TE OGH 2022/4/19 5Nc5/22p

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.04.2022
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. H*, 2. C*, beide vertreten durch die Skribe Rechtsanwaelte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei E*, Großbritannien, wegen 500 EUR sA, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Als örtlich zuständiges Gericht wird das Bezirksgericht Schwechat bestimmt.

Text

Begründung:

[1]       Die in Österreich wohnhaften Kläger erhoben gegen ein Luftfahrtunternehmen mit Sitz in Großbritannien Klage auf Zahlung von 500 EUR sA. Sie stützen diesen Anspruch auf die Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 2. 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr 295/91 (in der Folge kurz „EU-FluggastVO“). Der von den Klägern bei der Beklagten gebuchte Flug von London-Gatwick nach Wien-Schwechat sei mit mehr als dreistündiger Verspätung am Ziel angekommen. Nach Art 5 iVm Art 7 Abs 1 EU-FluggastVO stehe ihnen daher jeweils ein Ausgleichsanspruch von 250 EUR zu.

[2]       Das von den Klägern angerufene Bezirksgericht Schwechat sprach rechtskräftig seine (internationale) Unzuständigkeit aus.

[3]       Die Kläger beantragen eine Ordination nach § 28 JN. Aufgrund des im Anwendungsvorrang stehenden Gemeinschaftsrechts sei sicherzustellen, dass ein Fluggast seine Rechte nach der EU-FluggastVO wirksam wahrnehmen und auch effektiv (gerichtlich) durchsetzen könne (Grundsatz der Effektivität). Eine Rechtsverfolgung in Großbritannien sei aussichtslos, weil britische Gerichte britisches nationales Recht, nicht aber die EU-FluggastVO anwendeten. Selbst wenn britische Gerichte die EU-FluggastVO anwendeten, wäre dennoch von einer übermäßigen Erschwernis für die Kläger als Verbraucher auszugehen, wenn diese ihre Rechte nur in einem Drittstaat wahrnehmen könnten.

[4]       Der Ordinationsantrag ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[5]       1. An die rechtskräftige Verneinung der internationalen Zuständigkeit des von den Klägern angerufenen Bezirksgerichts Schwechat ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RS0046568 [T5]).

[6]       2. Wenn für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, bestimmt § 28 Abs 1 JN, dass der Oberste Gerichtshof aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen hat, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre (Z 2).

[7]       3. Die Kläger begehren eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN. Diese Bestimmung soll Fälle abdecken, in denen trotz Fehlens eines inländischen Gerichtsstands ein Bedürfnis nach Gewährung von inländischem Rechtsschutz besteht, weil die Sache ein Naheverhältnis zum Inland aufweist und im Einzelfall eine effektive Klagemöglichkeit im Ausland fehlt (RS0057221 [T4]). Letzteres wird insbesondere dann angenommen, wenn eine Exekution im Inland angestrebt wird, eine am Sitz des Beklagten ergangene Entscheidung hier aber nicht vollstreckt würde (RS0046148 [T17]). Dem Vorbringen der Kläger lässt sich (noch) ausreichend deutlich entnehmen, dass sie die Durchsetzung ihres Anspruchs (auch) im Sinn der Vollstreckung in Österreich anstreben.

[8]       4. Der Oberste Gerichtshof hat Ordinationsanträgen bereits in einer Vielzahl von Entscheidungen stattgegeben, wenn der Kläger Ansprüche nach der EU-FluggastVO sonst in einem Drittstaat einklagen müsste und zwischen diesem Drittstaat und Österreich kein Vollstreckungsübereinkommen besteht (etwa für Serbien [6 Nc 1/19b], die Vereinigten Arabischen Emiraten [4 Nc 11/19h], die Ukraine [4 Nc 23/19y], Ägypten [8 Nc 18/20v] oder Mexiko [4 Nc 20/20h]).

[9]       5. Auch im Verhältnis zum seit 1. 1. 2021 als Drittstaat anzusehenden Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (vgl Art 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl L 2020/29, 7 [in der Folge nur: Austrittsabkommen]) liegt eine vergleichbare Situation vor:

[10]     5.1. Entscheidungen eines britischen Gerichts, die in einem nach dem Ablauf des 31. 12. 2020 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergehen, können nicht mehr nach den Regeln der EuGVVO vollstreckt werden (Art 67 Abs 2 lit a Austrittsabkommen e contrario). Auch eine Vollstreckung britischer Entscheidungen in Österreich nach dem EuGVÜ oder dem LGVÜ kommt nicht in Betracht (Exenberger/Karl, Anerkennung und Vollstreckung zivilgerichtlicher Entscheidungen Post-Brexit, ecolex 2021/227, 320; vgl auch Cap, BREXIT – Die justizielle Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich in Zivilrechtssachen nach 31. 12. 2020, RZ 2021, 124 [127 f]). Es bleibt damit – jedenfalls im hier zu beurteilenden Fall (vgl zum Anwendungsbereich des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen in Zivil- und Handelssachen: Tretthahn-Wolski/Förstel-Cherng, Nein zu Lugano – zu den Auswirkungen des harten Brexits auf Cross-Border-Streitigkeiten, ÖJZ 2021/92, 708) – nur ein (allfälliger: Cap, RZ 2021, 124 [128]) Rückgriff auf den bilateralen Vollstreckungsvertrag.

[11]     5.2. Nach dem Vertrag zwischen der Republik Österreich und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, BGBl 1962/224 idgF, werden grundsätzlich nur Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen eines „oberen Gerichts“ (Art II Abs 1 iVm Art I Z 2 lit a) nach einem (auch Fragen der Zuständigkeit umfassenden) Exequaturverfahren (Art III) anerkannt und vollstreckt. Trotz der in Art II Abs 2 vorgesehenen grundsätzlichen Möglichkeit zur Vollstreckung auch von Entscheidungen „unterer“ Gerichte („Dieser Vertrag schließt nicht aus …“) kommt eine Vollstreckung der Entscheidung eines britischen „unteren“ Gerichts in Österreich mangels qualifizierter Gegenseitigkeit (§ 406 EO) nicht in Betracht (1 Nd 502/85 SZ 58/109).

[12]     5.3. Da den Klägern im vorliegenden Fall im Hinblick auf die geringe Höhe ihrer Forderung die Erlangung einer Entscheidung eines britischen „oberen Gerichts“ kaum möglich sein wird, ist von einer faktischen Unmöglichkeit der Exekutionsführung in Österreich aufgrund eines in Großbritannien erlangten Titels auszugehen (ähnlich bereits 1 Nd 502/85).

[13]     6. Insgesamt sind damit die Voraussetzungen für eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN als erfüllt anzusehen (im Ergebnis ebenso bereits 6 Nc 1/22g [Sitz der Airline in Großbritannien]).

[14]     7. Bei der Auswahl des zu bestimmenden Gerichts ist auf die Kriterien der Sach- und Parteinähe sowie der Zweckmäßigkeit Bedacht zu nehmen (RS0106680 [T13]). Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist das Bezirksgericht Schwechat zu bestimmen, lag doch zum einen der Ankunftsort in dessen Sprengel und wurde zum anderen die Klage bereits bei diesem Gericht behandelt.

Textnummer

E134931

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0050NC00005.22P.0419.000

Im RIS seit

04.06.2022

Zuletzt aktualisiert am

04.06.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten