RS Vfgh 2022/6/23 G37/2022, V173/2022

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 23.06.2022
beobachten
merken

Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18
B-VG Art139 Abs1 Z3
B-VG Art140 Abs1 Z1 litc
EMRK Art8
StGG Art2
COVID-19-ImpfpflichtG §1 Abs1, §4 Abs1, §4 Abs2, §4 Abs3, §4 Abs4, §19 Abs2
COVID-19-ImpfpflichtV BGBl II 52/2022
COVID-19-NichtanwendungsV BGBl II 103/2022
COVID-19-NichtanwendungsV BGBl II 103/2022 idF BGBl II 198/2022
ImpfschadenG §1 Z1
VfGG §7 Abs1
  1. B-VG Art. 139 heute
  2. B-VG Art. 139 gültig ab 01.01.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 114/2013
  3. B-VG Art. 139 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. B-VG Art. 139 gültig von 01.01.2004 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  5. B-VG Art. 139 gültig von 30.11.1996 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 659/1996
  6. B-VG Art. 139 gültig von 01.01.1991 bis 29.11.1996 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 685/1988
  7. B-VG Art. 139 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 302/1975
  8. B-VG Art. 139 gültig von 21.07.1962 bis 30.06.1976 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 205/1962
  9. B-VG Art. 139 gültig von 19.12.1945 bis 20.07.1962 zuletzt geändert durch StGBl. Nr. 4/1945
  10. B-VG Art. 139 gültig von 03.01.1930 bis 30.06.1934
  1. B-VG Art. 140 heute
  2. B-VG Art. 140 gültig ab 01.01.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 114/2013
  3. B-VG Art. 140 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. B-VG Art. 140 gültig von 01.07.2008 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 2/2008
  5. B-VG Art. 140 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  6. B-VG Art. 140 gültig von 06.06.1992 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 276/1992
  7. B-VG Art. 140 gültig von 01.01.1991 bis 05.06.1992 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 685/1988
  8. B-VG Art. 140 gültig von 01.07.1988 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 341/1988
  9. B-VG Art. 140 gültig von 01.07.1976 bis 30.06.1988 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 302/1975
  10. B-VG Art. 140 gültig von 19.12.1945 bis 30.06.1976 zuletzt geändert durch StGBl. Nr. 4/1945
  11. B-VG Art. 140 gültig von 03.01.1930 bis 30.06.1934
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Abweisung eines Individualantrags auf Aufhebung der Verpflichtung zur Impfung gegen COVID-19 für Personen ab Vollendung des 18. Lebensjahres mit Wohnsitz in Österreich; Impfpflicht ist als schwerer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht zum Schutz vor einer Überlastung des Gesundheitswesens zulässig; Gesundheitsminister zur kontinuierlichen Bewertung und regelmäßigen Evaluierung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Verpflichtung zur Impfung bei verfassungskonformer Interpretation verpflichtet; Aussetzung der Vollziehung der Verpflichtung zur Impfung durch die COVID-19-NichtanwendungsV; keine Bedenken gegen das System der Einbindung des Hauptausschusses des Nationalrates bei notgedrungenen faktenbasierten Entscheidungen

Rechtssatz

Der Individualantrag wird, soweit er gegen §1 Abs1, §4 Abs1 bis 4 und §19 Abs2 COVID-19-Impfpflichtgesetz (COVID-19-IG), BGBl I 4/2022, sowie die COVID-19-Impfpflichtverordnung (COVID-19-IV), BGBl II 52/2022, des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) gerichtet ist, abgewiesen; im Übrigen: Zurückweisung des Antrags.

Der Antragsteller hat mit seinem ersten Eventualantrag auf Aufhebung des §1, §2 Z6 bis 9, §3, §4 Abs1 bis 4, §5 bis §15, §16 Abs2 Z3 bis 6, §17, §18, §19 Abs1 Z4 und Abs2 sowie §20 Abs2 COVID-19-IG, BGBl I 4/2022, sowie der COVID-19-IV, BGBl II 52/2022, - vor dem Hintergrund seiner Bedenken gegen die (sanktionsbewehrte) Verpflichtung, sich gegen COVID-19 impfen lassen zu müssen - den Anfechtungsumfang nicht zu eng gewählt, weil die Regelungen des COVID-19-IG überwiegend zwar in einem Regelungs-, jedoch nicht untrennbaren Zusammenhang stehen.

§1 Abs1 COVID-19-IG normiert eine Verpflichtung zur Impfung für einen näher definierten Personenkreis. Mit dieser Bestimmung hat sich der Bundesgesetzgeber für eine generelle Verpflichtung zur Impfung volljähriger Personen mit aufrechtem Wohnsitz im Bundesgebiet entschieden, deren Umfang jedoch erst durch §4 Abs1 bis 4 COVID-19-IG in Verbindung mit einer von dem für das Gesundheitswesen zuständigen Bundesminister zu erlassenden Verordnung näher zu regeln ist. Von dieser Ermächtigung hat der BMSGPK mit der COVID-19-IV, BGBl II 52/2022, Gebrauch gemacht. Diese Verpflichtung zur Impfung sowie deren Ausgestaltung sind die zentralen Bestimmungen des COVID-19-IG, weshalb der Anfechtungsumfang insoweit jedenfalls zutreffend gewählt wurde.

Mit Blick auf diese generelle, bundesgesetzlich grundsätzlich angeordnete Verpflichtung zur Impfung für alle Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet und in Österreich ihren Wohnsitz haben, hat der Gesetzgeber - im Fall der Nicht-Verfügbarkeit von Impfstoffen, einer wesentlichen Änderung des Standes der Wissenschaft hinsichtlich der Wirksamkeit der Impfstoffe, der sonstigen Eignung der Impfpflicht zur Verhinderung einer Überlastung der medizinischen Versorgung, wie insbesondere bei Auftreten neuer Virusvarianten oder einer durch die Eigenschaften des Virus bedingten Veränderung des infektionsepidemiologischen Geschehens, oder der Erforderlichkeit der Impfpflicht - mit §19 Abs2 COVID-19-IG dem zuständigen Bundesminister die Ermächtigung zur Aussetzung der Verpflichtung zur Impfung hinsichtlich bestimmter Sachverhalte, die an sich dieser unterliegen würden, durch Verordnung vorgesehen. Der BMSGPK hat von dieser Ermächtigung mit der COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, sowie der Novelle BGBl II 198/2022 Gebrauch gemacht und die Verpflichtung zur Impfung - vorerst - für den Zeitraum vom 12.03. bis zum 31.08.2022 ausgesetzt. Der tatsächliche Umfang und das Ausmaß der gemäß §1 Abs1 COVID-19-IG normierten Verpflichtung zur Impfung werden sohin maßgeblich auch durch §19 Abs2 COVID-19-IG mitbestimmt. Auch diese Bestimmung steht daher in einem untrennbaren Zusammenhang und ist mitanzufechten.

Mit Erlassung der COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, und der Novelle BGBl II 198/2022 wird die in §1 Abs1 und §4 Abs1 bis 4 COVID-19-IG sowie in der COVID-19-IV normierte Verpflichtung zur Impfung derzeit für alle Sachverhalte ausgesetzt, die an sich der Verpflichtung - ab 16.03.2022 - sanktionsbewehrt unterliegen würden; in dieser - rechtlich relevanten - spezifischen Situation war es daher auch jedenfalls zulässig, §19 Abs2 COVID-19-IG bereits vor Erlassung der Verordnung anzufechten.

Im Hinblick auf §1 Abs1, §4 Abs1 bis 4 und §19 Abs2 COVID-19-IG, BGBl I 4/2022, sowie der COVID-19-IV, BGBl II 52/2022, ist der Anfechtungsumfang des ersten Eventualantrages daher zutreffend abgesteckt.

Unmittelbarer Eingriff in die Rechtssphäre des Antragstellers:

Das COVID-19-IG, BGBl I 4/2022, ist am 05.02.2022 in Kraft getreten und steht derzeit in der Fassung BGBl I 22/2022 in Kraft. §1 Abs1, §4 Abs1 bis 4 und §19 Abs2 COVID-19-IG stehen weiterhin in der - vom Antragsteller angefochtenen - Stammfassung in Kraft. Im Zeitpunkt der Antragstellung am 08.05.2022 ordnete das COVID-19-IG gemäß §1 Abs1 leg cit eine Verpflichtung zur Impfung für den Antragsteller an, deren Nichterfüllung gemäß §10 Abs1 leg cit ab 16.03.2022 strafbar sein sollte. Die Strafbarkeit bei Verletzung der Verpflichtung zur Impfung wurde aber bereits vor ihrem Wirksamwerden am 16.03.2022 ausgesetzt, da die gemäß §19 Abs2 COVID-19-IG erlassene COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, normiert, dass die §§1, 4, 10 und 11 COVID-19-IG und die §§1 und 4 der COVID-19-IV nicht auf Sachverhalte anzuwenden sind, die sich von 12.03.2022 bis zum 31.05.2022 ereignen. Diese Anordnung wurde mit BGBl II 198/2022 bis zum 31.08.2022 verlängert.

Ungeachtet dessen war der Antragsteller von der mit 05.02.2022 in Kraft getretenen Verpflichtung zur Impfung gemäß §1 COVID-19-IG zumindest im Antragszeitpunkt am 08.02.2022 unmittelbar und aktuell betroffen, da bereits vor dem 16.03.2022 eine entsprechende Verpflichtung bestanden hat. So ist der Antragsteller - schon spätestens ab dem Inkrafttreten der COVID-19-IV am 08.02.2022 - gehalten gewesen, sich entsprechend den in der Verordnung vorgesehenen Impfintervallen impfen zu lassen; daran ändert auch der Umstand, dass der Gesetzgeber bis zum 15.03.2022 die (allfällige) Verwaltungsübertretung nicht sanktioniert wissen wollte, nichts.

Es steht kein anderer zumutbarer Weg offen, die behauptete Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bestimmungen an den VfGH heranzutragen; insbesondere ist es nicht zumutbar - und derzeit auch nicht möglich - im Hinblick auf die Strafdrohung in §10 Abs1 COVID-19-IG, BGBl I 4/2022, ein Strafverfahren zu provozieren.

Derzeit stehen zwar das COVID-19-IG, BGBl I 4/2022, idF BGBl I 22/2022 und die COVID-19-IV, BGBl II 52/2022, in Kraft, jedoch werden auf Grund der COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, idF BGBl II 198/2022 die Verpflichtung zur Impfung und die diese Verpflichtung ausgestaltenden Bestimmungen im Ergebnis nicht vollzogen. Vor diesem - derzeit geltenden - rechtlichen Hintergrund sind nun die vom Antragsteller als verfassungswidrig erachteten Regelungen des COVID-19-IG zu beurteilen.

Zum System des COVID-19-IG, BGBl I 4/2022:

Voranzustellen ist, dass der Gesetzgeber mit dem COVID-19-IG eine grundsätzliche Verpflichtung zur Impfung vorgesehen hat. Den Eingriff in die grundrechtliche Stellung des Einzelnen und damit die Abwägungsentscheidung zugunsten der Angemessenheit einer Verpflichtung zur Impfung im Interesse des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gegenüber der Freiheit des Einzelnen hat er - vorausgesetzt die in einer konkreten pandemischen Situation gegebene Eignung und Erforderlichkeit einer bestimmten Ausgestaltung der Verpflichtung zur Impfung - somit selbst vorgenommen. In diese Abwägung hat der Gesetzgeber - neben dem Schutz der Gesundheitsinfrastruktur - einbezogen, dass es vulnerablen Personen typischerweise nicht freisteht, durch eigene Vorkehrungen für ihren Gesundheitsschutz zu sorgen, da sie vielfach nur auf einen reduzierten Impfschutz vertrauen können. Andererseits darf es nicht zu einer ausschließlichen Fokussierung auf vulnerable Personen auf Kosten Dritter kommen, ohne die gegenläufigen Interessen abzuwägen und zu berücksichtigen.

Eine Impfung stellt einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar, der zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes grundsätzlich die Einwilligung des Betroffenen voraussetzt. Die gesetzlich vorgesehene Verpflichtung zur Impfung ist daher als besonders schwerer Eingriff zu qualifizieren. Zwar kann die Verpflichtung zur Impfung nicht durch Ausübung unmittelbaren Zwanges durchgesetzt werden, doch bleibt dem Normadressaten de facto keine Alternative, weil er nur die Möglichkeit hat, seinen Wohnsitz außerhalb des Bundesgebietes zu wählen oder die Gefahr einer Bestrafung in Kauf zu nehmen.

Hinsichtlich der Intensität dieses Eingriffes ist festzuhalten, dass die Reichweite des COVID-19-IG dadurch begrenzt wird, dass gemäß §3 leg cit Ausnahmen auf Grund medizinischer Kontraindikationen vorgesehen sind, die durch Verordnung des für das Gesundheitswesen zuständigen Bundesministers zu präzisieren sind. Auch ist der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister dazu verpflichtet, gemäß §4 COVID-19-IG den Umfang der Verpflichtung zur Impfung nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft mit Verordnung festzulegen.

Dem schweren Eingriff in die grundrechtlich verbürgte körperliche Unversehrtheit stehen jedoch folgende rechtfertigende Gründe gegenüber:

Vulnerable Personen, die eine Impfung auf Grund medizinischer Kontraindikation nicht in Anspruch nehmen können bzw bei denen die Wirksamkeit einer Impfung gemindert ist, sind auf die gesellschaftliche Solidarität (EGMR 08.04.2021, Fall Vavricka ua, Appl 47.621/13, Bedeutung der gesellschaftlichen Solidarität gegenüber besonders schutzbedürftigen und nur durch eine Herdenimmunität zu schützenden Personen) angewiesen, um auch weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dem Gesetzgeber kann zudem nicht entgegengetreten werden, wenn er auf Basis der überwiegenden Meinung der Wissenschaft davon ausgeht, dass das COVID-19-IG dem Schutz der (öffentlichen) Gesundheit insofern dient, als geimpfte Personen einem deutlich geringeren Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes ausgesetzt sind und damit einhergeht, dass die Gesundheitsinfrastruktur durch an SARS-CoV-2 erkrankten Personen weniger belastet wird, da - im Regelfall - eine Hospitalisierung vermieden werden kann. Dass an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur während einer Pandemie ein berücksichtigungswürdiges Interesse letztlich zum Schutz der Gesundheit aller besteht, hat der VfGH schon in VfSlg 20399/2020 festgehalten.

Im COVID-19-IG hat der Gesetzgeber ferner den prozessualen Ablauf im Hinblick auf das Einsetzen der konkreten Verpflichtung zur Impfung und ihrer verwaltungsstrafrechtlichen Durchsetzung grundgelegt und zu deren näheren Ausgestaltung auch Verordnungsermächtigungen geschaffen; das betrifft neben der schon erwähnten Festlegung des Umfanges der Verpflichtung zur Impfung zunächst etwa den Erinnerungs- und Impfstichtag. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber mit §19 Abs2 leg cit die Grundlage dafür geschaffen, dass der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates in die Lage versetzt wird, "unverzüglich auf aktuelle Entwicklungen" zu reagieren. Diese gesetzliche Ermächtigung sieht vor, dass der zuständige Bundesminister nicht nur die Nichtverfügbarkeit von Impfstoffen, sondern auch - im Falle einer wesentlichen Änderung des Standes der Wissenschaft - die Eignung und die Erforderlichkeit der gesetzlichen Verpflichtung zur Impfung stets zu beachten hat. Mit §19 Abs2 COVID-19-IG ermöglicht der Gesetzgeber sohin ein flexibles Reagieren auf die volatilen pandemischen und wissenschaftlichen Entwicklungen; damit stellt er sicher, dass den Anforderungen an die Eignung und Erforderlichkeit der Verpflichtung zur Impfung entsprechend Rechnung getragen wird.

Die gesetzliche Regelung begegnet somit im Ergebnis keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dienen diese Verordnungsermächtigungen - wie auch die derzeit geltende COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, idF BGBl II 198/2022 zeigt - doch gerade dazu, stets die engen verfassungsrechtlichen Grenzen einer Verpflichtung zur Impfung zu beachten. Dieses System ermöglicht, dass der zuständige Bundesminister dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechend, im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates, jederzeit das verfassungsrechtlich Gebotene festlegen kann bzw muss. Die Schwere des Eingriffes der Verpflichtung zur Impfung gebietet es, diese Bestimmung verfassungskonform als kontinuierliche und strenge (Kontroll- und) Reaktionspflicht des zuständigen Bundesministers im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen zu verstehen.

Der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister ist - wie bereits beschrieben - damit aber nicht nur ermächtigt, sondern im Lichte der verfassungsrechtlichen Einschränkungen verpflichtet, die gesetzliche Verpflichtung zur Impfung auf Basis dieser gesetzlichen Grundlagen stets den sich laufend ändernden Bedingungen anzupassen; das Ob, das Wie und das Wann der Impfpflicht sowie wer der Impfpflicht letztlich ab einem bestimmten Zeitpunkt unterliegt, ist sohin durch dieses flexible System zu bestimmen.

Der VfGH hat unter dem Blickwinkel des Art18 B-VG und des Rechtsstaatsprinzipes im vorliegenden Kontext keine Bedenken gegen diese weitreichenden Verordnungsermächtigungen, weil das Gesetz - mit Blick auf die Materie und den Gesamtzusammenhang - die wesentlichen Determinanten für das Handeln der Vollziehung vorgibt.

Auf das Wesentliche zusammengefasst verpflichtet §19 Abs2 COVID-19-IG in verfassungskonformer Interpretation den Verordnungsgeber zur kontinuierlichen Bewertung und regelmäßigen Evaluierung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Verpflichtung zur Impfung. Bei dieser Beurteilung hat der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister insbesondere auf die Wirksamkeit und Risiken der zur Verfügung stehenden Impfstoffe, auf die Ermächtigung, die Verpflichtung zur Impfung auf bestimmte Sachverhalte - auch durch die Einschränkung der Verpflichtung auf bestimmte Personen- und Berufsgruppen bzw Angehörige bestimmter Einrichtungen - einzuschränken, sowie darauf zu achten, ob der intensive Eingriff in die körperliche Unversehrtheit angesichts des konkreten Schutzbedarfes vulnerabler Personengruppen und des Schutzes der Gesundheitsinfrastruktur nicht durch andere, Grundrechte weniger einschränkende Maßnahmen (wie etwa eine temporäre Maskenpflicht beim Zusammentreffen mehrerer Menschen) vermieden werden kann.

Bei dieser verfassungsrechtlich gebotenen laufenden Evaluierung der Ausgestaltung der gesetzlichen Verpflichtung zur Impfung durch Verordnung hat der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister auch alle anderen ihm vom Gesetzgeber eingeräumten Möglichkeiten zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes in der Zeit der Pandemie in die Betrachtung einzubeziehen, hat der Gesetzgeber doch Grundlagen für ganz unterschiedliche Maßnahmen - auch hinsichtlich der Eingriffsintensität - geschaffen. Dass die Beurteilung auch für den VfGH nachvollziehbar sein muss, versteht sich von selbst.

Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist im hier gegebenen Zusammenhang hervorzuheben, dass der Gesetzgeber durch die Einbindung des Hauptausschusses des Nationalrates gemäß §18 Abs1 COVID-19-IG jedenfalls auch seine Mitwirkung in derart notgedrungen faktenbasierten Entscheidungen sichergestellt hat.

Daher hat der VfGH - auch diesen Gesichtspunkt einbeziehend - keine Bedenken gegen §19 Abs2 COVID-19-IG.

§19 Abs2 COVID-19-IG gewährleistet, dass die Verpflichtung zur Impfung nur dann zum Tragen kommt, wenn sie im Lichte der Zielsetzung geeignet und erforderlich ist. Dabei sind die Grenzen des Art8 EMRK zu beachten:

In Bezug auf das beste Mittel zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung stellt der EGMR im Fall Vavricka klar, dass es keinen Konsens der Konventionsstaaten über ein einziges Modell gibt. Es besteht vielmehr ein Spektrum von Strategien, das von einer bloßen Empfehlung zur freiwilligen Impfung bis hin zu einer rechtlichen Verpflichtung reicht.

Der EGMR weist darauf hin, dass die Einführung einer Impfpflicht nicht per se unzulässig ist, sondern unter gewissen Voraussetzungen zum Schutz der Bevölkerung vor schwerwiegenden Krankheiten gerechtfertigt ist: Wenn daher die Ansicht vertreten wird, dass eine Strategie der freiwilligen Impfung nicht ausreicht, um eine Herdenimmunität herzustellen oder aufrechtzuerhalten oder eine Herdenimmunität auf Grund der Art der Krankheit (zB Tetanus) keine Rolle spielt, können die innerstaatlichen Behörden vernünftigerweise eine Strategie der Impfpflicht einführen, um einen angemessenen Grad des Schutzes vor schwerwiegenden Krankheiten zu erreichen.

Die vom Antragsteller bekämpften Regelungen begründen - vor dem Hintergrund der einschlägigen Rsp des EGMR - einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Art8 Abs1 EMRK, konkret auf Achtung der physischen Integrität des Antragstellers. Damit einher geht das Recht der Person, selbst zu entscheiden, ob sie sich einer bestimmten medizinischen Behandlung unterwerfen will. Wie der VfGH schon in VfSlg 20433/2020 betont hat, räumt der Gesetzgeber dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen im Bereich medizinischer Behandlungen einen zentralen Stellenwert ein und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung aus medizinischer Sicht zweckmäßig ist. Auch wenn die Verpflichtung zur Impfung nicht durch Ausübung unmittelbaren Zwanges durchgesetzt werden kann, bleibt dem Normadressaten alternativ nur ein Wechsel seines Wohnsitzes außerhalb des Bundesgebietes bzw - nach Wirksamwerden der Sanktionsnorm gemäß §10 Abs1 COVID-19-IG - die Gefahr einer Bestrafung in Kauf zu nehmen. Dieser Eingriff in die körperliche Integrität und das damit in Zusammenhang stehende Selbstbestimmungsrecht ist vor diesem Hintergrund auch als besonders schwer zu qualifizieren.

Das vom Gesetzgeber mit dem COVID-19-IG verfolgte Ziel, durch eine hohe Durchimpfungsrate einerseits die Verbreitung von COVID-19 zum Schutz vulnerabler Personen, die eine Impfung aus medizinischen Gründen nicht in Anspruch nehmen können, zu verhindern sowie andererseits durch die damit bewirkte Reduktion des Risikos schwerer Krankheitsverläufe und der Letalität die Kapazitäten der Gesundheitsinfrastruktur zu schonen und dadurch die Gesundheit der Menschen und die Gesundheitsinfrastruktur zu schützen, dient den gewichtigen öffentlichen Interessen des Schutzes des Lebens und der Gesundheit. Betrachtet man die Entwicklungen der Pandemie in den letzten Jahren, so ergibt sich ein Bild von immer wiederkehrenden Infektionswellen, die - an den jeweiligen Spitzen - das Gesundheitssystem bzw die Gesundheitsinfrastruktur stark belasteten. Hinzu kommt, dass Experten zufolge die Richtung der SARS-CoV-2-Veränderung nicht vorhersehbar ist; zwar ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Virus hin zu einem einfachen Erkältungsvirus entwickelt, eine Entwicklung hin zu einem Virus ähnlich der Influenza oder einem noch gefährlicheren ist aber ebenso denkbar. Der Gesetzgeber kann vor dem Hintergrund dieser Historie und auf Basis der eingeholten Fachexpertise davon ausgehen, dass auch in den kommenden Monaten eine Wiederholung derartiger Bedrohungssituationen durch das Virus nicht mit relevanter Sicherheit ausgeschlossen werden kann und die Gefahrenlage der vergangenen Jahre insbesondere für vulnerable Personen und für die Gesundheitsinfrastruktur sohin weiterhin bestehen bleibt. Dabei sind die durch andere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie (wie insbesondere längere Lockdowns) entstehenden Auswirkungen zu berücksichtigen.

Dem Antragsteller ist hinsichtlich seiner Ansicht, dass Tests und Masken eine Ansteckung effektiver verhindern könnten, weniger eingriffsintensiv wären sowie Impfungen auf Risikogruppen beschränkt werden könnten, zuzustimmen, als mit Blick auf den besonders schweren Eingriff in die körperliche Integrität, die der Verpflichtung zur Impfung innewohnt, auch ein strenger Maßstab bei der Prüfung der Erforderlichkeit heranzuziehen ist. Nun ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass niemand gezwungen werden kann, sich zwangsweise "behandeln" zu lassen. Würde die Verpflichtung zur Impfung bloß mit dem "Schutz vor sich selbst" argumentiert, könnte dies jedenfalls den Eingriff nicht rechtfertigen.

Die Verpflichtung zur Impfung, die als besonders schwerer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht bezüglich der körperlichen Integrität zu qualifizieren ist, lässt sich dann rechtfertigen, wenn sie auch unbedingt erforderlich ("unerlässlich") ist, um das legitime Ziel des Gesetzgebers zu erreichen. Hiebei ist insbesondere auch bei Erlassung der entsprechenden Verordnung gemäß §19 Abs2 COVID-19-IG zu berücksichtigen, ob andere, gleich wirksame, aber weniger eingriffsintensive Mittel zur Erreichung der gesetzten Ziele zur Verfügung stehen (etwa die Beschränkung der Verpflichtung zur Impfung auf bestimmte Berufs- oder Personengruppen bzw eine einrichtungsbezogene Beschränkung). Die Verpflichtung muss in ihrer konkreten Ausgestaltung diesen Kriterien (treffsicher) entsprechen.

Der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister ist mit dem im Rahmen des §19 COVID-19-IG geschaffenen Regelungssystem genau dazu berufen, die Erforderlichkeit der Verpflichtung zur Impfung laufend zu evaluieren und gegebenenfalls die Verpflichtung zur Impfung überhaupt oder bloß für bestimmte Sachverhalte auszusetzen. Dieser aus §19 Abs2 COVID-19-IG erfließenden Verpflichtung ist der BMSGPK, indem er mit der COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, idF BGBl II 198/2022 die Verpflichtung zur Impfung vorerst ausgesetzt hat, derzeit nachgekommen.

Mit der noch während der "Informations- und Anlaufphase", also vor Eintritt der Strafbarkeit gemäß §10 Abs1 COVID-19-IG erlassenen COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, sowie der ersten Novelle BGBl II 198/2022 hat der BMSGPK von seiner Ermächtigung in §19 Abs2 COVID-19-IG auch Gebrauch gemacht und unter laufender wissenschaftlicher Begleitung im Ergebnis die Verpflichtung zur Impfung für den Zeitraum vom 12.03.2022 bis zum 31.08.2022 vorläufig für nicht anwendbar erklärt.

Angesichts dieser derzeit geltenden COVID-19-Nichtanwendungsverordnung, BGBl II 103/2022, idF BGBl II 198/2022 bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zulässigerweise angefochtenen Bestimmungen.

Zum Gleichheitssatz gemäß Art7 B-VG und Art2 StGG genügt es, auf die Ausführungen zu Art8 EMRK zu verweisen; die im COVID-19-IG grundgelegte Verpflichtung zur Impfung für Personen ab Vollendung des 18. Lebensjahres, die ihren Wohnsitz in Österreich haben, begegnet vor dem Hintergrund des vom Gesetzgeber gewählten Regelungssystems hinsichtlich des Vorbringens keinen gleichheitsrechtlichen Bedenken.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), Privat- und Familienleben, Rechtsstaatsprinzip, Einvernehmen, Nationalrat, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, Verordnungserlassung, Determinierungsgebot, Geltungsbereich (örtlicher) eines Gesetzes, Bundesminister, Strafe (Verwaltungsstrafrecht), VfGH / Weg zumutbarer, VfGH / Individualantrag, Eventualantrag, VfGH / Bedenken, Gesundheitswesen, Auslegung verfassungskonforme, VfGH / Prüfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:G37.2022

Zuletzt aktualisiert am

23.09.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten