TE Vwgh Erkenntnis 2022/4/22 Ra 2021/13/0087

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Veröffentlicht am 22.04.2022
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Index

E1P
10/07 Verwaltungsgerichtshof
32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht
32/04 Steuern vom Umsatz

Norm

BAO §236
BAO §274
UStG 1994
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2
12010P/TXT Grundrechte Charta Art51
12010P/TXT Grundrechte Charta Art51 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und den Hofrat MMag. Maislinger sowie die Hofrätin Dr. Reinbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schramel, über die Revision des J F in W, vertreten durch die CMS Reich-Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Gauermanngasse 2, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 22. September 2020, Zl. RV/7104543/2019, betreffend Nachsicht gemäß § 236 BAO, zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Ansuchen vom 21. Jänner 2019 beantragte der Revisionswerber, ihm seine - insbesondere aus Umsatzsteuernachforderungen resultierenden - Abgabenrückstände nachzusehen. Begründend brachte er vor, er habe Kunstfotografien zum begünstigten Steuersatz von 10 % (bzw. 13 %) verkauft. Auch die in Österreich ansässigen Galerien und Kunsthändler würden nicht nur Bilder, sondern auch Fotografien zum begünstigten Steuersatz von 10 % (bzw. 13 %) verkaufen. Der Revisionswerber hätte (bei Anwendung des Normalsteuersatzes) im internationalen Vergleich große Nachteile erlitten, die er nie durch eine entsprechende Gewinnrendite hätte verdienen können. Auch habe er aus der Differenz zum Normalsteuersatz von 20 % keinen Profit erzielt, da er den Kunden nur 10 % (bzw. 13 %) Umsatzsteuer verrechnet habe. Er ersuche daher um Nachsicht der Rückstände.

2        Mit Bescheid vom 5. April 2019 wies das Finanzamt den Antrag des Revisionswerbers mangels Vorliegens einer persönlichen oder sachlichen Unbilligkeit ab.

3        Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde mit der „Bitte um mündliche Verhandlung“.

4        Nach Ergehen einer abweisenden Beschwerdevorentscheidung durch das Finanzamt beantragte der Revisionswerber die Vorlage der Beschwerde an das Bundesfinanzgericht und wiederholte die „Bitte um mündliche Verhandlung“.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesfinanzgericht die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab, ohne zuvor eine mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, und sprach aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        In der Begründung führte das Bundesfinanzgericht zusammengefasst aus, der Revisionswerber vermöge weder eine sachliche noch eine persönliche Unbilligkeit aufzuzeigen. Der Revisionswerber habe sich aus Gründen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eines ermäßigten Steuersatzes bedient, obwohl ihm die österreichische Rechtslage bekannt gewesen sein musste. Materiell-rechtlich bedingte Unzulänglichkeiten stellten keine Unbilligkeit im Sinne des § 236 BAO dar. Überschuldung und Liquiditätskrisen bedeuteten noch keine Unbilligkeit der Einhebung.

7        Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 23. Februar 2021, E 4094/2020-5, die Behandlung der Beschwerde ablehnte und diese über nachträglichen Antrag des Revisionswerbers mit Beschluss vom 25. März 2021, E 4094/2020-7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

8        Gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts richtet sich auch die vorliegende Revision, in der zur Zulässigkeit u.a. geltend gemacht wird, das Bundesfinanzgericht sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur mündlichen Verhandlung abgewichen.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens - das Finanzamt erstattete keine Revisionsbeantwortung - in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist aus dem aufgezeigten Grund zulässig; sie ist auch begründet.

11       Nach § 274 Abs. 1 Z 1 BAO hat über eine Beschwerde u.a. dann eine mündliche Verhandlung stattzufinden, wenn es in der Beschwerde (lit. a) oder im Vorlageantrag (lit. b) beantragt wird.

12       Die Nichtdurchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung durch das Bundesfinanzgericht stellt - worauf in der Revision zutreffend hingewiesen wird - nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einen besonders gravierenden Verfahrensmangel dar, der im Anwendungsbereich der Grundrechtecharta (GRC) jedenfalls zu einer Aufhebung der Entscheidung führt (vgl. etwa VwGH 9.2.2022, Ra 2021/13/0137, mwN).

13       Eine Relevanzprüfung entfällt in diesem Fall ungeachtet dessen, dass eine Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG im Allgemeinen nur dann zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu einer anderen Entscheidung hätte kommen können, also nur dann, wenn dieser Verfahrensmangel relevant im Sinne eines möglichen Einflusses auf die angefochtene Entscheidung sein könnte und der Revisionswerber eine solche Relevanz auch aufzuzeigen vermochte (vgl. nochmals VwGH 9.2.2022, Ra 2021/13/0137, mwN).

14       Umsatzsteuerverfahren fallen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, sodass sich für solche Abgabenverfahren aus Art. 47 Abs. 2 GRC das Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergibt. Da auch die Behandlung von Nachsichtsanträgen zur Erhebung der Umsatzsteuer und insofern zur Durchführung von Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRC zu zählen ist, ist auch im Revisionsfall (betreffend die Nachsicht von Rückständen an Umsatzsteuer) von einer Anwendbarkeit der GRC auszugehen (vgl. VwGH 19.3.2013, 2012/15/0021).

15       Mit der „Bitte um mündliche Verhandlung“ in der Beschwerde sowie im Vorlageantrag hat der Revisionswerber eindeutig die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 274 Abs. 1 Z 1 BAO beantragt. Eine solche fand aber trotz des rechtzeitig gestellten Antrags nicht statt. Ein Umstand, der ein Absehen von der mündlichen Verhandlung ungeachtet des Antrags erlaubt hätte (§ 274 Abs. 3 BAO), wurde vom Bundesfinanzgericht nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.

16       Das angefochtene Erkenntnis war (mangels Teilbarkeit des Spruchs) schon deshalb zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.

17       Von der vom Revisionswerber beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

18       Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. April 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021130087.L00

Im RIS seit

25.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

21.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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