TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/24 G363/2020

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.06.2021
beobachten
merken

Index

41/01 Sicherheitsrecht

Norm

B-VG Art130 Abs1 Z1
B-VG Art136 Abs2
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
SicherheitspolizeiG §31, §89 Abs2
Richtlinien-Verordnung BGBl 266/1993 idF BGBl II 155/2012
VwGVG §7 Abs4, §53
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit der sechswöchigen Frist zur Einbringung von Beschwerden wegen Verletzung der Richtlinien-Verordnung für das Einschreiten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Hinblick auf Art136 Abs2 B VG; Frist für Richtlinienbeschwerden nicht an der vierwöchigen Frist des VwGVG für Verhaltensbeschwerden zu messen

Spruch

Der Antrag wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 lita B-VG gestützten Antrag begehrt das Verwaltungsgericht Wien, die Wortfolge "binnen sechs Wochen" in §89 Abs2 SPG, BGBl 566/1991, idF BGBl I 161/2013 als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar (die angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben):

1. §89 des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz – SPG), BGBl 566/1991, idF BGBl I 161/2013 lautet wie folgt:

"Beschwerden wegen Verletzung von Richtlinien für das Einschreiten

§89. (1) Insoweit mit einer Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht die Verletzung einer gemäß §31 festgelegten Richtlinie behauptet wird, hat das Landesverwaltungsgericht sie der zur Behandlung einer Aufsichtsbeschwerde in dieser Sache zuständigen Behörde zuzuleiten.

(2) Menschen, die in einer binnen sechs Wochen, wenn auch beim Landesverwaltungsgericht (Abs1), eingebrachten Aufsichtsbeschwerde behaupten, beim Einschreiten eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes, von dem sie betroffen waren, sei eine gemäß §31 erlassene Richtlinie verletzt worden, haben Anspruch darauf, daß ihnen die Dienstaufsichtsbehörde den von ihr schließlich in diesem Punkte als erwiesen angenommenen Sachverhalt mitteilt und sich hiebei zur Frage äußert, ob eine Verletzung vorliegt.

(3) Wenn dies dem Interesse des Beschwerdeführers dient, einen Vorfall zur Sprache zu bringen, kann die Dienstaufsichtsbehörde eine auf die Behauptung einer Richtlinienverletzung beschränkte Beschwerde zum Anlaß nehmen, eine außerhalb der Dienstaufsicht erfolgende Aussprache des Beschwerdeführers mit dem von der Beschwerde betroffenen Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu ermöglichen. Von einer Mitteilung (Abs2) kann insoweit Abstand genommen werden, als der Beschwerdeführer schriftlich oder niederschriftlich erklärt, klaglos gestellt worden zu sein.

(4) Jeder, dem gemäß Abs2 mitgeteilt wurde, daß die Verletzung einer Richtlinie nicht festgestellt worden sei, hat das Recht, binnen 14 Tagen die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts zu verlangen, in dessen Sprengel das Organ eingeschritten ist; dasselbe gilt, wenn eine solche Mitteilung (Abs2) nicht binnen drei Monaten nach Einbringung der Aufsichtsbeschwerde ergeht. Das Landesverwaltungsgericht hat festzustellen, ob eine Richtlinie verletzt worden ist."

2. §7 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I 33/2013, idF BGBl I 138/2017 und §53 VwGVG, BGBl I 33/2013 lauten:

"Beschwerderecht und Beschwerdefrist

§7. (1) Gegen Verfahrensanordnungen im Verwaltungsverfahren ist eine abgesonderte Beschwerde nicht zulässig. Sie können erst in der Beschwerde gegen den die Sache erledigenden Bescheid angefochten werden.

(2) Eine Beschwerde ist nicht mehr zulässig, wenn die Partei nach der Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Beschwerde verzichtet hat.

(3) Ist der Bescheid bereits einer anderen Partei zugestellt oder verkündet worden, kann die Beschwerde bereits ab dem Zeitpunkt erhoben werden, in dem der Beschwerdeführer von dem Bescheid Kenntnis erlangt hat.

(4) Die Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Bescheid einer Behörde gemäß Art130 Abs1 Z1 B-VG oder wegen Rechtswidrigkeit des Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art130 Abs2 Z1 B-VG beträgt vier Wochen. Die Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gemäß Art130 Abs1 Z2 B-VG beträgt sechs Wochen. Sie beginnt

1. in den Fällen des Art132 Abs1 Z1 B-VG dann, wenn der Bescheid dem Beschwerdeführer zugestellt wurde, mit dem Tag der Zustellung, wenn der Bescheid dem Beschwerdeführer nur mündlich verkündet wurde, mit dem Tag der Verkündung,

2. in den Fällen des Art132 Abs1 Z2 B-VG dann, wenn der Bescheid dem zuständigen Bundesminister zugestellt wurde, mit dem Tag der Zustellung, sonst mit dem Zeitpunkt, in dem der zuständige Bundesminister von dem Bescheid Kenntnis erlangt hat,

3. in den Fällen des Art132 Abs2 B-VG mit dem Zeitpunkt, in dem der Betroffene Kenntnis von der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erlangt hat, wenn er aber durch diese behindert war, von seinem Beschwerderecht Gebrauch zu machen, mit dem Wegfall dieser Behinderung, und

4. in den Fällen des Art132 Abs5 B-VG dann, wenn der Bescheid dem zur Erhebung der Beschwerde befugten Organ zugestellt wurde, mit dem Tag der Zustellung, sonst mit dem Zeitpunkt, in dem dieses Organ von dem Bescheid Kenntnis erlangt hat.

Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze

§53. Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, sind auf Verfahren über Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art130 Abs2 Z1 B-VG die Bestimmungen über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt sinngemäß anzuwenden."

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Beim Verwaltungsgericht Wien ist eine innerhalb von sechs Wochen eingebrachte Beschwerde anhängig, in der die Verletzung der Verordnung des Bundesministers für Inneres, mit der Richtlinien für das Einschreiten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erlassen werden (Richtlinien-Verordnung – RLV), BGBl 266/1993, idF BGBl II 155/2012 moniert wird. Nach Zuleitung der Beschwerde an die Landespolizeidirektion Wien gemäß §89 Abs1 SPG übermittelte diese dem Beschwerdeführer gemäß §89 Abs2 SPG eine Sachverhaltsmitteilung und äußerte sich dahingehend, dass kein Verstoß gegen die Richtlinien-Verordnung vorliege. Der Beschwerdeführer verlangte sodann binnen 14 Tagen die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien gemäß §89 Abs4 SPG.

2. Das Verwaltungsgericht Wien legt seine Bedenken wörtlich wie folgt dar (Wiedergabe ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Die verfahrensgegenständliche Richtlinienbeschwerde ist eine Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit eines Verhaltens einer Verwaltungsbehörde in Vollziehung der Gesetze ('Verhaltensbeschwerden') im Sinne des Art130 Abs2 Z1 B-VG (siehe etwa VfSlg 19.986/2015, oder VwGH vom 13.10.2015, Ra 2015/01/0166).

Gemäß Art136 Abs2 erster Satz B-VG wird das Verfahren der Verwaltungs[geri]chte (mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen) durch ein besonderes Bundesgesetz einheitlich geregelt. Der Bund hat den Ländern Gelegenheit zu geben, an der Vorbereitung solcher Gesetzesvorhaben mitzuwirken. Durch Bundes- oder Landesgesetz können Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind oder soweit das im ersten Satz genannte besondere Bundesgesetz dazu ermächtigt.

In dem auf Grundlage des Art136 Abs2 B-VG erlassenen Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG, BGBI. I Nr 122/2013, zuletzt geändert durch Bundesgesetz, BGBI. I Nr 57/2018, wird die Frist zur Erhebung einer Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art130 Abs2 Z1 B-VG mit vier Wochen festgelegt. In §89 Abs2 SPG wird die Frist zur Erhebung einer Richtlinienbeschwerde, die dann der Landespolizeidirektion Wien als Dienstaufsichtsbehörde zuzuleiten ist, mit von sechs Wochen festgelegt. Damit weicht jedoch die Frist zur Erhebung einer Richtlinienbeschwerde als Verhaltensbeschwerde an das zuständige Verwaltungsgericht von der in §7 Abs4 VwGVG festgelegten Beschwerdefrist ab.

Anhaltspunkt für eine Erforderlichkeit der abweichenden Fristenregelung in §89 Abs2 SPG von der in §7 Abs4 VwGVG festgelegten Beschwerdefrist für Verhaltensbeschwerde entsprechend Art136 Abs2 letzter Satz B-VG sind nicht ersichtlich.

Die parlamentarischen Materialien zu §89 Abs2 SPG idF des Verwaltungsgerichtsbarkeits-Anpassungsgesetz-Inneres – VwGAnpG-Inneres zeigen, dass die letztlich Gesetz gewordene Fassung des §89 Abs2 SPG auf eine Änderung im Plenum des Nationalrates zurück geht. Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage bzw zum Ausschussbericht (RV 2211 BIgNR 24. GP bzw AB 2547 BIgNR 24. GP) nehmen auf §7 Abs4 VwGVG nicht Bezug – in der Regierungsvorlage ist im Rahmen der Änderungen (unter anderem) des Sicherheitspolizeigesetzes allgemein vermerkt, dass die geänderten Bestimmungen in Anpassung an das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Ausführungsgesetz 2013, BGBI. I Nr 33/2013, erfolgen. Die Erwägungen des Nationalrates zur letztlich Gesetz gewordenen Beschlussfassung lassen sich nicht festmachen.

Das Verwaltungsgericht Wien verkennt nicht, dass die Frist zur Erhebung einer Richtlinienbeschwerde an die vormaligen Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern in §89 Abs2 SPG idF bis 31.12.2013 mit sechs Wochen bestimmt war. Die Zuständigkeit der vormaligen Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern zur Entscheidung über derartige Beschwerden stützte sich auf Art129a Abs1 Z3 B-VG idF bis 31.12.2013 ('in sonstigen Angelegenheiten, die ihnen durch die die einzelnen Gebiete der Verwaltung regelnden Bundes- oder Landesgesetze zugewiesen werden'). Das Verfahrensrecht der Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern war im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG (ArtI Abs2 lita Z2 EGVG) geregelt. Im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 idF bis 31.12.2013 waren für Beschwerden gemäß Art129a Abs1 Z3 B-VG idF bis 31.12.2013 keine einheitlichen Regelungen im Sinne des Art11 Abs2 B-VG festgelegt (sehr wohl war jedoch etwa in §67c Abs1 AVG eine Frist von sechs Wochen für 'Maßnahmenbeschwerden' gemäß Art129a Abs1 Z2 B-VG idF bis 31.12.2013 vorgesehen). Mangels Inanspruchnahme der Bedarfskompetenz zur vereinheitlichenden Regelung im Sinne des Art11 Abs2 [B-VG] verblieben folglich verfahrensbezogene Regelungen entsprechend dem Prinzip der Adhäsion an der Sachmaterie folgend für die den Unabhängigen Verwaltungssenaten gemäß Art129a Abs1 Z3 B-VG idF bis 31.12.2013 zugewiesenen Angelegenheiten bei der zuständigen Gesetzgebung – hier des Sicherheitspolizeigesetzes. Vermutlich war die ursprünglich in §89 Abs2 SPG festgelegte Beschwerdefrist für Richtlinienbeschwerden von der Intention getragen, diese an die Beschwerdefrist für Maßnahmenbeschwerden anzupassen. Der (verfassungs-) gesetzliche Rahmen hat sich jedoch in Folge der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 grundlegend geändert, was der geltende §89 Abs2 SPG im Ergebnis nicht berücksichtigt hat."

3. Die Bundesregierung hat keine Äußerung erstattet.

4. Die Partei des Verfahrens vor dem antragstellenden Verwaltungsgericht Wien hat als beteiligte Partei eine Äußerung erstattet, in der sie den geäußerten Bedenken wörtlich wie folgt entgegentritt:

"Dem Standpunkt des Verwaltungsgerichtes Wien ist entgegenzuhalten, dass bei einer systematischen Interpretation des Sicherheitspolizeigesetzes deutlich wird, dass der Gesetzgeber das Verfahren über die Richtlinienbeschwerde offenbar jenem der Maßnahmenbeschwerde nachbilden wollte. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Richtlinienbeschwerde unter einem mit einer Maßnahmenbeschwerde nicht bloß bei der Aufsichtsbehörde selbst, sondern auch gleich direkt beim Verwaltungsgericht eingebracht werden kann. Zum anderen ergibt sich dies aufgrund des Aufbaus des Sicherheitspolizeigesetzes, das in §31 SPG die Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung des Bundesministers für Inneres, mit der Richtlinien für das Einschreiten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erlassen werden (idF. Richtlinienverordnung) – bildet und in §88 SPG die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte der Länder für die Behandlung von Maßnahmenbeschwerden regelt. Die Richtlinienverordnung, sowie die Richtlinienbeschwerde als solche sind somit in das System des Sicherheitspolizeigesetzes eingebettet, das eine sechswöchige Entscheidungsfrist für Verhaltensbeschwerden vorsieht.

Dies ergibt auch bei einer lebensnahen Betrachtung durchaus Sinn, zumal ein Eingriff in ein subjektives Recht durch einen Akt unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt häufig mit einem Verstoß gegen die Richtlinienverordnung einhergeht. Das in §89 SPG vorgesehene Modell ermöglicht die Anfechtung eines rechtswidrigen, bzw nicht richtlinienkonformen Verwaltungsaktes hinsichtlich aller Aspekte im Rahmen eines parallel geführten Verfahrens. In der Praxis der Verwaltungsgerichte werden Maßnahmen- und Richtlinienbeschwerde-Verfahren, welche dieselbe Amtshandlung betreffen, in aller Regel verbunden, was der Verfahrensökonomie dient. Eine Verkürzung der Frist zur Erhebung der Richtlinienbeschwerde würde zu einem 'Auseinanderfallen' der Verfahren führen, das aus verfahrensökonomischen Gründen nicht wünschenswert sein kann.

Die von der Grundregel des §7 Abs4 VwGVG abweichende Regelung erscheint vor diesem Hintergrund erforderlich.

Darüber hinaus gestaltet sich die Aufbereitung einer Richtlinienbeschwerde in der Regel als ähnlich aufwändig, wie jene einer Maßnahmenbeschwerde, zumal wesentliche Problemstellungen in beiden Fällen vorliegen. Einerseits ist beiden Verfahren gemeinsam, dass naturgemäß keine schriftliche Entscheidung vorliegt, auf Basis derer eine Anfechtung erfolgen kann und den Betroffenen in den meisten Fällen auch kein Akt zu dem anzufechtenden Vorfall zur Verfügung steht, aus dem sich der Sachverhalt aus Sicht der belangten Behörde ergäbe. Die Beschaffung eines entsprechenden Aktes gestaltet sich in der Praxis häufig schwierig, zumal bereits die Ausforschung des belangten Organs, bzw der zugehörigen Dienststelle mit erheblich höherem Aufwand verbunden ist, als die Organisation einer Akteneinsicht bei einer bescheiderlassenden Behörde. Eine lediglich vierwöchige Frist würde zu einer unvertretbaren Einschränkung des Rechtsschutzes gegen Verstöße gegen die Richtlinienverordnung führen."

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 12.189/1989, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Im Anlassverfahren wurde beim antragstellenden Verwaltungsgericht Wien – nach Einbringung der Beschwerde binnen sechs Wochen, ihrer Weiterleitung an die Dienstaufsichtsbehörde und einer (abschlägigen) Mitteilung der Dienstaufsichtsbehörde – ein Entscheidungsverlangen nach §89 Abs4 SPG gestellt. Da die Einhaltung der sechswöchigen Frist des §89 Abs2 SPG eine Voraussetzung für die Sachentscheidung bildet (siehe VwGH 29.1.1997, 96/01/0001, Hauer/Keplinger, Sicherheitspolizeigesetz, 4. Auflage, 2011, §89 Anm. 13, und Wiederin, Sicherheitspolizeirecht, 1998, Rz 755), hat es die angefochtene Wortfolge "binnen sechs Wochen" im Anlassverfahren anzuwenden.

Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

2.2. Das Verwaltungsgericht Wien hegt auf das Wesentliche zusammengefasst das Bedenken, dass die in §89 Abs2 SPG normierte sechswöchige Frist zur Erhebung einer Richtlinienbeschwerde von der in §7 Abs4 VwGVG normierten vierwöchigen Beschwerdefrist für Verhaltensbeschwerden abweiche, ohne dass die Abweichung gemäß Art136 Abs2 dritter Satz B-VG zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sei. Das Verwaltungsgericht Wien geht demnach davon aus, dass die sechswöchige Frist in §89 Abs2 SPG an der Frist für Verhaltensbeschwerden nach §7 Abs4 VwGVG zu messen ist. Damit ist es jedoch nicht im Recht. Die Richtlinienbeschwerde ist zwar eine Verhaltensbeschwerde nach Art130 Abs2 Z1 B-VG (VfSlg 19.986/2015), die Frist des §89 Abs2 SPG ist jedoch keine Frist einer Verhaltensbeschwerde. Dies aus folgenden Gründen:

2.3. Die Richtlinienbeschwerde eröffnet dem Betroffenen eine besondere Rechtsschutzmöglichkeit, die Verletzung von gemäß §31 SPG erlassenen Richtlinien für das Einschreiten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in einem zweistufigen Verfahren geltend zu machen. Eingeleitet wird das Verfahren durch eine Beschwerde, die der von einer Richtlinienverletzung Betroffene binnen sechs Wochen alternativ beim Landesverwaltungsgericht oder direkt bei der Dienstaufsichtsbehörde einzubringen hat. Wird sie beim Landesverwaltungsgericht eingebracht, muss dieses vorerst die Beschwerde der Dienstaufsichtsbehörde zur weiteren Behandlung als Aufsichtsbeschwerde zuleiten; insoweit liegt zu diesem Zeitpunkt auch keine Entscheidungspflicht des Landesverwaltungsgerichtes vor (vgl in diesem Sinne Wiederin, aaO, Rz 748, siehe auch VwGH 9.9.2003, 2002/01/0517). Die Dienstaufsichtsbehörde muss sodann spätestens binnen drei Monaten mitteilen, ob ihrer Ansicht nach eine Richtlinienverletzung vorliegt. Gesteht die Dienstaufsichtsbehörde eine Verletzung von Richtlinien zu oder erklärt sich der Betroffene für klaglos gestellt (§89 Abs3 SPG), ist das Verfahren beendet (vgl Wiederin, aaO, Rz 753). Teilt sie hingegen dem Betroffenen mit, dass keine Verletzung einer Richtlinie festgestellt werden konnte, oder erfolgt innerhalb der Frist von drei Monaten keine Mitteilung, kann der Betroffene (Beschwerdeführer) binnen zwei Wochen (im Fall der Säumnis: unbefristet nach VwSlg 16.689 A/2005 und Hauer/Keplinger, Sicherheitspolizeigesetz, 4. Auflage, 2011, §89 Anm. 13) eine Entscheidung über seine Beschwerde vom Landesverwaltungsgericht verlangen. Prüfungsgegenstand vor dem Landesverwaltungsgericht ist allein das Organverhalten, nicht die aufsichtsbehördliche Mitteilung über das Nichtvorliegen einer Richtlinienverletzung (Hauer/Keplinger, aaO, §89 Anm. 14; Wiederin, aaO, Rz 751).

Das Verfahren über eine Richtlinienbeschwerde ist demnach so konzipiert, dass das Landesverwaltungsgericht zunächst nur die Verpflichtung trifft, die bei ihr eingebrachte Beschwerde der zuständigen Aufsichtsbehörde zuzuleiten, eine Zuständigkeit zur Entscheidung über die Richtlinienverletzung kommt ihr in diesem Verfahrensstadium nicht zu (VfSlg 19.986/2015). Erst ab einem Entscheidungsverlangen nach §89 Abs4 SPG trifft es die Pflicht zur Entscheidung, ob das Verhalten des Organes des öffentlichen Sicherheitsdienstes eine Richtlinie verletzt hat. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber des Sicherheitspolizeigesetzes mit der Frist des §89 Abs2 SPG es dem Betroffenen (nur) ermöglichen bzw erleichtern wollte, eine Beschwerde über eine Richtlinienverletzung gemeinsam mit einer Beschwerde über die Ausübung unmittelbarer sicherheitsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (§88 Abs1 und 4 SPG) zu verfassen und die Richtlinienbeschwerde unter einem mit der Beschwerde über die Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt beim Landesverwaltungsgericht einzubringen. Es ist verfassungsrechtlich zulässig, wenn der Gesetzgeber wie hier für ein Verfahren, das dem Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht vorgeschaltet ist, nicht die Frist für Verhaltensbeschwerden gemäß §7 Abs4 VwGVG vorsieht. Die Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien treffen daher nicht zu.

V. Ergebnis

1. Die ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "binnen sechs Wochen" in §89 Abs2 SPG erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Der Antrag ist daher abzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Sicherheitspolizei, Beschwerdefrist, VfGH / Gerichtsantrag, Rechtspolitik, Fristen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:G363.2020

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten