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E1N;Norm
11994N/TTE/02 EU-Beitrittsvertrag Vertrag Art2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Zeizinger, Dr. Robl, Dr. Rigler und Dr. Handstanger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Rutter, über die Beschwerde der D in R, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in B, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 8. September 1994, Zl. 100.080/6-III/11/94, betreffend Versagung einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) vom 8. September 1994 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin, einer türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gemäß § 5 Abs. 1 AufG iVm § 10 Abs. 1 Z. 4 und 6 FrG abgewiesen.
Die Beschwerdeführerin sei seit 26. April 1993 in Österreich polizeilich gemeldet, dürfte sich jedoch schon längere Zeit davor im Bundesgebiet aufgehalten haben, weil sie am 1. April 1993 ein Kind zur Welt gebracht habe und in ihrem Reisepaß ein Ausreisestempel vom 8. Jänner 1993 ersichtlich sei. Bei ihrer Einreise sei sie nicht im Besitz eines erforderlichen Sichtvermerkes bzw. einer Aufenthaltsbewilligung gewesen. Da die Beschwerdeführerin unter Mißachtung des § 5 FrG in das Bundesgebiet eingereist sei und sich rechtswidrig im Inland aufhalte, stelle ihr Aufenthalt eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit dar. Es seien daher die gemäß § 5 Abs. 1 AufG "direkte Anwendung" findenden Tatbestände des § 10 Abs. 1 Z. 4 und Z. 6 FrG erfüllt.
Die Beschwerdeführerin habe "unabsprechbare" private und familiäre Bindungen in Österreich, da ihr Gatte und ihr Kind hier lebten. Die Versagung eines Sichtvermerkes gemäß § 10 Abs. 1 Z. 6 FrG stelle einen zulässigen Eingriff in das Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 MRK dar und erübrige sich daher jedes weitere Eingehen auf die privaten und familiären Bindungen der Beschwerdeführerin.
2. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte die Behandlung der Beschwerde ab (Beschluß vom 28. November 1994, B 2158/94-5) und trat sie über nachträglich gestellten Antrag der Beschwerdeführerin dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab (Beschluß vom 2. März 1995, B 2158/94-8).
Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren begehrt die Beschwerdeführerin die Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die Beschwerdeführerin vermeint, der noch vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union erlassene angefochtene Bescheid widerspreche dem Assoziierungsabkommen EWG-Türkei vom 12. September 1963 und dem Beschluß Nr. 1/80 des durch das Abkommen geschaffenen Assoziationsrates vom 19. September 1980. Es bestehe "nicht der geringste Zweifel, daß nach Europarecht (wie im übrigen auch nach der Straßburger Menschenrechtsrechtsprechung) die Tatsachen- und Rechtslage zum Zeitpunkt der höchstgerichtlichen Entscheidung, hier also der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes, und nicht die Tatsachen- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des Letztbescheides maßgeblich ist".
Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seinem Erkenntnis vom 18. Mai 1995, Zl. 95/18/0439, auf welches gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, zu einem inhaltlich gleichen Vorbringen desselben Beschwerdeführers mit ausführlicher Begründung dargestellt, daß Änderungen der Rechtslage nach Erlassung des angefochtenen Bescheides - somit auch das genannte Assoziierungsabkommen und der Beschluß des Assoziationsrates, sofern diese für Österreich mit 1. Jänner 1995 unmittelbar wirksam geworden sind - als Prüfungsmaßstab für den Verwaltungsgerichtshof außer Betracht zu bleiben haben.
2. Der Beschwerde ist aus folgenden Gründen dennoch Erfolg beschieden:
Gemäß § 5 Abs. 1 AufG darf eine Bewilligung Fremden (u.a.) nicht erteilt werden, wenn ein Sichtvermerksversagungsgrund (§ 10 Abs. 1 FrG) vorliegt.
Die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 10 Abs. 1 Z. 4 und Z. 6 FrG lauten wie folgt:
"Die Erteilung eines Sichtvermerkes ist zu versagen, wenn
...
4. der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde;
...
6. der Sichtvermerk zeitlich an einen Touristensichtvermerk anschließen oder nach sichtvermerksfreier Einreise (§ 12 Aufenthaltsgesetz oder § 14) erteilt werden soll;
... ."
3. Die belangte Behörde vertrat die Ansicht, daß der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z. 6 FrG erfüllt sei, weil die Beschwerdeführerin ohne den erforderlichen Sichtvermerk in das Bundesgebiet eingereist sei. Damit verkannte sie die Rechtslage. Aus dem oben wiedergegebenen Wortlaut des § 10 Abs. 1 Z. 6 FrG ergibt sich eindeutig, daß dieser Tatbestand nur bei Vorliegen einer Ausnahme von der Sichtvermerkspflicht gemäß § 12 AufG oder § 14 FrG (einer auf Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Verordnung bzw. getroffenen Vereinbarung) erfüllt ist. Dies trifft auf die Beschwerdeführerin nicht zu (vgl. insbesondere die Kundmachung des Bundeskanzlers vom 24. April 1990 betreffend die Verlängerung der teilweisen Aufhebung des Abkommens zwischen der österreichischen Bundesregierung und der türkischen Regierung über die Aufhebung des Sichtvermerkszwanges, BGBl. Nr. 222/1990). Bei - hier unbestritten vorliegender - Einreise ohne den erforderlichen Sichtvermerk ist der Tatbestand hingegen nicht erfüllt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 11. April 1996, Zl. 95/18/0171).
4. Die belangte Behörde hat ausgeführt, daß der illegale Aufenthalt der Beschwerdeführerin eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit bedeute und daher (auch) der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z. 4 FrG erfüllt sei. Sie hat auch dargestellt, daß die Beschwerdeführerin private und familiäre Beziehungen in Österreich habe. Die bei Anwendung des § 10 Abs. 1 Z. 4 FrG erforderliche Interessenabwägung (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. November 1995, Zl. 95/18/1120) hat sie jedoch aufgrund ihrer - wie oben II.3. dargetan - auf einer Verkennung der Rechtslage beruhenden Ansicht, der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z. 6 FrG sei erfüllt, nicht durchgeführt.
5. Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 1 Z. 2 VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2Beschwerdepunkt Beschwerdebegehren Rechtslage Rechtsgrundlage RechtsquellenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1996:1995180440.X00Im RIS seit
11.07.2001Zuletzt aktualisiert am
08.09.2015