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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §19 Abs5Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache des A A, in G, vertreten durch Mag. Martin Sauseng, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16/II, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Oktober 2020, I407 2174131-1/41E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, gelangte im April 2015 als Zwölfjähriger gemeinsam mit seinem Vater nach Österreich. Dieser stellte für sich und den Revisionswerber am 10. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Bereits zuvor hatte der ältere Bruder des Revisionswerbers einen solchen Antrag gestellt. Die Mutter und jüngere Schwester des Revisionswerbers stellten solche Anträge später.
2 Sämtliche Familienmitglieder begründeten ihre Anträge im Wesentlichen damit, dass die Familie von einer Miliz bedroht werde, die bereits einen Bruder der Mutter ermordet und die jüngere Schwester entführt und nur gegen Lösegeldzahlung freigelassen habe. Für den Revisionswerber wurden keine eigenen, darüber hinausgehenden Gründe geltend gemacht. Im behördlichen Verfahren wurden nur die Eltern und der ältere Bruder des Revisionswerbers vernommen.
3 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Revisionswerbers mit Bescheid vom 3. Oktober 2017 vollinhaltlich ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
4 Gegen diesen Bescheid - und gleichlautende Entscheidungen betreffend die anderen Familienmitglieder - wurden Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) erhoben.
5 Im Laufe des Beschwerdeverfahrens reisten die Eltern und die jüngere Schwester des Revisionswerbers freiwillig aus Österreich aus. Daraufhin wurde mit der Obsorge für den noch minderjährigen Revisionswerber dessen in Österreich verbliebener älterer Bruder betraut.
6 Das BVwG führte am 9. März 2020 eine mündliche Verhandlung durch, in der der (noch minderjährige) Revisionswerber und seine Rechtsvertreterin, nicht aber sein älterer Bruder anwesend waren. Der Revisionswerber wurde dabei ausschließlich zum Verbleib seiner Eltern, nicht jedoch zu seinen Fluchtgründen befragt. Weiters wurde die Lebensgefährtin des Revisionswerbers als Zeugin vernommen.
7 Aus den vorgelegten Akten ergibt sich, dass am 10. Juni 2020 eine weitere mündliche Verhandlung vor dem BVwG stattfand, die zwar gemäß ihrer Ausschreibung und dem Deckblatt zur Niederschrift sowohl das Beschwerdeverfahren des älteren Bruders als auch jenes des Revisionswerbers betraf, in der aber ausschließlich der ältere Bruder - unter anderem zu den Fluchtgründen der Familie - vernommen und anschließend das dessen Beschwerde erledigende Erkenntnis verkündet wurde.
8 Das BVwG beraumte schließlich eine weitere mündliche Verhandlung im Beschwerdeverfahren des inzwischen volljährig gewordenen Revisionswerbers für den 9. Juli 2020 an. Wenige Stunden vor dem Verhandlungstermin wurde der Revisionswerber bei der Anreise zur zuständigen Außenstelle des BVwG an einem Grenzübergang zu Deutschland festgenommen, sodass diese Verhandlung kurzfristig abberaumt wurde.
9 Sodann erließ das BVwG das angefochtene Erkenntnis, mit dem die Beschwerde des Revisionswerbers abgewiesen und die Revision für nicht zulässig erklärt wurde.
10 Im Rahmen der Feststellungen hält das BVwG fest, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Revisionswerber im Irak einer persönlichen Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt gewesen sei. Seine Eltern und Schwester seien freiwillig in den Irak ausgereist und hätten sich dort für zumindest eineinhalb Jahre aufgehalten. Es sei dem Revisionswerber zumutbar, sich wieder in Bagdad niederzulassen. Er verfüge dort über ein familiäres Netzwerk.
11 Zur Beweiswürdigung wird ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers bzw. seiner Familie, wonach sie ihren Herkunftsstaat auf Grund von Bedrohungen durch Milizen in den Jahren 2006, 2009 und 2014 verlassen hätten, als nicht glaubhaft erachtet werde. So habe schon die Behörde richtigerweise gewürdigt, dass das diesbezügliche Vorbringen von Widersprüchen geprägt gewesen sei. Die Ausführungen in der gemeinsamen Beschwerde sämtlicher Familienmitglieder, wonach sich diese Ungereimtheiten durch den langen Ereigniszeitraum erklären ließen, hätten diese Widersprüche angesichts der großen Diskrepanzen nicht ausräumen können. Wesentlich sei jedoch, dass sich die Eltern und Schwester des Revisionswerbers freiwillig zurück in den Irak begeben und nachweislich in Bagdad aufgehalten hätten, womit das gesamte Vorbringen der Familie, im Irak einer Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein, ad absurdum geführt werde. In diesem Zusammenhang habe der Revisionswerber auch entgegen den vorliegenden, näher genannten Beweisen versucht, den Richter über die wahren Umstände der Ausreise seiner Eltern zu täuschen, was als weiterer Versuch gewertet werde, ein nicht bestehendes Bedrohungsszenario zu demonstrieren.
12 Auf Basis der unbestrittenen Berichtslage ergebe sich weiters eine deutliche Entspannung der Sicherheitslage und der allgemeinen Lage im Irak, die nicht mehr mit jener zum Zeitpunkt des bekämpften Bescheides vergleichbar sei, weshalb die Feststellung über die Zumutbarkeit der Niederlassung in Bagdad zu treffen gewesen sei.
13 Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
14 Die Revision erweist sich als nicht zulässig.
15 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
16 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Nach § 34 Abs. 3 VwGG ist ein solcher Beschluss in jeder Lage des Verfahren zu fassen.
17 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
18 Betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bringt die Revision zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen, weil der Revisionswerber nie selbst zum Fluchtvorbringen der Familie befragt worden sei, sodass keine vollständige Beweisaufnahme stattgefunden habe. Außerdem sei durch die Vernehmung des minderjährigen Revisionswerbers in Abwesenheit seines älteren Bruders als gesetzlichen Vertreter die Bestimmung des § 19 Abs. 5 AsylG 2005 und damit ein elementarer Grundsatz zum Schutz minderjähriger Asylwerber verletzt worden. Es werde davon ausgegangen, dass eine Verletzung dieser Bestimmung das Verfahren mit „Nichtigkeit“ belaste.
19 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt dem Vorbringen des Asylwerbers zentrale Bedeutung zu. Das geht auch aus § 18 Abs. 1 AsylG 2005 deutlich hervor, wonach das Bundesamt und das BVwG in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen (vgl. VwGH 15.10.2018, Ra 2018/14/0143 bis 0145, mwN).
20 Wenn eine Revision jedoch Verfahrensmängel - wie hier die unterbliebene Befragung des Revisionswerbers zu den Fluchtgründen - als Zulässigkeitsgrund moniert, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensmangels als erwiesen ergeben hätten. Im Fall einer unterbliebenen Vernehmung ist - um die Relevanz des behaupteten Verfahrensfehlers darzulegen - in der Revision konkret darzulegen, was die betreffende Person im Fall ihrer Vernehmung hätte aussagen können und welche anderen oder zusätzlichen Feststellungen auf Grund dessen zu treffen gewesen wären (vgl. VwGH 26.4.2021, Ra 2021/14/0004, mwN). Dem kommt der Revisionswerber mit seinen insoweit pauschal gehaltenen Ausführungen, wonach er das auch seinen Vater und älteren Bruder betreffende Fluchtvorbringen durch eigene Schilderung darlegen hätte können, nicht nach.
21 Mit dem Vorbringen, die Vernehmung des (damals) minderjährigen Revisionswerbers in der Verhandlung am 9. März 2020 sei in Abwesenheit des gesetzlichen Vertreters (nämlich seines älteren Bruders) erfolgt, macht die Revision einen Verstoß gegen § 19 Abs. 5 letzter Satz AsylG 2005 und damit wiederum einen Verfahrensmangel geltend. Auch diesbezüglich kann eine Aufhebung des Erkenntnisses nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG jedoch nur erfolgen, wenn das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschrift zu einem anderen Erkenntnis hätte kommen können, sodass die Relevanz des Verfahrensmangels in der Zulässigkeitsbegründung dazulegen ist (vgl. VwGH 15.6.2021, Ra 2020/14/0399, mwN). Ein Vorbringen dazu, zu welchen (anderen) Ergebnissen eine Vernehmung des Revisionswerbers in Anwesenheit seines gesetzlichen Vertreters geführt hätte, ist der Revision jedoch nicht zu entnehmen.
22 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang schließlich vorbringt, dass allfällige Widersprüche zwischen den Angaben der übrigen Familienmitglieder nicht vom Revisionswerber zu verantworten seien, dass unbeachtet geblieben sei, dass der Revisionswerber im gesamten behördlichen Verfahren minderjährig gewesen sei, dass der Umstand, dass die Eltern und Schwester des Revisionswerbers freiwillig in den Irak zurückgekehrt seien, „in der Beweiswürdigung auch nicht wesentlich“ und kein Indiz für eine mangelnde Verfolgungsgefahr sei, und dass die Fluchtgeschichte des Vaters und des älteren Bruders mit den Feststellungen zum Herkunftsstaat in Einklang zu bringen seien, bekämpft sie die Beweiswürdigung des BVwG, ohne jedoch eine Unvertretbarkeit aufzuzeigen (vgl. zum diesbezüglichen Beurteilungsmaßstab im Revisionsverfahren wiederum VwGH 26.4.2021, Ra 2021/14/0004, mwN).
23 Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung weiters gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und bringt dazu vor, der Revisionswerber habe seinen Herkunftsstaat als Minderjähriger und ohne Erlernung eines Berufs oder einer Berufsausübung verlassen und habe dort nur eine verheiratete Schwester, aber kein familiäres oder soziales Auffangnetz. Die allgemeine Lage im Irak (Sicherheits-, Wirtschafts- und Versorgungslage) sei im Sinne des Art. 3 EMRK als für den Revisionswerber bedrohlich zu bezeichnen.
24 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 3.7.2020, Ra 2020/14/0255, mwN). Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 7.7.2020, Ra 2020/14/0236, mwN).
25 Eine derartige Unvertretbarkeit der Beurteilung des BVwG bzw. solche exzeptionellen Umstände legt die Revision damit, dass sie bloß einzelne Länderfeststellungen hervorhebt, außerdem begründungslos unterstellt, die Schwester des Revisionswerbers könnte diesen nicht unterstützen, und schließlich die vom mittlerweile volljährigen Revisionswerber zwischenzeitlich erlangte Bildung ausblendet, nicht dar.
26 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 28. April 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020140523.L00Im RIS seit
27.05.2022Zuletzt aktualisiert am
21.06.2022