TE OGH 2022/4/28 7Ob7/22p

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Veröffentlicht am 28.04.2022
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Hofrätin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätin und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. J* R*, vertreten durch die Advokaten Keckeis Fiel Scheidbach OG in Feldkirch, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Markus Heis, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Feststellung (Streitwert 16.000 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 8. Oktober 2021, GZ 4 R 145/21m-30, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 16. Juni 2021, GZ 9 Cg 87/19g-26, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.631,52 EUR (darin 271,92 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit  2.701,22 EUR (darin 195,87 EUR USt und 1.526 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]            Zwischen den Parteien besteht eine Wohnungs-/ Eigenheimversicherung, die eine Privathaftpflichtversicherung umfasst. Der Sohn der Klägerin ist mitversichert.

[2]            Dem Versicherungsvertrag liegen unter anderem die Allgemeinen Bedingungen für die Raiffeisen Wohnungsversicherung (ABWH/RV 06.2016) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:

[…]

Privathaftpflichtversicherung

[...]

Welche Gefahren sind versichert? – Art 7

1. Die Versicherung erstreckt sich auf Schadenersatzverpflichtungen des Versicherungsnehmers und der im Art 6 genannten mitversicherten Personen als Privatperson aus den Gefahren des täglichen Lebens […]

[3]       Der Sohn der Klägerin besuchte am Abend des 28. Juli 2018 ein privates Fest, das auf einer Wiese stattfand. Dort konsumierte er in einem Zeitraum von ungefähr vier bis fünf Stunden Alkohol in einer nicht exakt feststellbaren Menge, aber jedenfalls mehrere Flaschen Bier.

[4]          Als er gegen 00:25 Uhr mit seinem Fahrrad nach Hause fuhr, wobei er eine Wegstrecke von mehreren Kilometern zurücklegen hätte müssen, kam es zu einem Unfall. Zum Zeitpunkt des Unfalls führte er auf seinem Fahrrad zwei Flaschen Bier mit, davon eine im Flaschenhalter des Fahrrads. An der außerhalb des Ortsgebiets liegenden Unfallstelle besteht keine Straßenbeleuchtung. Der Kläger hatte an seinem Fahrrad kein Licht eingeschaltet. Beidseits der Fahrbahn der Landesstraße verlaufen Radwege, die von der Fahrbahn durch Grünstreifen getrennt sind.

[5]       Der Sohn der Klägerin benützte nicht den Radweg, sondern die Fahrbahn. Er fuhr mit einem Abstand von ungefähr 1,5 m vom rechten Fahrbahnrand. Seine Unfallgegnerin näherte sich ihm von hinten mit ihrem Moped. Sie veränderte ihre Fahrlinie nach links, weil sie beabsichtigte, den Radfahrer mit einem seitlichen Abstand von ungefähr 2 m zu überholen. Während des Überholvorgangs wechselte der Sohn der Klägerin mit seinem Fahrrad plötzlich die Fahrlinie und schwenkte nach links, so als ob er die Fahrbahn überqueren wolle. Dadurch kollidierte er seitlich mit dem Moped. Der Sohn der Klägerin hatte vor Änderung seiner Fahrtrichtung keinerlei Handzeichen gegeben. Sein Fahrtrichtungswechsel geschah derart unvermittelt, dass die Mopedlenkerin keinerlei Reaktion zur Vermeidung des Unfalls mehr setzen konnte. Bei der Kollision kamen beide Unfallbeteiligten zu Sturz und verletzten sich.

[6]          Beim Sohn der Klägerin wurde um 01:00 Uhr ein Alkomattest durchgeführt. Dieser ergab eine Alkoholkonzentration in der Atemluft von 0,76 mg/l.

[7]       Das Fehlverhalten des Sohnes der Klägerin im Straßenverkehr steht in ursächlichem Zusammenhang mit der Beeinträchtigung seiner Fahrtüchtigkeit durch die Alkoholisierung.

[8]       Die Klägerin begehrt die Feststellung der Versicherungsdeckung und brachte – soweit für das Revisionsverfahren relevant – vor, es habe sich eine Gefahr des täglichen Lebens verwirklicht. Ihr Sohn habe den Unfall nicht bedingt vorsätzlich verursacht und auch keine bestimmte Schadenszufügung in Kauf genommen.

[9]          Die Beklagte beantragt Klagsabweisung und wendet – soweit für das Revisionsverfahren relevant – ein, der Sohn der Klägerin hätte unter den gegebenen Bedingungen sein Fahrrad nicht benützen dürfen. Er habe sich mehrfach grob rechtswidrig verhalten. Versichert seien nur die Gefahren des täglichen Lebens, das Schadensereignis sei daher nicht vom Versicherungsschutz umfasst. Die Beklagte sei daher leistungsfrei.

[10]       Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Sohn der Klägerin habe die hohe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erkannt und sich dennoch dazu entschieden, mit dem Fahrrad zum Fest zu fahren. Er habe auch keine Vorsorge für den Fall getroffen, dass er alkoholisiert nicht mehr zum Radfahren in der Lage sein werde.

[11]       Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung ab und gab dem Klagebegehren statt. Das Verhalten des Sohnes der Klägerin, sich mit seinem unbeleuchteten Fahrrad alkoholisiert auf den Heimweg zu machen, stelle keinen von vornherein geplanten Bosheitsakt dar und sei nach den getroffenen Feststellungen auch nicht mit dem Vorsatz erfolgt, andere zu schädigen. Es liege vielmehr eine Situation vor, in der der Sohn der Klägerin aus Unvorsichtigkeit eine außergewöhnliche Gefahrenlage geschaffen bzw sich in einer solchen falsch verhalten habe. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe sich daher eine Gefahr des täglichen Lebens verwirklicht.

[12]       Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nachträglich mit der Begründung zu, dass die Frage, ob sich eine Gefahr des täglichen Lebens im Zusammenhang mit einer Alkoholisierung im Straßenverkehr verwirklicht habe, über den Einzelfall hinaus Bedeutung habe.

[13]           Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[14]           Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[15]           Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[16]           1. Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind. In Art 7.1 ABWH/RV 06.2016 wird eine primäre Risikoumschreibung dahin vorgenommen, dass der Risikobereich „Gefahren des täglichen Lebens“ unter Versicherungsschutz gestellt wird (vgl 7 Ob 145/17z; 7 Ob 53/21a).

[17]           2. Der versicherungsrechtliche Begriff der „Gefahr des täglichen Lebens“ ist nach ständiger Rechtsprechung so auszulegen, dass davon jene Gefahren, mit denen üblicherweise im Privatleben eines Menschen gerechnet werden muss, umfasst sind (RS0081099). Die Gefahr, haftpflichtig zu werden, stellt im Leben eines Durchschnittsmenschen nach wie vor eine Ausnahme dar. Deshalb will die Privathaftpflichtversicherung prinzipiell Deckung auch für außergewöhnliche Situationen schaffen, in die auch ein Durchschnittsmensch hineingeraten kann. Freilich sind damit nicht alle ungewöhnlichen und gefährlichen Tätigkeiten abgedeckt (RS0081276). Für das Vorliegen einer Gefahr des täglichen Lebens ist nicht erforderlich, dass sie geradezu täglich auftritt. Vielmehr genügt es, wenn die Gefahr erfahrungsgemäß im normalen Lebensverlauf immer wieder, sei es auch seltener, eintritt. Es darf sich nur nicht um eine ungewöhnliche Gefahr handeln, wobei Rechtswidrigkeit oder Sorglosigkeit eines Vorhabens den daraus entspringenden Gefahren noch nicht die Qualifikation als solche des täglichen Lebens nehmen. Voraussetzung für einen aus der Gefahr des täglichen Lebens verursachten Schadenfall ist nämlich eine Fehlleistung oder eine schuldhafte Unterlassung des Versicherungsnehmers (RS0081070). Allerdings hat der Fachsenat auch schon in Fällen (bloß) fahrlässiger Handlungen die Verneinung des Vorliegens einer Gefahr des täglichen Lebens durch das Berufungsgericht als nicht korrekturbedürftig erachtet (etwa 7 Ob 47/21v [Powerturn mit Motorboot]; 7 Ob 126/17f [unvorsichtige Schweißarbeiten]; 7 Ob 13/18i [Verletzung bei einer Wasserbombenschlacht]).

[18]           3. Der Sohn der Klägerin fuhr hier mit seinem Fahrrad stark alkoholisiert mit mindestens 1,5 ‰ und überdies ohne Licht in der Nacht trotz Vorhandenseins eines von der Fahrbahn abgegrenzten Fahrradwegs auf einer unbeleuchteten Landesstraße und schwenkte ohne Handzeichen plötzlich nach links, wodurch es zum Unfall mit der überholenden Mopedlenkerin kam. Der Versicherte schuf damit eine besondere Gefahrensituation, die nicht nur eine außergewöhnliche Gefahr für ihn selbst, sondern vor allem auch für andere Verkehrsteilnehmer mit sich brachte, ohne dass dafür die geringste Notwendigkeit bestand. Eine solche Situation tritt erfahrungsgemäß auch im normalen Lebenslauf nicht immer wieder ein. Im vorliegenden Fall hat sich daher keine Gefahr des täglichen Lebens verwirklicht.

[19]     4. Der Revision ist somit Folge zu geben und die klagsabweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen. Auf die weiteren in der Revision vorgetragenen Argumente ist nicht mehr einzugehen.

[20]     5. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens beruht auf §§ 41 und 50 ZPO.

Textnummer

E134962

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00007.22P.0428.000

Im RIS seit

03.06.2022

Zuletzt aktualisiert am

03.06.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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