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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §18 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des H H in K, vertreten durch Mag. Michael Hirm, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herbertstraße 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Juni 2020, L512 2151344-1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Asylgesetz 2005 betrifft.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Volksrepublik Bangladesch, stellte am 12. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Diesen Antrag begründete er im Wesentlichen damit, dass er von seiner Verwandtschaft vertrieben und mit dem Tod bedroht worden sei, damit diese an sein Erbe gelangen könne. Er habe auch Probleme als einfaches Mitglied der oppositionellen BNP gehabt.
2 Mit Bescheid vom 13. März 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend erachtete es das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers aus näher dargestellten Erwägungen als unglaubwürdig. Es könne daher nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber in seiner Heimat seitens Privatpersonen bzw. seiner Verwandtschaft bedroht bzw. verfolgt werde, aufgrund seiner politischen Mitgliedschaft bei der BNP in Bangladesch einer Verfolgung von Awami League Mitgliedern, staatlichen Stellen oder Privatpersonen ausgesetzt sei oder dass er im Falle seiner Rückkehr in eine lebens- oder existenzbedrohende Notlage gerate. Der Beschwerde gegen die vollumfängliche Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz sei daher nicht Folge zu geben.
5 Zur Situation des Revisionswerbers in Österreich stellte das BVwG fest, dass dieser sein künftiges Leben in Österreich gestalten möchte und mehrere Deutschkurse besucht habe, ohne jedoch bislang eine Prüfung abzulegen. Er habe zunächst für ca. 15 Monate ab seiner Antragstellung Leistungen aus der Grundversorgung bezogen, seither jedoch keine mehr. Er sei als Küchenhilfe beschäftigt gewesen, nun als Zeitungsverteiler (unter falschem Namen) tätig und verfüge über Arbeitsplatzzusagen. Er sei Mitglied des Roten Kreuzes und arbeite dort als freiwilliger Mitarbeiter. Der Revisionswerber zeige Interesse an der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, sei jedoch kein Mitglied. Mit Bekannten pakistanischer Herkunft gehe er gerne spazieren, habe ansonsten aber keine Freunde in Österreich.
6 Der Revisionswerber habe eine Lebensgefährtin bulgarischer Staatsangehörigkeit, die er in Griechenland kennengelernt habe. Als er nach Österreich weitergereist sei, sei die Lebensgefährtin nach Bulgarien zurückgekehrt. Im Jahr 2019 sei die Lebensgefährtin nach Österreich gekommen und seit 8. Oktober 2019 an der Adresse des Revisionswerbers gemeldet. Sie arbeite ebenfalls als Zeitungszustellerin. Der Revisionswerber habe seine Lebensgefährtin am 13. Oktober 2019 nach islamischem Ritus in Österreich geheiratet, sie beabsichtigten auch kirchlich zu heiraten. Der Revisionswerber lebe mit seiner Lebensgefährtin in einer gemeinsamen Mietwohnung, für deren Miete er aufkomme. Der Lebensunterhalt werde vom Revisionswerber und seiner Lebensgefährtin gemeinsam bestritten.
7 In der rechtlichen Beurteilung erwog das BVwG zur Rechtfertigung des Eingriffs in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) zunächst, dass das Eingehen der festgestellten Lebensgemeinschaft zu einem Zeitpunkt erfolgt sei, in welchem dem Revisionswerber die Ungewissheit seines weiteren Aufenthalts bewusst sein habe müssen. Zu diesem Zeitpunkt sei sein Antrag auf internationalen Schutz bereits mit Bescheid der belangten Behörde abgewiesen worden. Auch der Lebensgefährtin habe im Zeitpunkt der Heirat nach muslimischen Ritus bewusst sein müssen, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers als Asylwerber ungewiss sei. Die Begründung familiärer Beziehungen zu einem Zeitpunkt, zu dem der Fremde nicht mit einem weiteren Verbleib im Inland rechnen konnte, führe nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu einer wesentlichen Minderung der in die Interessenabwägung einzubeziehenden persönlichen Interessen des Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet.
8 Der Revisionswerber lebe in Österreich mit seiner Lebensgefährtin erst seit Oktober 2019 zusammen; angesichts dieses relativ kurzen Zusammenlebens sei noch nicht von einer besonders nachhaltigen Beziehung auszugehen, auch wenn er mit seiner Lebensgefährtin in Griechenland bereits zusammengelebt habe. Zudem sei der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht in der Lage gewesen, den Namen seiner Lebensgefährtin richtig zu nennen und habe ihr Alter und ihren Geburtstag nicht gewusst. Sein Vorbringen, wonach er ein Jahr lang mit ihr in Griechenland zusammengewohnt habe, decke sich nicht mit seinen Ausführungen in der Erstbefragung, wonach er zwei bis drei Monate an verschiedenen Orten in Griechenland gelebt habe. Der Revisionswerber erwecke somit den Anschein, die Beziehung lediglich aus asyltaktischen Gründen eingegangen zu sein.
9 Unter Einbeziehung der Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich sowie der weiteren diesbezüglich festgestellten Umstände komme den persönlichen Interessen des Revisionswerbers an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet gesamtbetrachtend vor dem Hintergrund näher dargestellter Judikatur kein allzu großes Gewicht zu, zumal die Schutzwürdigkeit seines Privat- und Familienlebens in Österreich aufgrund des Umstandes, dass er seinen Aufenthalt überwiegend auf einen im Ergebnis nicht berechtigten Asylantrag gestützt habe, wesentlich gemindert werde. Es sei im Ergebnis davon auszugehen, dass die näher dargestellten öffentlichen Interessen an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie an einem geordneten Zuwanderungswesen im vorliegenden Fall schwerer wögen als die familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 sei zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG im Sinne des Art. 8 EMRK daher nicht geboten, sodass auch insofern die Beschwerde abzuweisen sei.
10 Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zur teilweisen Zurückweisung der Revision:
11 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
12 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Gemäß § 34 Abs. 3 VwGG ist ein solcher Beschluss in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
13 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
14 Soweit das angefochtene Erkenntnis die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz betrifft, begründet die Revision ihre Zulässigkeit damit, dass das BVwG nicht alle Erkenntnisquellen ausgeschöpft habe und nur aus diesem Grund zum Ergebnis gekommen sei, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Revisionswerber nicht einer Verfolgung durch seine Verwandtschaft, Mitgliedern der Awami League oder anderen Privatpersonen oder staatlichen Stellen ausgesetzt sei oder im Falle der Rückkehr in eine lebens- oder existenzbedrohende Notlage geraten würde. Diesen Fragen hätte aber der Vertrauensanwalt einer österreichischen Vertretungsbehörde vor Ort nachgehen können.
15 Dieses Vorbringen kann schon deshalb nicht zur Zulässigkeit der Revision führen, weil nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein allgemeines Recht auf eine fallbezogene Überprüfung des Vorbringens des Asylwerbers durch Recherche im Herkunftsstaat nicht besteht (vgl. VwGH 21.12.2020, Ra 2020/14/0518, mwN; weiters eingehend zur Einholung von Erkundigungen durch Vertrauensanwälte und der Unzulässigkeit von Beweisanträgen eines Asylwerbers, bestimmte Auskunftspersonen im Herkunftsstaat durch eine Vertrauensperson befragen zu lassen, VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100 bis 0101).
16 Im Übrigen zeigt der Revisionswerber auch nicht die Relevanz des damit behaupteten Verfahrensmangels auf, weil nicht dargelegt wird, welche Tatsachenfeststellungen auf das Ergebnis der vermissten Erhebungen gegründet hätten werden können (vgl. zu diesem Erfordernis VwGH 13.1.2022, Ra 2021/14/0386 bis 0390, mwN).
17 Soweit in diesem Zusammenhang gerügt wird, das BVwG hätte sich bei der Beurteilung einer vom Revisionswerber vorgelegten Mitgliedsbestätigung nicht lediglich auf Länderberichte stützen dürfen, wonach echte Dokumente unwahren Inhalts und Gefälligkeitsbescheinigungen gegen Zahlung erhältlich seien, ohne diese Urkunde (etwa durch einen Vertrauensanwalt) auf ihre Echtheit und Richtigkeit zu überprüfen, ist darauf zu verweisen, dass sich das BVwG bei der Beurteilung der Unrichtigkeit dieser Bestätigung primär darauf gestützt hat, dass die darin bestätigten angeblichen Verfolgungshandlungen (unberechtigte Gerichtsverfahren) vom Revisionswerber selbst auch auf konkrete Nachfrage nicht geschildert worden seien.
18 Somit werden in der Zulässigkeitsbegründung der Revision zur Abweisung der Beschwerde gegen die Nichterteilung von Asyl und subsidiären Schutz keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Das gilt auch für die Versagung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, zu der kein Vorbringen erstattet wurde. Die Revision war daher in diesem Umfang gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.
Zur Aufhebung infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften:
19 Zulässig und begründet ist die Revision jedoch soweit, als sie sich gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden weiteren Aussprüche richtet.
20 Die Revision begründet ihre Zulässigkeit diesbezüglich damit, dass aufgrund des Unterbleibens der Vernehmung der Lebensgefährtin des Revisionswerbers die Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK nicht auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt sei. Die Lebensgefährtin hätte insbesondere bestätigen können, dass sie mit dem Revisionswerber ein intensives Familienleben führe und sie bereits seit über fünf Jahren ein Paar seien.
21 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 3.9.2021, Ra 2020/14/0282, mwN).
22 In diesem Zusammenhang ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, nach der eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist. Es kommt daher darauf an, ob die vom Bundesverwaltungsgericht nach § 9 BFA-VG vorgenommene Interessenabwägung im Ergebnis vertretbar war und keinen maßgeblichen Begründungsmangel erkennen lässt; trifft dies zu, so liegt nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vor (vgl. VwGH 20.10.2021, Ra 2021/14/0283, mwN).
23 Das BVwG hat festgestellt, dass der Revisionswerber in Österreich in einer aufrechten Lebensgemeinschaft mit einer Unionsbürgerin lebt.
24 Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen („marriage-based relationships“) beschränkt, sondern erfasst auch andere faktische Familienbindungen („de facto family ties“), bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. VwGH 29.5.2020, Ra 2020/14/0191, mwN).
25 Eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, wird in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug der Fall ist (vgl. VwGH 21.2.2022, Ra 2021/14/0335, mwN). Anhaltspunkte für derartige Umstände sind dem Erkenntnis allerdings nicht zu entnehmen.
26 Das Verwaltungsgericht hat sich vielmehr - offenbar mit Blick auf § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG - entscheidend darauf gestützt, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dann, wenn familiäre Beziehungen zu einem Zeitpunkt begründet werden, zu dem der Fremde nicht mit einem weiteren Verbleib im Inland rechnen konnte, die aus dieser Beziehung abzuleitenden persönlichen Interessen des Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet eine wesentliche, die Interessensabwägung nachteilig beeinflussende Minderung erfahren (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271; in diesem Sinne auch VwGH 21.2.2022, Ra 2021/14/0335, mwN).
27 Dies setzt aber voraus, dass die Begründung der familiären Beziehung des Revisionswerbers zu seiner Lebensgefährtin erst erfolgte, als sie im Jahr 2019 nach Österreich kam und mit dem Revisionswerber zusammenzog. Eine nachvollziehbare Begründung für diese Annahme ist dem Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen, wenn es zugleich auch feststellt, dass die beiden sich in Griechenland (vor der Einreise des Revisionswerbers nach Österreich und der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz) kennengelernt und dort zusammengewohnt haben (wobei des BVwG die Dauer dieses Zusammenwohnens - offenbar wegen divergierender Angaben des Revisionswerbers - nicht feststellte).
28 Darüber hinaus führt das BVwG (erst) in der rechtlichen Beurteilung aus, dass der Revisionswerber den Anschein erwecke, die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin nur aus asyltaktischen Gründen eingegangen zu sein, wobei es sich vor allem auf die Unkenntnis des Revisionswerbers über den genauen Namen, das Alter und den Geburtstag der Lebensgefährtin stützt.
29 Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Ermittlungspflicht von Amts wegen weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn die Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 7.3.2022, Ra 2022/14/0036, mwN).
30 Durch die Unterlassung der - naheliegenden - Vernehmung der Lebensgefährtin des Revisionswerbers, mit der nach dem Revisionsvorbringen die oben aufgezeigten Unklarheiten über den Beginn der Beziehung und deren Ausgestaltung ausgeräumt hätten werden können, ist dem BVwG im konkreten eine solche grob fehlerhafte Beurteilung unterlaufen. Eine Auswirkung dieses Verfahrensfehlers auf das Verfahrensergebnis kann im Hinblick auf die darstellte Judikatur zur Berücksichtigung des Familienlebens im Rahmen der Rückkehrentscheidung auch nicht ausgeschlossen werden.
31 Auf Basis der erweiterten Beweisgrundlage wird das BVwG im fortgesetzten Verfahren klare Feststellungen zur Beziehung des Revisionswerbers zu seiner Lebensgefährtin sowie - was bisher noch völlig unbehandelt geblieben ist - zu den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Familienleben zu treffen haben, die dann der Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG zu Grunde gelegt werden können.
32 Die mit dem angefochtenen Erkenntnis erfolgte Abweisung der Beschwerde in Bezug auf die Rückkehrentscheidung und die rechtlich darauf aufbauenden Spruchpunkte des Bescheids der belangten Behörde kann auf Grund der aufgezeigten Verfahrensfehler keinen Bestand haben. Das angefochtene Erkenntnis war daher im bezeichneten Umfang in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
33 Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und 3 VwGG abgesehen werden.
34 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 28. April 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020140303.L00Im RIS seit
30.05.2022Zuletzt aktualisiert am
21.06.2022