TE Vwgh Erkenntnis 2022/5/10 Ra 2021/11/0135

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Veröffentlicht am 10.05.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
68/01 Behinderteneinstellung

Norm

AVG §45 Abs2
AVG §52
BEinstG §14
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der H L in W, vertreten durch die Schwarz Schönherr Rechtsanwälte KG in 1010 Wien, Parkring 12, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juli 2021, Zl. W261 2242840-1/14E, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 23. März 2021 wies die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin vom 30. April 2020 auf Feststellung ihrer Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2 sowie 14 Abs. 1 und 2 BEinstG ab. Unter einem sprach die Behörde aus, der Grad der Behinderung der Revisionswerberin betrage 30 %.

2        Die Revisionswerberin erhob Beschwerde und brachte vor, es seien von der belangten Behörde bzw. in den dem Bescheid vom 23. März 2021 zugrunde gelegten Gutachten neben weiteren physischen und psychischen Leiden insbesondere Schmerzzustände infolge einer Endometriose sowie die sich aus der Adipositas per magna ergebenden Beeinträchtigungen der Revisionswerberin nicht ausreichend berücksichtigt worden.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und bestätigte den Bescheid vom 23. März 2021 mit der Maßgabe, dass die Anführung des Grades der Behinderung im Spruch entfalle. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

4        Das Verwaltungsgericht gab auszugsweise das von der belangten Behörde eingeholte Gutachten Dris. R vom 22. März 2021 wieder und hielt fest, dass bei der Revisionswerberin kein Grad der Behinderung von mindestens 50 v.H. vorliege.

5        Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, die von der Revisionswerberin ins Treffen geführte Zwangsstörung sei im Gutachten Dris. R, welches das Bundesverwaltungsgericht als richtig, vollständig, widerspruchsfrei und schlüssig erachtete, bereits berücksichtigt worden. Die Einstufung ihrer psychiatrischen Leiden sei anhand der Einschätzungsverordnung erfolgt. Die Adipositas per magna erreiche nach den Ausführungen der Sachverständigen keinen Grad der Behinderung. Hinsichtlich der in der Beschwerde angeführten gynäkologischen Leiden stünde eine diagnostische Abklärung noch aus. Betreffend die geltend gemachten Zahn- und Augenbeschwerden seien keine medizinischen Befunde vorgelegt worden, sodass diese Leiden von der Sachverständigen nicht hätten berücksichtigt werden können. Dem Gutachten Dris. R sei die Revisionswerberin nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten.

6        Im Hinblick auf den festgestellten Grad der Behinderung von 30 v.H. seien die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 BEinstG gegenständlich nicht erfüllt.

7        Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht dahin, dass sich der maßgebliche Sachverhalt aus dem Akt der belangten Behörde sowie insbesondere aus dem von dieser eingeholten medizinischen Gutachten ergebe. Die strittige Tatsachenfrage, d.h. die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Revisionswerberin, seien von einem Sachverständigen zu beurteilen. Keine der Parteien habe einen Verhandlungsantrag gestellt. All dies lasse die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel sei, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis diene. Zudem werde auf diese Weise das Interesse an der materiellen Wahrheitsfindung und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt.

8        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich zur Begründung ihrer Zulässigkeit u.a. auf eine Abweichung des Bundesverwaltungsgerichts von der hg. Rechtsprechung zur Verhandlungspflicht beruft.

9        Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die Revision ist auch begründet.

11       Nach der ständigen hg. Rechtsprechung geht es bei der Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten um ein „civil right“ im Sinn des Art. 6 EMRK, sodass die Durchführung einer Verhandlung essenziell ist (vgl. aus vielen VwGH 18.8.2020, Ra 2020/11/0087, mwN). Gerade die mündliche Verhandlung, deren Durchführung nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichts steht (siehe VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036), ermöglicht es, im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, einerseits ergänzende Fragen an die beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (VwGH 23.2.2022, Ra 2019/11/0057, mwN). Die Einschätzung des Grades der Behinderung auf der Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens stellt auch keine Frage bloß technischer Natur dar (vgl. auf die Judikatur des EGMR Bezug nehmend VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036).

12       Weiters haben Einwendungen gegen die Schlüssigkeit eines Gutachtens einschließlich der Behauptung, die Befundaufnahme sei unzureichend bzw. der Sachverständige gehe von unrichtigen Voraussetzungen aus, ebenso wie Einwendungen gegen die Vollständigkeit des Gutachtens auch dann Gewicht, wenn sie nicht auf gleicher fachlicher Ebene angesiedelt sind, also insbesondere auch ohne Gegengutachten erhoben werden. Die unvollständige und unrichtige Befundaufnahme vermag auch ein Laie nachvollziehbar darzulegen. Das Verwaltungsgericht ist in diesem Fall verpflichtet, sich mit diesen - der Sachverhaltsebene zuzurechnenden - Einwendungen in einer Verhandlung auseinanderzusetzen (VwGH 11.4.2018, Ra 2017/12/0090; 23.2.2022, Ra 2019/07/0077, mwN).

13       In der vorliegenden Konstellation war das Bundesverwaltungsgericht somit gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG gehalten, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal in Anbetracht des Beschwerdevorbringens und der dort gegen das Gutachten erhobenen Einwendungen der Sachverhalt nicht als geklärt zu betrachten war.

14       Das angefochtene Erkenntnis, mit dem das Verwaltungsgericht die Rechtslage insbesondere in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannte, war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

15       Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht, soweit es davon ausging, von der Revisionswerberin ins Treffen geführte Leiden seien allein deshalb nicht zu berücksichtigen, weil es diesbezüglich an medizinischen Befunden und diagnostischen Abklärungen fehle, seine Verpflichtung verkannt, den maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 17 VwGVG iVm. § 39 Abs. 2 AVG; vgl. erneut VwGH 18.8.2020, Ra 2020/11/0087).

16       Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG unterbleiben.

17       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da die Revisionswerberin aufgrund der bewilligten Verfahrenshilfe keine Gebühr nach § 24a Z 1 VwGG leisten muss (siehe auch § 23 BEinstG), war das diesbezügliche Kostenmehrbegehren abzuweisen.

Wien, am 10. Mai 2022

Schlagworte

Anforderung an ein Gutachten Beweismittel Sachverständigenbeweis Gutachten Parteiengehör Parteieneinwendungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021110135.L00

Im RIS seit

03.06.2022

Zuletzt aktualisiert am

08.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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