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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des M A, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Mai 2021, W213 2234173-1/10E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist syrischer Staatsangehöriger aus dem Gouvernement Idlib sowie Angehöriger der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft.
2 Er stellte am 8. Jänner 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Begründend führte er im Wesentlichen aus, dass in seiner von Oppositionellen beherrschten Heimatregion von ihm als Mann erwartet werde, zu kämpfen, was er ablehne. Die terroristische Organisation „Hayat Tahrir Al-Sham“ habe versucht, ihn anzuwerben. Er habe sich nicht in anderen Städten ansiedeln können, weil er aufgrund seiner Herkunft auf der „roten Liste“ der syrischen Regierung stehe. Seine Familie und er hätten „einfach in Sicherheit leben“ wollen. Er sei zu einer Musterung einberufen worden, habe aber keinen Wehrdienst für die syrische Regierung ableisten müssen, da er der einzige Sohn der Familie gewesen sei. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, von der syrischen Regierung verhaftet oder getötet zu werden.
3 Mit Bescheid vom 14. Juli 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).
4 Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhob der Revisionswerber fristgerecht Beschwerde.
5 In der mündlichen Verhandlung wiederholte der Revisionswerber sein Beschwerdevorbringen, wonach das syrische Regime ihn bei seiner Rückkehr zwangsrekrutieren würde, da es derzeit nicht mehr berücksichtige, ob man Reservist oder der einzige Sohn der Familie sei. Bei seiner Einberufungsuntersuchung sei er für tauglich befunden worden. Da viele Männer das Land verlassen hätten oder den Wehrdienst verweigern würden, gebe es einen hohen Bedarf an Kämpfern. Junge Männer würden bei Sicherheitskontrollen oder Checkpoints vom Regime angehalten und sofort zum Militärdienst gebracht werden. Im Falle seiner Rückkehr befürchte er, vom Regime, von der Freien Syrischen Armee oder der Organisation „Hayat Tahrir Al-Sham“ zwangsrekrutiert zu werden. Er sei nicht bereit, „eine Waffe in die Hand zu nehmen und gegen [s]eine eigenen Mitbürger zu kämpfen, ganz gleich für wen oder in welcher Sache.“
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
7 In den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses wurden unter anderem folgende Feststellungen getroffen (Hervorhebungen hinzugefügt):
„Es ist schwer zu sagen, in welchem Ausmaß die Rekrutierung durch die syrische Armee in verschiedenen Gebieten Syriens, die unter der Kontrolle verschiedener Akteure stehen, tatsächlich durchgesetzt wird, und wie dies geschieht (...).
In der syrischen Armee herrscht zunehmende Willkür und die Situation kann sich von einer Person zur anderen unterscheiden (...).
(...)
Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (...). Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (...). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt unverändert hoch, und seit Dezember 2018 haben sich die Rekrutierungsbemühungen aufgrund dessen sogar noch verstärkt (...).
(...)
Ein ‚Herausfiltern‘ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (...). So errichtet die Militärpolizei beispielsweise in Homs stichprobenartig und nicht vorhersehbar Straßenkontrollen. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (...). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (...).
(...)
Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (...). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als von allgemeinen Einberufungsregelungen.
Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (...).“
8 Beweiswürdigend führte das BVwG zusammengefasst aus, der Revisionswerber habe stets angegeben, wegen des herrschenden Krieges und aus Angst um seine Familie geflohen zu sein. Er habe in der Verhandlung angegeben, Verhaftung und Tod durch das Regime zu befürchten, jedoch keine konkreten Vorfälle geschildert, in denen er aufgrund seiner Religionszugehörigkeit oder der Herkunft aus einer oppositionellen Gegend bedroht worden wäre. Der Revisionswerber habe vor dem BFA und dem BVwG nachvollziehbar angegeben, dass er als einziger Sohn seiner Familie keinen Wehrdienst ablegen habe müssen und nicht zwangsrekrutiert worden sei. Da er als einziger Sohn vom Wehrdienst befreit gewesen sei bzw. (weiterhin) befreit sei, gelte er auch nicht als Wehrdienstverweigerer. Daher könne davon ausgegangen werden, dass dem Revisionswerber bei einer Rückkehr keine Gefahr der Zwangsrekrutierung drohe. Eine auf asylrelevante Gründe gestützte Gefährdung, die über die alle Staatsbürger:innen des Herkunftsstaates gleichermaßen treffenden Unbilligkeiten eines Bürgerkrieges hinausgehe, habe der Revisionswerber nicht hinreichend nachvollziehbar glaubhaft machen können.
9 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend gemacht wird, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Der Revisionswerber habe vorgebracht, aufgrund seines Wohnsitzes in einer von der freien syrischen Armee verwalteten Gegend als Regimegegner zu gelten und aufgrund des Soldatenmangels seine Zwangsrekrutierung zu befürchten. Dies decke sich auch mit den Länderinformationen, in denen über eine Einziehung zum Militär im Zuge von Straßenkontrollen berichtet werde. Das BVwG hätte seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen gehabt. Hätte das BVwG die von ihm getroffenen Länderfeststellungen sowie weitere, näher genannte Länderinformationen herangezogen, hätte es dem Revisionswerber den Status des Asylberechtigten zuerkennen müssen. Für Männer im wehrfähigen Alter bestehe im Falle einer Rückkehr nach Syrien die Gefahr, aufgrund ihrer Ausreise oder der Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung wegen ihrer Herkunft durch die syrischen Behörden zum Militär eingezogen, inhaftiert oder misshandelt zu werden.
10 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Die Revision ist zulässig und begründet.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 1.10.2020, Ra 2020/19/0133 oder 19.6.2019, Ra 2018/18/0548, jeweils mwN).
14 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 26.11.2020, Ra 2020/18/0384, mwN).
15 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG seine Begründungspflicht verletzt.
16 Zutreffend weist die Revision darauf hin, dass der Revisionswerber im Verfahren Risikofaktoren einer Rückkehrgefährdung geltend gemacht hat, die auch Deckung in den Länderinformationen finden. So hat der Revisionswerber in der Beschwerde und der mündlichen Verhandlung insbesondere vorgebracht, dass die Regelungen betreffend die Ausnahme vom Wehrdienst aufgrund des großen Bedarfs des syrischen Regimes an wehrdienstfähigen Männern nicht mehr gelten würden und ihm die Einberufung zum Wehrdienst drohe.
17 Mit diesem Vorbringen hat sich das BVwG nicht hinreichend auseinander gesetzt. Die fehlende Gefahr einer Rekrutierung durch das syrische Regime stützte das BVwG ausschließlich darauf, dass der Revisionswerber, der seinen Aussagen zufolge bei der Einberufungsuntersuchung für tauglich befunden worden sei, als einziger Sohn seiner Familie in Syrien keinen Wehrdienst ableisten habe müssen und somit bei seiner Rückkehr auch nicht als Wehrdienstverweigerer gelte. Mit diesem Verweis auf bloß in der Vergangenheit ausgebliebene Rekrutierungsversuche begründete das BVwG die Verneinung einer drohenden Einberufung des Revisionswerbers im Falle seiner Rückkehr nach Syrien jedoch nicht in einer ausreichenden - einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugänglichen - Weise.
18 Im Hinblick auf das - mit den oben auszugsweise wiedergegebenen Länderfeststellungen übereinstimmende - Vorbringen des Revisionswerbers, wonach der Bedarf an Kämpfern hoch sei, das Regime wehrdienstfähige Männer verstärkt bei Sicherheitskontrollen und Checkpoints einziehe und es frühere Befreiungstatbestände nicht mehr zu berücksichtigen scheine, hätte sich das BVwG mit der zum Entscheidungszeitpunkt herrschenden Einberufungssituation in Syrien auseinandersetzen müssen. Dabei hätte es darlegen müssen, warum es fallbezogen davon ausgehe, dass sich der - nach eigenen Aussagen wehrdienstfähige - Revisionswerber auch im Lichte des vom BVwG festgestellten schweren Soldatenmangels weiterhin auf einen Befreiungstatbestand berufen können werde. Diesbezügliche beweiswürdigende Ausführungen fehlen im Erkenntnis. Die Beurteilung des BVwG kann ohne Auseinandersetzung mit dem Parteivorbringen vom Verwaltungsgerichtshof daher nicht auf seine Schlüssigkeit überprüft werden.
19 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen kann, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa bei Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwangs zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. VwGH 21.2.2017, Ra 2016/18/0203, mwN).
20 Nach den gleichbleibenden Aussagen des Revisionswerbers ist dieser nicht bereit, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Den vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen zufolge wird der Begriff der oppositionellen Einstellung von der Regierung weit verstanden, und sind Wehrdienstverweigerer von willkürlichen Verhaftungen, Misshandlungen und Folter betroffen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Frage, ob dem Revisionswerber bei Rückkehr eine Einberufung zum Wehrdienst mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohe, von vornherein keine Asylrelevanz zukommt.
21 Im Übrigen setzte sich das BVwG vor dem Hintergrund einer rückkehrbezogenen Verfolgungsgefährdung auch nicht ausreichend mit den vom Revisionswerber vorgebrachten Anwerbungsversuchen durch die extremistische Rebellengruppierung „Hayat Tahrir Al-Sham“ auseinander, obwohl nach den Länderfeststellungen des BVwG die Herkunftsregion des Revisionswerbers von dieser Oppositionsgruppe kontrolliert wird und dort großer Druck herrscht, sich einer bewaffneten Gruppierung anzuschließen.
22 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
23 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
24 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 3. Mai 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180250.L00Im RIS seit
26.05.2022Zuletzt aktualisiert am
15.06.2022