TE Vfgh Erkenntnis 2022/6/13 V124/2021 ua (V124/2021-10, V132/2021-9)

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Veröffentlicht am 13.06.2022
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Index

L3715 Anliegerbeitrag, Kanalabgabe, Umweltabgabe

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z1
KanalbenützungsgebührV des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27.03.2019 §6
KanalbenützungsgebührV des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21.12.2018 §6
Bgld KanalabgabeG §10, §11, §12
Bgld GemeindeO 2003 §81, §82
FAG 2017 §16, §17
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit einer rückwirkend inkraftgetretenen Verordnung einer Burgenländischen Gemeinde über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr mangels gesetzlicher Grundlage; Gesetzwidrigkeit der – vor Ablauf der Kundmachungsfrist – rückwirkend inkraftgetretenen vorangegangenen Verordnung

Spruch

I. Die Wortfolge "und wirkt ab 01.01.2019" im ersten Satz des §6 der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 28. März 2019 bis 12. April 2019, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

II. §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr ("Diese Verordnung tritt mit 01.01.2019 in Kraft."), kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 21. Dezember 2018 bis 10. Jänner 2019, war gesetzwidrig.

III. Die Burgenländische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Burgenland die

"[…] Aufhebung der Wortfolge 'und wirkt ab 01.01.2019' im ersten Satz des §6 der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27.03.2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 28.03.2019 bis 12.04.2019, als gesetzwidrig

und

[…] Feststellung, dass §6 erster Satz 'Diese Verordnung tritt mit 01.01.2019 in Kraft.' der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21.12.2018 über die Kanalbenützungsgebühr, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 21.12.2018 bis 10.01.2019, gesetzwidrig war.

in eventu

[…] Aufhebung der Wortfolge 'und wirkt ab 01.01.2019' im ersten Satz des §6 der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27.03.2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 28.03.2019 bis 12.04.2019, als gesetzwidrig."

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar (die angefochtenen Wortfolgen sind hervorgehoben):

1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes, mit dem der Finanzausgleich für die Jahre 2017 bis 2021 geregelt wird und sonstige finanzausgleichsrechtliche Bestimmungen getroffen werden (Finanzausgleichsgesetz 2017 – FAG 2017), BGBl I 116/2016, idF BGBl I 85/2018 lauten:

"C. Ausschließliche Landes(Gemeinde)abgaben

§16. (1) Ausschließliche Landes(Gemeinde)abgaben sind insbesondere:

1.-14. […]

15. Gebühren für die Benützung von Gemeindeeinrichtungen und -anlagen;

[…]

D. Gemeindeabgaben auf Grund freien Beschlussrechtes

§17. (1)-(2) […]

(3) Die Gemeinden werden ferner ermächtigt, durch Beschluss der Gemeindevertretung folgende Abgaben vorbehaltlich weiter gehender Ermächtigung durch die Landesgesetzgebung auszuschreiben:

1.-3. […]

4. Gebühren für die Benützung von Gemeindeeinrichtungen und -anlagen, die für Zwecke der öffentlichen Verwaltung betrieben werden, mit Ausnahme von Weg- und Brückenmauten, bis zu einem Ausmaß, bei dem der mutmaßliche Jahresertrag der Gebühren das doppelte Jahreserfordernis für die Erhaltung und den Betrieb der Einrichtung oder Anlage sowie für die Verzinsung und Tilgung der Errichtungskosten unter Berücksichtigung einer der Art der Einrichtung oder Anlage entsprechenden Lebensdauer nicht übersteigt.

5. […]

(4) Verordnungen der Gemeinden auf Grund dieses Bundesgesetzes können bereits nach dessen Kundmachung erlassen werden, wobei diese Verordnungen frühestens mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in Kraft gesetzt werden dürfen. Werden derartige Verordnungen erst nach Inkrafttreten dieses Gesetzes erlassen, können diese rückwirkend mit Inkrafttreten dieses Gesetzes in Kraft gesetzt werden."

2. Die maßgeblichen Bestimmungen des Gesetzes vom 25. Juni 1984 über die Einhebung von Kanalabgaben (Burgenländisches Kanalabgabegesetz – KAbG), LGBl 41/1984, idF LGBl 11/2015 lauten:

"3. Abschnitt

Kanalbenützungsgebühren

§10

Allgemeines

(1) Soferne Gemeinden auf Grund bundesgesetzlicher Ermächtigung durch Verordnung des Gemeinderates Gebühren für die Benützung der Kanalisationsanlage vorschreiben, gelten hiefür die Bestimmungen dieses Abschnittes.

(2) Dem Gemeinderat steht es frei, innerhalb der bundesgesetzlichen Ermächtigung hinsichtlich des Abgabengegenstandes, der Entstehung der Abgabenschuld, des Abgabenschuldners und der Fälligkeit von diesem Gesetz abweichende Bestimmungen zu treffen.

§11

Höhe der Gebühr

(1) Das Ausmaß des mutmaßlichen Jahresertrages der Kanalbenützungsgebühren darf das doppelte Jahreserfordernis für die Erhaltung und den Betrieb der Kanalisationsanlage, für die Verzinsung und Tilgung der Kosten für die Errichtung, die Erweiterung, den Umbau oder die Erneuerung unter Berücksichtigung einer der Art der Anlage entsprechenden Lebensdauer sowie für die Bildung einer angemessenen Erneuerungsrücklage nicht übersteigen.

(2) Zu den Errichtungskosten im Sinne des Abs1 litc zählen nicht

a) die der Gemeinde für die Errichtung oder Änderung der Kanalisationsanlage gewährten Zuschüsse, die nicht zurückzuzahlen sind, und

b) der durch Kanalisationsbeiträge (§2 Abs1) gedeckte Teil der Errichtungskosten.

(3) Der Abgabenanspruch entsteht mit Beginn des Monats, in dem erstmalig die Benützung der Kanalisationsanlage möglich ist.

(4) Die Kanalbenützungsgebühr ist mit ihrem Jahresbetrag festzusetzen.

(5) Die Festsetzung gemäß Abs4 gilt auch für die folgenden Jahre, soweit nicht infolge einer Änderung der Voraussetzungen für die Festsetzung des Jahresbetrages ein neuer Abgabenbescheid zu erlassen ist. Entsteht der Abgabenanspruch während des Jahres, ist die Kanalbenützungsgebühr für dieses Jahr nur in dem verhältnismäßigen Anteil der Jahresgebühr festzusetzen. Dasselbe gilt sinngemäß im Falle einer Veränderung der bisherigen Gebühr. Die Kanalbenützungsgebühr wird am 15. Feber, 15. Mai, 15. August und 15. November zu je einem Viertel ihres Jahresbetrages fällig.

§12

Abgabenschuldner

(1) Abgabenschuldner ist der Eigentümer der im §5 Abs1 genannten Anschlußgrundfläche. §2 Abs4 und 5 gilt sinngemäß.

(2) Ist die im §5 Abs1 genannte Anschlußgrundfläche vermietet, verpachtet oder sonst zum Gebrauch überlassen, so ist die Kanalbenützungsgebühr dem Inhaber (Mieter, Pächter, Fruchtnießer) vorzuschreiben. Der Eigentümer haftet persönlich für die Abgabenschuld."

3. Die maßgeblichen Bestimmungen des Landesverfassungsgesetzes, mit dem für die burgenländischen Gemeinden mit Ausnahme der Städte mit eigenem Statut eine Gemeindeordnung erlassen wird (Burgenländische Gemeindeordnung 2003 – Bgld GemO 2003), LGBl 55/2003, idF LGBl 83/2016 lauten:

"5. Hauptstück

Verwaltungsakte und Verwaltungsverfahren

§81

Fristen

Soweit in anderen Gesetzen nicht anderes bestimmt ist, betragen Kundmachungs- und Auflagefristen zwei Wochen.

§82

Verordnungen der Gemeinde

(1) Verordnungen der Gemeinde bedürfen zu ihrer Rechtswirksamkeit der öffentlichen Kundmachung. Aus der Verordnung muss erkennbar sein, von welchem Organ der Gemeinde sie erlassen wurde. Die Kundmachung ist vom Bürgermeister innerhalb von zwei Wochen nach der Beschlussfassung - bei Verordnungen, die der Genehmigung der Aufsichtsbehörde bedürfen, unverzüglich nach erfolgter Genehmigung - durch Anschlag an der Amtstafel durchzuführen. Bei Kundmachung von Verordnungen, die der aufsichtsbehördlichen Genehmigung bedürfen, ist auf die erfolgte aufsichtsbehördliche Genehmigung hinzuweisen. Neben der Kundmachung durch Anschlag an der Gemeindeamtstafel und ohne Einfluss auf die Rechtswirksamkeit sind Verordnungen der Gemeinde vom Bürgermeister auch auf andere Art ortsüblich bekanntzumachen, wenn dies notwendig oder zweckmäßig ist. Die Rechtswirksamkeit von Verordnungen beginnt, wenn nicht gesetzlich oder auf Grund des Abs2 ausdrücklich anderes bestimmt ist, frühestens mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist (§81) folgenden Tag.

(2) Bei Gefahr im Verzug kann, sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, in der Verordnung angeordnet werden, dass ihre Rechtswirksamkeit bereits vor dem im Abs1 bestimmten Tag beginnt, frühestens jedoch mit Ablauf des Kundmachungstags.

(3) Verordnungen, deren Umfang oder Art den Anschlag an der Amtstafel nicht zulassen, können im Gemeindeamt zur öffentlichen Einsicht während der Amtsstunden innerhalb der Kundmachungsfrist aufgelegt werden. Die Auflegung ist nach Abs1 kundzumachen.

(4) Geltende Verordnungen sind im Gemeindeamt während der Amtsstunden zur allgemeinen Einsichtnahme aufzulegen. Auf Verlangen sind - gegebenenfalls gegen Ersatz der Kosten - Kopien auszufolgen."

4. Die Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 21. Dezember 2018 bis 10. Jänner 2019, lautet (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Gemäß der §§10, 11 und 12 Kanalabgabegesetz, LGBl Nr 41/1984 idgF, im Zusammenhalt mit §17 Abs3 Z4 Finanzausgleichsgesetz 2017 – FAG 2017, BGBl I Nr 116/2016, wird verordnet:

§1

Zur Deckung der Betriebs- und Instandhaltungskosten der Kanalisationsanlage und zur teilweisen Deckung der Errichtungskosten werden nach den Bestimmungen des dritten Abschnittes des Kanalabgabegesetzes Kanalbenützungsgebühren erhoben.

§2

Die Höhe der Kanalbenützungsgebühr wird mit 0,85 Euro pro m2 Berechnungsfläche gemäß §5 Abs2 KAbG festgesetzt.

Das Beitragsausmaß ergibt sich aus dem mit der Berechnungsfläche2 vervielfachten Beitragssatz. Die gesetzliche Umsatzsteuer ist gesondert hinzuzurechnen.

§3

Zur Entrichtung der Kanalbenützungsgebühr ist der Eigentümer der Anschlussgrundfläche verpflichtet. Miteigentümer schulden die Kanalbenützungsgebühr zur ungeteilten Hand. Dies gilt nicht, wenn die Eigentümer Wohnungseigentümer sind. In diesen Fällen kann aber, sofern ein gemeinsamer Verwalter bestellt ist, die Zustellung des Abgabenbescheides an diesen erfolgen.

Ist die Anschlussgrundfläche vermietet, verpachtet oder sonst zum Gebrauch überlassen, ist die Kanalbenützungsgebühr dem Inhaber (Mieter, Pächter, Fruchtnießer) vorzuschreiben. Der Eigentümer haftet persönlich für die Abgabenschuld.

§4

Der Abgabenanspruch entsteht mit Beginn des Monats, in dem erstmalig die Benützung der Kanalisationsanlage möglich ist.

§5

Die Kanalbenützungsgebühr wird am 15. Juni und 15. Dezember zu je einer Hälfte ihres Jahresbetrages fällig.

§6

Diese Verordnung tritt mit 01.01.2019 in Kraft. Gleichzeitig tritt die Verordnung vom 15.12.2018 des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid betreffend die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr außer Kraft."

5. Die Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 28. März 2019 bis 12. April 2019, lautet (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Gemäß der §§10, 11 und 12 Kanalabgabegesetz, LGBl Nr 41/1984 idgF, im Zusammenhalt mit §17 Abs3 Z4 Finanzausgleichsgesetz 2017 — FAG 2017, BGBl I Nr 116/2016, wird vom Gemeinderat die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr verordnet:

§1

Zur Deckung der Betriebs- und Instandhaltungskosten der Kanalisationsanlage und zur teilweisen Deckung der Errichtungskosten werden nach den Bestimmungen des dritten Abschnittes des Kanalabgabegesetzes Kanalbenützungsgebühren erhoben.

§2

Die Höhe der Kanalbenützungsgebühr wird mit 0,85 Euro pro m2 Berechnungsfläche gemäß §5 Abs2 KAbG festgesetzt.

Das Beitragsausmaß ergibt sich aus dem mit der Berechnungsfläche2 vervielfachten Beitragssatz.

Die gesetzliche Umsatzsteuer ist gesondert hinzuzurechnen.

§3

Zur Entrichtung der Kanalbenützungsgebühr ist der Eigentümer der Anschlussgrundfläche verpflichtet. Miteigentümer schulden die Kanalbenützungsgebühr zur ungeteilten Hand. Dies gilt nicht, wenn die Eigentümer Wohnungseigentümer sind. In diesen Fällen kann aber, sofern ein gemeinsamer Verwalter bestellt ist, die Zustellung des Abgabenbescheides an diesen erfolgen.

Ist die Anschlussgrundfläche vermietet, verpachtet oder sonst zum Gebrauch überlassen, ist die Kanalbenützungsgebühr dem Inhaber (Mieter, Pächter, Fruchtnießer) vorzuschreiben. Der Eigentümer haftet persönlich für die Abgabenschuld.

§4

Der Abgabenanspruch entsteht mit Beginn des Monats, in dem erstmalig die Benützung der Kanalisationsanlage möglich ist.

§5

Die Kanalbenützungsgebühr wird halbjährlich mit der Hälfte des Jahresbetrages fällig.

§6

Diese Verordnung tritt mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden in Kraft und wirkt ab 01.01.2019. Gleichzeitig tritt die Verordnung vom 21.12.2018 des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid betreffend die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr außer Kraft."

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.1. Beim Landesverwaltungsgericht Burgenland ist ein Beschwerdeverfahren gegen einen Bescheid des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid anhängig. Mit Bescheid des Bürgermeisters der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 25. Juli 2019 wurde den Beschwerdeführern vor dem Landesverwaltungsgericht Burgenland eine jährliche Kanalbenützungsgebühr ab 1. Jänner 2019 in der Höhe von € 254,48 für ihre an das Kanalnetz der Marktgemeinde Unterfrauenhaid angeschlossene Liegenschaft vorgeschrieben. Rechtsgrundlagen für diese Vorschreibung waren die §§10, 11 und 12 KAbG und §17 Abs3 Z4 FAG 2017 iVm der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr. §6 der genannten Verordnung bestimmt, dass diese "mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden [gemeint wohl: Tag] in Kraft tritt", jedoch ab 1. Jänner 2019 "wirkt" und dass zugleich die Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr außer Kraft tritt. Letztgenannte Verordnung wurde von der Burgenländischen Landesregierung nach aufsichtsbehördlicher Prüfung mangels gesetzlicher Grundlage für die Anordnung der Rückwirkung der Verordnung nicht zur Kenntnis genommen.

1.2. Die gegen den Bescheid des Bürgermeisters der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 25. Juli 2019 erhobene Berufung wurde vom Gemeinderat der Marktgemeinde Unterfrauenhaid mit Bescheid vom 22. Jänner 2020 abgewiesen und der angefochtene Bescheid bestätigt.

1.3. Im Zuge der Behandlung der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde sind dem Landesverwaltungsgericht Burgenland Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr und der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr entstanden, weshalb der vorliegende Antrag nach Art139 Abs1 Z1 B-VG gestellt wurde.

2. Das Landesverwaltungsgericht Burgenland legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bewogen haben, zusammengefasst wie folgt dar:

2.1. Die in der angefochtenen Wortfolge des §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr sowie die in §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr jeweils angeordnete Rückwirkung der beiden Verordnungen widerspreche Art18 B-VG bzw §82 Abs1 Bgld GemO 2003.

2.1.1. §17 Abs4 FAG 2017 enthalte keine Ermächtigung zur Anordnung der Rückwirkung der angefochtenen Verordnungen. Die Bestimmung ermächtige Gemeinden allein dazu, Verordnungen auf Grund des freien Beschlussrechtes rückwirkend bloß zum 1. Jänner 2017 in Kraft zu setzen (VfGH 8.6.2020, V101/2019).

2.1.2. Im dritten Abschnitt des KAbG würden nähere Regelungen zu den Kanalbenützungsgebühren getroffen, die den Zweck verfolgten, eine gewisse Vereinheitlichung in der Praxis herbeizuführen. Den Bestimmungen komme aber keine verbindliche Wirkung zu. Auch der dritte Abschnitt des KAbG enthalte sohin keine Ermächtigung zur rückwirkenden Verordnungserlassung.

2.1.3. §82 Abs1 letzter Satz Bgld GemO 2003 enthalte die allgemeine Regel, dass die Rechtswirksamkeit von Verordnungen – sofern die Verwaltungsvorschriften wie im vorliegenden Fall nichts anderes bestimmen – mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden Tag beginne, wobei die Kundmachungsfrist gemäß §81 leg cit zwei Wochen betrage. Ein früheres Inkrafttreten der Verordnung sei nur im Fall des §82 Abs2 leg cit bei Gefahr im Verzug möglich. Unter "Gefahr im Verzug" sei eine Situation zu verstehen, die zur Abwehr einer bestehenden oder wahrscheinlichen Gefahr ein sofortiges behördliches Einschreiten erfordere (vgl VwGH 28.3.1995, 93/07/0072; 21.2.2002, 2001/07/0124). Eine derartige Situation liege jedoch nicht vor.

2.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sei die Anordnung der Rückwirkung von Verordnungen – abgesehen von Ausnahmefällen (VfSlg 20.232/2017) – nur zulässig, wenn das Gesetz ausdrücklich dazu ermächtige (VfSlg 12.943/1991, 13.370/1993, 14.462/1996, 15.675/1999, 17.773/2006, 18.037/2006, 20.127/2016, 20.211/2017). Weder die Bgld GemO 2003 noch das KAbG noch das FAG 2017 ermächtigten dazu, Verordnungen mit Rückwirkung zu erlassen. Die angefochtene Wortfolge in §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr erfasse sämtliche Abgabentatbestände, die zwischen 1. Jänner 2019 und dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung verwirklicht worden seien. Die Verordnung knüpfe sohin in ihrem Rechtsbedingungsbereich (auch) an Sachverhalte bzw Tatbestände an, die vor dem Zeitpunkt ihrer gehörigen Kundmachung verwirklicht worden seien, und sei damit rückwirkend. Da die nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes für die Anordnung der Rückwirkung von Verordnungen notwendige gesetzliche Ermächtigung nicht vorliege, sei die angefochtene Wortfolge der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr gesetzwidrig. Auch §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr sehe entgegen §82 Abs1 Bgld GemO 2003 ein rückwirkendes Inkrafttreten der Verordnung vor, weshalb dieser Satz ebenfalls gesetzwidrig sei.

3. Der Bürgermeister der Marktgemeinde Unterfrauenhaid hat die Akten betreffend das Zustandekommen der zur Prüfung gestellten Verordnungen vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der der Gang des Ausgangsverfahrens und das Verfahren betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnungen dargestellt wird.

4. Die Burgenländische Landesregierung, die verordnungserlassende Behörde und die Parteien des Ausgangsverfahrens vor dem Landesverwaltungsgericht Burgenland haben von der Erstattung einer Äußerung abgesehen.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

1.2. Im Ausgangsverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Burgenland ist über eine Beschwerde gegen die Vorschreibung einer Kanalbenützungsgebühr zu entscheiden, deren Rechtsgrundlage unter anderem die Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr ist. Für den Verfassungsgerichtshof bestehen daher keine Zweifel, dass das Landesverwaltungsgericht Burgenland die angefochtene Wortfolge dieser Verordnung in dem bei ihm anhängigen Verfahren denkmöglich anzuwenden hat. Im Falle der Aufhebung der angefochtenen Wortfolge der genannten Verordnung tritt diese erst mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden Tag in Kraft. Dies betrifft auch die Bestimmung über das Außerkrafttreten der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr in §6 der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr. Auch §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr ist sohin im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Burgenland denkmöglich anzuwenden (vgl VfSlg 10.617/1985).

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Hauptantrag somit als zulässig, sodass auf den Eventualantrag nicht weiter einzugehen ist.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist begründet.

2.3. Die Bedenken des Landesverwaltungsgerichtes Burgenland gehen dahin, dass die Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr und die Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr am 1. Jänner 2019 und sohin rückwirkend in Kraft getreten seien, weshalb sie in Widerspruch zu §82 Abs1 Bgld GemO 2003 bzw zu Art18 Abs2 B-VG stünden.

2.4. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist eine Rückwirkung von Verordnungen – von hier nicht in Betracht kommenden Sonderfällen (vgl VfSlg 20.232/2017) abgesehen – nur zulässig, wenn das Gesetz ausdrücklich dazu ermächtigt (vgl zB VfSlg 12.943/1991, 13.370/1993, 15.675/1999, 17.773/2006, 18.037/2006, 20.127/2016, 20.211/2017). Die Anordnung einer Rückwirkung muss sohin von der Ermächtigungsgrundlage umfasst sein.

2.5. Gemäß §82 Abs1 letzter Satz Bgld GemO 2003 beginnt die Rechtswirksamkeit von Verordnungen, wenn nicht gesetzlich oder auf Grund des Abs2 leg cit ausdrücklich anderes bestimmt ist, frühestens mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist (§81 leg cit) folgenden Tag. Nach Abs2 leg cit kann bei Gefahr im Verzug, sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, in der Verordnung angeordnet werden, dass ihre Rechtswirksamkeit bereits vor dem im Abs1 bestimmten Tag beginnt, frühestens jedoch mit Ablauf des Kundmachungstages.

2.6. Hinweise auf das Vorliegen von Gefahr im Verzug sind dem Verordnungsakt nicht zu entnehmen und wurden auch von der verordnungserlassenden Behörde nicht vorgebracht. Auch erteilen weder das KAbG noch eine andere gesetzliche Bestimmung eine Ermächtigung zur rückwirkenden Erlassung einer Verordnung. Dabei geht das Landesverwaltungsgericht Burgenland zutreffend davon aus, dass §17 Abs4 FAG 2017 Gemeinden allein dazu ermächtigt, Verordnungen auf Grund des freien Beschlussrechtes rückwirkend bloß zum 1. Jänner 2017 in Kraft zu setzen (vgl VfSlg 13.370/1993, 15.675/1999 und VfGH 8.6.2020, V101/2019).

2.7. Die vom Landesverwaltungsgericht Burgenland angefochtene Wortfolge "und wirkt ab 01.01.2019" im ersten Satz des §6 der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr sieht – trotz der gleichzeitigen Anordnung des Inkrafttretens mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden Tag – entgegen §82 Abs1 Bgld GemO 2003 ein rückwirkendes Inkrafttreten der Verordnung am 1. Jänner 2019 vor. Die angefochtene Wortfolge ist daher wegen Verstoßes gegen §82 Abs1 Bgld GemO 2003 gesetzwidrig.

Die vorangegangene Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr wurde am 21. Dezember 2018 an der Amtstafel angeschlagen und am 10. Jänner 2019 wieder abgenommen. Vor dem Hintergrund des Ablaufs der Kundmachungsfrist mit 11. Jänner 2019 ordnet §6 erster Satz dieser Verordnung deren rückwirkendes Inkrafttreten am 1. Jänner 2019 an. §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr war daher ebenfalls wegen Verstoßes gegen §82 Abs1 Bgld GemO 2003 gesetzwidrig (vgl VfSlg 20.127/2016).

V. Ergebnis

1. Die Wortfolge "und wirkt ab 01.01.2019" im ersten Satz des §6 der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 27. März 2019 über die Ausschreibung einer Kanalbenützungsgebühr, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 28. März 2019 bis 12. April 2019 ist daher als gesetzwidrig aufzuheben.

2. §6 erster Satz der Verordnung des Gemeinderates der Marktgemeinde Unterfrauenhaid vom 21. Dezember 2018 über die Kanalbenützungsgebühr ("Diese Verordnung tritt mit 01.01.2019 in Kraft."), kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 21. Dezember 2018 bis 10. Jänner 2019, war gesetzwidrig.

3. Die Verpflichtung der Burgenländischen Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebungen erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §2 Abs1 Z6 Bgld Verlautbarungsgesetz 2015.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Abgaben Kanalisation, Rückwirkung, Verordnung, VfGH / Gerichtsantrag, VfGH / Präjudizialität, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, Kundmachung, Gemeinderecht, Gebühr

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:V124.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.09.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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