Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Hofrätin Dr. Solé als Vorsitzende sowie die Hofrätin und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P* K*, vertreten durch Mag. Van?o Apostolovski, LL.M., Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei G* AG, *, vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wegen 15.344,05 EUR sA, Zahlung einer Rente und Feststellung (Gesamtstreitwert 49.039,93 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 23. April 2021, GZ 4 R 5/21v-104, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 9. November 2020, GZ 44 Cg 18/18k-98, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.232 EUR (darin 372 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Die Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung Stand 06/2007, die dem Versicherungsvertrag zwischen den Parteien zugrunde liegen, lauten auszugsweise wie folgt:
„Artikel 2
Unter welchen Bedingungen wird eine Leistung erbracht?
2.1 Wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall voraussichtlich mindestens 6 Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande ist, seine zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit (so wie sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war) auszuüben, so liegt eine Berufsunfähigkeit vor, die eine Leistungspflicht im Sinne dieser Bedingungen auslöst. Die Krankheit, die Körperverletzung oder der Kräfteverfall sind ärztlich nachzuweisen. Wenn die versicherte Person während der Berufsunfähigkeit eine andere seiner Ausbildung und Erfahrung sowie seiner bisherigen Lebensstellung entsprechende berufliche Tätigkeit ausübt, so liegt keine Leistungspflicht im Sinne dieser Bedingungen vor. Eine berufliche Tätigkeit entspricht nicht der bisherigen Lebensstellung, wenn sie deutlich geringere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und auch hinsichtlich Vergütung und Wertschätzung spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt. Bei einem geringeren Grad der Berufsunfähigkeit als 50 % besteht kein Anspruch auf eine Versicherungsleistung.“
[2] Der 1968 geborene Kläger war von August 2000 bis 30. 9. 2016 bei einem Stahlgroßhändler zuletzt als Lademeister (seit 2006 als Angestellter) ausschließlich in der Nachtschicht acht Stunden pro Tag bei der Verladung von pro Schicht zehn bis zwölf LKW tätig. Er wurde gekündigt und ist seitdem arbeitslos.
[3] Dem Kläger waren zuletzt sechs bis sieben Mitarbeiter unterstellt. Sein letzter Arbeitsplatz kann zusammengefasst wie folgt beschrieben werden:
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Übernahme der Lieferpapiere
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Einteilung der Mitarbeiter der Nachtschicht
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Abholung der LKW vom Stellplatz und Positionierung in der Verladehalle
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Vorladetätigkeit mittels Hubstapler und Hallenkran
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Mithilfe bei der Beladung der LKW in der Hauptladezone mittels Hubstapler und Hallenkran
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laufende Beaufsichtigung der Verladetätigkeit der Mitarbeiter
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Endabnahme des fertig verladenen LKW (Verlade- und Sicherheitsprüfung)
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LKW an den Abholplatz für die Fahrer stellen.
Die Haupttätigkeiten des Klägers waren:
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Übernahme der Lieferpapiere
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Durchsicht der Lieferpapiere (Reihenfolge, Gewichtsverteilung, Ladungssicherung, Vorladen)
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Einteilung der Mitarbeiter der Nachtschicht
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Abholung der LKW vom Stellplatz und Positionierung in der Verladehalle
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Vorbereitung des LKW (Retourware und Leergut entladen)
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Vorladetätigkeit mittels Hubstapler und Hallenkran
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Mithilfe bei der Beladung der LKW mittels Hubstapler und Hallenkran (Zubringung des Materials) in der Hauptladezone
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Zwischendurch eventuell Umstellung des LKW
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Ständige Beaufsichtigung der Verladetätigkeit der Mitarbeiter (Abgehen der Ladepunkte – Wann wird die Beladung fertig? Gibt es noch LKW zum Entladen? Richtige Positionierung des Materiales am LKW)
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Endabnahme des fertig verladenen LKW (Verlade- und Sicherheitsprüfung)
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Bei Bedarf Durchsicht weiterer oder restlicher Lieferscheine
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LKW an den Abholplatz für die Fahrer stellen.
[4] Die Übernahme und Durchsicht der Lieferpapiere, Einteilung der Mitarbeiter ist körperlich leichte Arbeit, ebenso wie die Kontrolle des Leergutes (Einhaltung der Sicherheitsvorschriften) verbunden mit Stiegensteigen bzw Steigen auf den LKW (durchschnittlich zehn- bis zwölfmal pro Schicht). Die Ausübung von Staplertätigkeiten ist mit einer leichten sowie halbzeitig mittelschweren körperlichen Belastung verbunden. Sofern regelmäßige händische Schicht-, Be- und Entladetätigkeiten mit zum Aufgabenbereich gehören (Kombination Lager-, Versandarbeiter und Staplerfahrer), können produktabhängig körperlich schwere Arbeiten nicht ausgeschlossen werden. Die Arbeit am Hubstapler erfolgt überwiegend im Sitzen. Die Verladetätigkeiten mit dem Hallenkran sind körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten (Vorbereiten des Materials für das Einhängen der Hakenflasche des Hallenkrans). Das Material wird mittels des Steuergerätes positioniert und gegebenenfalls von einem anderen Mitarbeiter händisch in die richtige Position gebracht, bevor das Material am LKW abgeladen wird. Die Arbeit erfolgt im Gehen und Stehen. Die händische Beladung (Kleinmaterial 30 bis 40 kg) ist eine körperlich mittelschwere bis schwere Tätigkeit. Bei mittelschwerer Arbeit sind Gewichte bis zu 30 kg und bei schwerer solche über 30 kg zu manipulieren.
[5] Der Kläger leidet an diversen gesundheitlichen Einschränkungen, die ihn aber an der weiteren Ausübung des bisherigen, leichte sowie halbzeitig mittelschwere körperliche Belastung mit sich bringenden Berufes als Lademeister nicht hindern, obwohl – aus neurologisch-psychiatrischer Sicht – Tätigkeiten in der Nacht sowie – aus orthopädischer, internistischer und psychiatrischer Sicht – schwere Arbeiten (worunter auch das händische Beladen von LKW fällt) ausgeschlossen sind; Letztere verrichtete er bei seinem letzten Arbeitgeber 15–20 Minuten am Tag (rund 5 bis 6 % seiner Arbeitszeit). Auf dem Arbeitsmarkt sind ausreichend offene Stellen für den Beruf des Klägers in der Tagschicht vorhanden.
[6] Der Kläger begehrt aus der Berufsunfähigkeitsversicherung 15.344,05 EUR, Zahlung einer monatlichen Rente von 769,33 EUR (entspricht 27.695,88? EUR für drei Jahre) von 1. 6. 2018 bis zur Vollendung des 66. Lebensjahres sowie die mit 6.000 EUR bewertete Feststellung der Freistellung von der Prämienzahlungspflicht. Er stützt dies – soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung – darauf, daran gehindert zu sein, die vor Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit zu verrichten, was die Arbeit in Nachtschicht einschließe. Es komme auf die konkrete Ausgestaltung seines zuletzt ausgeübten Berufes an.
[7] Die Beklagte hielt dem entgegen, dass es auf den zuletzt ausgeübten Beruf und die darin prägend ausgeübten Tätigkeiten ankommen, wozu die zeitliche Gestaltung als Nachtarbeit nicht gehöre.
[8] Das Erstgericht wies die Klage ab.
[9] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung, wobei es die Rechtsansicht des Erstgerichts teilte, dass dem Kläger keine Leistungen aus dieser Versicherung zustehen, weil er nach wie vor in der Lage sei, den zuletzt von ihm ausgeübten Beruf zu verrichten.
[10] Mit seiner Revision begehrt der Kläger, die Entscheidungen dahin abzuändern, dass der Klage stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[11] Die Beklagte beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
[12] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[13] 1. Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist eine Summenversicherung. Die Versicherungsleistung erfolgt also unabhängig vom Nachweis eines Schadens, insbesondere einer Einkommenseinbuße. Versicherte Gefahr in der Berufsunfähigkeitsversicherung ist der vorzeitige Rückgang oder der Verlust der beruflichen Leistungsfähigkeit (RS0112258). Diese Versicherungsart soll Schutz vor dem Zustand bieten, in dem ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen ganz oder teilweise nicht mehr in der Lage ist, seinen bisherigen Beruf (oder allenfalls bedingungsgemäß einen angemessenen Vergleichsberuf) auszuüben (RS0112257). Versichert ist nicht die berufliche Leistungsfähigkeit des Versicherten überhaupt, sondern nur in Verbindung mit bestimmten Berufen, wobei es auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ankommt (vgl RS0111999).
[14] 2.1. Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer kann die Bestimmung der Versicherungsbedingungen, wonach die Berufsunfähigkeit an die Unfähigkeit anknüpft, eine „zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit (so wie sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war), auszuüben“, nur dahin verstehen, dass damit – synonym – der zuletzt ausgeübte Beruf – und zwar mit den zu dessen Ausübung zuletzt geforderten Kenntnissen und Fähigkeiten, die dadurch vermittelte soziale Stellung und Sicherheit sowie das Ansehen in der Öffentlichkeit – gemeint ist (vgl 7 Ob 169/14z).
[15] Der Begriff „berufliche Tätigkeiten“ kann daher nur dahin verstanden werden, dass es sich um Tätigkeiten handelt, die das Berufsbild umfasst. Der Senat hat bereits festgehalten, dass die Berufsunfähigkeitsversicherung keine Arbeitsplatzrisikoversicherung ist, und bei dieser Versicherungsart der Verlust der Lebensstellung des Versicherungsnehmers – und gerade nicht der bisherigen Arbeitsstelle – maßgeblich ist (vgl 7 Ob 127/99y). Die konkrete zeitliche Ausgestaltung der Tätigkeit an einer bestimmten Arbeitsstelle bzw in einem bestimmten Unternehmen ist damit nicht relevant.
[16] 2.2. Der auch in der Revision weiterhin vertretenen Auffassung, die konkrete Ausgestaltung der letzten beruflichen Tätigkeit des Klägers als Nachtarbeit, die er nicht mehr leisten könne, sei als Grund für die Berufsunfähigkeit heranzuziehen, ist zudem zu entgegnen, dass nach den Feststellungen sein Beruf als Lademeister auch als Tagesarbeitsplatz besteht. Auf den Umstand, dass es seine Tätigkeit in dem Unternehmen, in dem er zuletzt beschäftigt war, nur in der Nachtschicht gegeben haben sollte, kommt es hier nicht an. Die Ausübung desselben Berufs (derselben vom Berufsbild umfassten Tätigkeit) als Lademeister bei einem anderen Arbeitgeber in der Tagschicht mit im Kern denselben Tätigkeiten verlangt keine anderen Fähigkeiten, Kenntnisse oder prägenden wesentlichen Einzelverrichtungen (vgl RS0112001) und wäre auch nicht als anderer Beruf anzusehen, mit dem sozialer Abstieg oder geringere Wertschätzung verbunden wären.
[17] 3.1. Die Revision führt ins Treffen, dass es nicht sein könne, die Nachtarbeit als irrelevant anzusehen, andere Aspekte der bisherigen Tätigkeit, nämlich teilweise Schwerarbeit und Einteilungsbefugnisse, sehr wohl argumentativ heranzuziehen; auch diese seien prägende, wesentliche Einzelverrichtungen seiner bisherigen Tätigkeit.
[18] 3.2. Hierzu hat bereits das Berufungsgericht dargelegt, dass die zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Klägers nach den Feststellungen ihm nicht mehr mögliche manuelle schwere Ladetätigkeiten in nur geringem, etwa 5 – 6 % seiner Arbeitszeit ausmachenden Maß umfasste, auch dies keine prägende, wesentliche Einzelverrichtung weder seiner Tätigkeit noch des Berufsbildes ist und daraus jedenfalls kein Herabsinken seiner beruflichen Leistungsfähigkeit um mehr als 50 % ableitbar ist. Dies ist ebenso zutreffend wie die Auffassung des Berufungsgerichts, dass ein nach den Feststellungen vom Berufsbild ebenso wie von seiner bisherigen Tätigkeit umfasstes Direktionsrecht als Lademeister über sechs bis sieben Mitarbeiter es dem Kläger ermöglicht, für bisher von ihm selbst ausgeübte Tätigkeiten teilweise andere Mitarbeiter einzuteilen (vgl RS0112002).
[19] 4. Der Revision konnte daher kein Erfolg beschieden sein.
[20] 5. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 50, 41 ZPO (Ansatz TP 3C: 1.238,60 EUR).
Textnummer
E134974European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00108.21I.0428.000Im RIS seit
03.06.2022Zuletzt aktualisiert am
03.06.2022