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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §37Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Juli 2021, L515 2113549-2/21E und L515 2113547-2/20E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. T K, und 2. A K, letztere vertreten durch Armine Petrosyan als gesetzliche Vertreterin, alle vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Erkenntnisse werden im Umfang ihrer Anfechtung, sohin in den Spruchteilen der Spruchpunkte 4.) A) und 5.) A), mit dem die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Erstmitbeteiligten und die Zweitmitbeteiligte für vorübergehend unzulässig erklärt wurde, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Erstmitbeteiligte und die minderjährige Zweitmitbeteiligte sind armenische Staatsangehörige. Sie stellten (zusammen mit ihren Eltern und ihrem Großvater) am 1. September 2014 erstmals Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005. Diese Anträge (wie die auch der anderen Familienmitglieder) blieben im Instanzenzug erfolglos und es wurden gegen die Mitbeteiligten Rückkehrentscheidungen erlassen (sowie weitere nach dem Gesetz vorgesehene Aussprüche getätigt).
2 Am 6. April 2016 stellten die mitbeteiligten Parteien (und sämtliche weitere Familienmitglieder) erneut Anträge auf internationalen Schutz.
3 Mit Bescheiden je vom 25. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge (und die der anderen Familienmitglieder) ab, erteilte den mitbeteiligten Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte jeweils fest, dass die Abschiebung nach Armenien zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
4 Die gegen diese Bescheide - und gleichlautende Entscheidungen betreffend die übrigen Familienmitglieder - erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit den angefochtenen Erkenntnissen als unbegründet ab; hinsichtlich der Mitbeteiligten jeweils mit der Maßgabe, dass die „Rückkehrentscheidung vorübergehend unzulässig“ sei (Spruchpunkte 4.) A) und 5.) A)). Dazu führte das Bundesverwaltungsgericht mit näherer Begründung aus, dass bis zum Abschluss der schulischen Ausbildung der beiden Mitbeteiligten vorübergehend von einem Überwiegen der privaten Interessen im Licht des Art. 8 EMRK auszugehen sei. Betreffend die Eltern und den Großvater der Mitbeteiligten wurden Rückkehrentscheidungen erlassen.
5 Die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht jeweils in Bezug auf die vorübergehende Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung für zulässig. Im Übrigen erklärte es die Revision jeweils für nicht zulässig.
6 Dagegen richtet sich die vorliegende ordentliche Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit einwendet, die angefochtenen Erkenntnisse wichen im Umfang der Spruchpunkte 4.) A) und 5.) A), „soweit damit der Beschwerde stattgegeben wird und die Rückkehrentscheidungen vorübergehend für unzulässig erklärt werden“ in maßgeblicher Weise von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab.
7 Die mitbeteiligten Parteien erstatteten Revisionsbeantwortungen, in denen sie die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Amtsrevision beantragen.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich - aufgrund einer Amtsrevision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl - jüngst in seinem Erkenntnis vom 2.3.2022, Ra 2021/20/0156, Ra 2021/20/0358 bis 0361, mit einem gleichgelagerten Sachverhalt und den damit verbundenen entscheidungsrelevanten Rechtsfragen befasst. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.
11 Zusammengefasst hat der Verwaltungsgerichtshof in dieser Entscheidung mit Verweis auf näher genannte Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, dass der Besuch einer Bildungseinrichtung in Österreich als Aspekt des Privatlebens im Sinn von Art. 8 EMRK zu jenen Umständen zählen kann, die bei der Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht unverhältnismäßig ist, zu berücksichtigen sind. Im genannten Erkenntnis wurde unter Bezugnahme auf entsprechende Judikatur des EGMR aber auch betont, dass der allfällige Umstand, dass Bildungsmöglichkeiten in Österreich mit jenen im Herkunftsland nicht gleichwertig sind, bei der Abwägung nach Art. 8 EMRK nicht entscheidend ist.
12 Angewendet auf den vorliegenden Fall und der für die hier betreffend die Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG zu beurteilende Frage, lässt sich den angefochtenen Erkenntnissen das Folgende entnehmen:
13 In den Erkenntnissen nimmt das Bundesverwaltungsgericht zunächst eine weitwendige Schilderung des Verfahrensganges vor, in der es auszugsweise das schriftliche Vorbringen der mitbeteiligten Parteien (und der weiteren Familienmitglieder) sowie den wesentlichen Verlauf der Beschwerdeverhandlung wiedergibt.
14 In den mit „Feststellungen (Sachverhalt)“ überschriebenen Abschnitt der Erkenntnisse finden sich zum hier interessierenden Thema der Schulbildung der mitbeteiligten Parteien die folgenden Ausführungen:
„In Bezug auf die schulische Ausbildung der [erstmitbeteiligten Partei] und [zweitmitbeteiligten Partei] wird auf die Ausführungen in den vorgelegten und zitierten Schriftsätzen und in der Beschwerdeverhandlung verwiesen.“
15 In rechtlicher Hinsicht nimmt das Bundesverwaltungsgericht eine Abwägung der privaten Interessen der mitbeteiligten Parteien mit den öffentlichen Interessen vor, bei der es unter anderem die Art und Dauer des Aufenthalts in Österreich, die privaten Bindungen, den Grad der Integration sowie die Bindungen zum Herkunftsland berücksichtigte. In Bezug auf die schulische Ausbildung führt das Verwaltungsgericht aus, dass die mitbeteiligten Parteien einen wesentlichen, für ihr weiteres Fortkommen bedeutsamen Teil ihrer Ausbildung in Österreich absolviert hätten bzw. derzeit noch absolvierten. Ein Umstieg auf das armenische Bildungssystem sei „auf Basis des gegenwärtigen Ausbildungsstandes“ der erstmitbeteiligten Partei und der zweitmitbeteiligten Partei „schwer vorstellbar“, ein ersatzloser Abbruch der Ausbildung würde zu „weitreichenden persönlichen Konsequenzen“ führen.
16 Den die mitbeteiligten Parteien betreffenden Ausspruch, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorübergehend unzulässig sei, begründete das Bundesverwaltungsgericht wie folgt:
„Nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG liegen beträchtliche öffentliche Interessen an einer Beendigung des Aufenthaltes der [erstmitbeteiligten Partei] und [zweitmitbeteiligten Partei] im Bundesgebiet vor, umgekehrt ist in Bezug auf die [erstmitbeteiligte Partei] und [zweitmitbeteiligte Partei] festzustellen, dass eine sofortige Abschiebung, welche sie an der Beendigung ihrer fortgeschrittenen und aufgrund ihrer Lebensumstände, insbesondere ihres Alters maßgeblich wahrscheinlich in Armenien nicht oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand nachholbaren schulischen Ausbildung hindert, für sie besonders qualifizierte Folgen nach sich ziehen würde. Es ist daher davon auszugehen, dass bis zum Abschluss der schulischen Ausbildung vorübergehend von einem überwiegen der privaten Interessen im Lichte des Art. 8 EMRK auszugehen ist.
Es wird letztlich iSd bereits beschriebenen Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens seitens des erkennenden Richters davon ausgegangen, dass erhebliche öffentliche Interessen an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bestehen, im Zweifel jedoch in diesem speziellen und nicht verallgemeinerungsfähigen Fall für die [erstmitbeteiligte Partei] und [zweitmitbeteiligte Partei] jedoch davon ausgegangen, dass vorübergehend bis zur Beendigung der Schulausbildung im 2. Semester des Schuljahres 2022/2023 kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Durchführung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen besteht. Nach dem Wegfall dieser Hindernisse - welche auch in einem Abbruch der Schule oder keinem weiteren ernsthaften zu zielstrebigen Betreiben des Schulbesuchs zu sehen sein würden - wird der Sachverhalt neu zu prüfen sein.
In Bezug auf die [erstmitbeteiligte Partei] und [zweitmitbeteiligte Partei] ist somit davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidung vorübergehend bis zum 31.7.2023 nicht zulässig ist.
Da das genannte Ausreisehindernis aus gegenwärtiger Sicht nicht auf Dauer, sondern nur vorübergehend anzunehmen ist, war die Rückkehrentscheidung nicht auf Dauer, sondern lediglich vorübergehend als unzulässig zu qualifizieren.“
17 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 13.12.2021, Ra 2021/14/0370 bis 0372, mwN).
18 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel.
19 Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. zum Ganzen VwGH 3.3.2022, Ra 2022/14/0042, mwN).
20 Das Bundesverwaltungsgericht ist in den angefochtenen Erkenntnissen zwar davon ausgegangen, dass beträchtliche öffentliche Interessen an der Beendigung des Aufenthaltes der mitbeteiligten Parteien im Bundesgebiet vorlägen. Jedoch vertrat es im Hinblick auf den für den Abschluss des derzeitigen Schulbesuchs der mitbeteiligten Parteien von ihm veranschlagten Zeitraum („bis zum 31.7.2023“) die Auffassung, dass „eine sofortige Abschiebung, welche sie an der Beendigung ihrer fortgeschrittenen und aufgrund ihrer Lebensumstände, insbesondere ihres Alters maßgeblich wahrscheinlich in Armenien nicht oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand nachholbaren schulischen Ausbildung hindert“, in das den mitbeteiligten Parteien durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht unverhältnismäßig eingreife.
21 Diese Beurteilung erweist sich schon deshalb als rechtswidrig, weil es das Bundesverwaltungsgericht verabsäumt hat, ihr ausreichende Feststellungen zugrunde zu legen. Weder zur Art der Schulbildung in Österreich noch zu den näheren Umständen einer Fortsetzung im armenischen Schulsystem hat das Verwaltungsgericht entsprechende Feststellungen getroffen. Vielmehr begnügt sich das Verwaltungsgericht in Bezug auf die schulische Ausbildung der mitbeteiligten Parteien mit einem Verweis auf „die Ausführungen in den vorgelegten und zitierten Schriftsätzen und in der Beschwerdeverhandlung“. Ein derartiger Verweis kann aber die erforderlichen Feststellungen nicht ersetzen (vgl. wiederum VwGH 2.3.2022, Ra 2021/20/0156, Ra 2021/20/0358 bis 0361, mwN).
22 Die angefochtenen Erkenntnisse waren somit schon aus diesem Grund im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
23 Auf die in der Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl weiters angesprochene Frage, ob das Interesse der mitbeteiligten Parteien, ihre Ausbildung in Österreich abzuschließen, eine Verlängerung der ihr nach § 55 Abs. 2 und 3 FPG einzuräumenden Frist gerechtfertigt hätte, kommt es daher nicht mehr an.
Wien, am 4. Mai 2022
Schlagworte
Sachverhalt SachverhaltsfeststellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RO2021140004.J00Im RIS seit
30.05.2022Zuletzt aktualisiert am
21.06.2022