfahrenshilfe ist zur Gänze oder zum Teil zu bewilligen, wenn die Partei außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten bzw wenn die zur Führung des Verfahrens erforderlichen Mittel weder von der Partei noch von den an der Führung des Verfahrens wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.
Für das Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist der Antrag auf Verfahrenshilfe innerhalb der oben angeführten Frist beim Verfassungsgerichtshof einzubringen. Für das Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof ist der Antrag auf Verfahrenshilfe innerhalb der oben angeführten Frist im Fall der Zulassung der ordentlichen Revision beim Verwaltungsgericht einzubringen. Im Fall der Nichtzulassung der ordentlichen Revision ist der Antrag auf Verfahrenshilfe beim Verwaltungsgerichtshof einzubringen; dabei ist im Antrag an den Verwaltungsgerichtshof, soweit dies dem Antragsteller zumutbar ist, kurz zu begründen, warum entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.
Zudem besteht die Möglichkeit, auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof zu verzichten. Ein solcher Verzicht hat zur Folge, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof und eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht mehr erhoben werden können.
Landesverwaltungsgericht Tirol
Dr. Wurdinger
(Richter)
Schlagworte
ZurechnungsfähigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGTI:2022:LVwG.2021.21.2148.1Zuletzt aktualisiert am
23.09.2022