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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter betreffend eine Familie von Staatsangehörigen Armeniens; mangelnde Auseinandersetzung mit der Verfügbarkeit von Medikamenten zur Behandlung der Krankheit eines Familienmitgliedes, bestehenden Einfuhrbeschränkungen sowie der mangelnden staatlichen Registrierung und damit des Umlaufes eines MedikamentesSpruch
I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.510,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die beschwerdeführenden Parteien sind armenische Staatsangehörige. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind miteinander verheiratet und Eltern des Drittbeschwerdeführers und der Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stellten für sich und ihre beiden Kinder nach deren Einreise am 13. Februar 2016 bzw für die Fünftbeschwerdeführerin nach deren Geburt am 11. Juli 2017 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Mit Bescheiden vom 27. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten als auch von subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ jeweils eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien in die Republik Armenien zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise von vier Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
3. Dagegen erhoben die beschwerdeführenden Parteien Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Sodann zogen sie mit Schriftsatz vom 22. September 2020 die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide (Abweisung des Antrags hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten) zurück.
4. Das Bundesverwaltungsgericht führte eine mündliche Verhandlung durch und wies die Beschwerde mit Erkenntnis vom 6. April 2021 als unbegründet ab.
Hinsichtlich der Krankheiten der beschwerdeführenden Parteien wird Folgendes festgestellt:
"Die bP1 verfügt über einen armenischen Behindertenpass mit der Invaliditätsgruppe 3 und einen österreichischen Behindertenpass mit einem GdB von 80 % gem. dem BBG, sowie einen Parkausweis gem. §29b StVO.
Einerseits stammen die bP aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehören die bP keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellen würde als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann. So war es den bP auch vor dem Verlassen ihres Herkunftsstaates möglich, dort ihr Leben zu meistern.
Die bP leiden an folgenden Erkrankungen:
Die bP1 leidet an Multipler Sklerose, Herz- und psychische Problemen (namentlich an Angstzuständen und an einer Depression).
Die bP1 befand sich wegen der multiplen Sklerose in Armenien von 2005 bis 2015 in Behandlung. Seit 2015 hat sie die für ihre Behandlung nötigen Medikamente aus Moskau, wo sie auch zur Untersuchung aufhältig war, und auch aus Frankreich bezogen. Die bP1 wurde wegen ihrer Herzprobleme mit Cortison behandelt und wurde deswegen die Behandlung ihrer multiplen Sklerose ausgesetzt, was zu einem Fortschreiten der Krankheit führte.
Die bP2 leidet an Angstzuständen und einer Depression.
Die bP3 leidet an einer Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen.
Die bP4 hat Psoriasis, welche derzeit keine Symptome aufweist.
Die bP1 bis bP3 sind in psychologischer Betreuung.
[…]
Die von bP1 genannte Erkrankung ist generell in Armenien in dem Sinne behandelbar, dass ihr entsprechende Therapien bzw Medikamente zur Verfügung stehen und hat bP1 auch Zugang zum armenischen Gesundheitssystem. In Armenien sind ambulante Leistungen (praktischer Arzt, Spezialisten wie Neurologen, routinemäßige Laboruntersuchungen) für armenische Staatsbürger in Zentren der gesundheitlichen Erstversorgung (Primary Health Centers, PHC oder auch Polikliniken) kostenlos. In Jerewan ist eine stationäre und ambulante (Nach-)Behandlung durch einen Neurologen, stationäre und ambulante (Nach-)Behandlung durch einen Physiotherapeuten, sowie Untersuchungen mittels Magnetresonanztomographie und Computertomographie grundsätzlich verfügbar. In Jerewan existiert ein Zentrum für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose, welches die Behandlung von MS anbietet. Die Gattin (bP2) von bP1 ist eine ausgebildete Masseurin und Physiotherapeutin und kann ihren Gatten behandeln und unterstützen.
Die bP1 wird in Österreich mit dem Medikament Betaferon mit dem Wirkstoff Interferon beta-1b und Sirdalud behandelt. Während Sirdalud in Armenien erhältlich ist, [ist] der Wirkstoff Interferon Beta-1b in Yerevan nicht verfügbar. Alternativen hierzu sind ebensowenig verfügbar. In Armenien besteht die Möglichkeit, dass Interferon Beta-1b aber grundsätzlich im Ausland bestellt werden kann. Das nicht verfügbare Interferon Beta-1b kann in der Russischen Föderation online gekauft und per Versand nach Armenien importiert werden. Kostenerstattung gibt es in diesem Fall keine. Die bP1 hat in der Vergangenheit bereits von dieser gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch gemacht und sich die Medikamente aus der russischen Föderation und aus Frankreich importiert. Die Kosten in Armenien für Baclofen, 1 Tablette belaufen sich auf ca. € 0,20, für Tizanidine, 1 Tablette ca. € 5,--, Interferon beta 1a, 1 Dosis ca. € 200,-- bezogen aus der RF, (ähnliches Preisniveau in europ. Onlinehandel), Interferon beta 1b, 1 Dosis ca. € 15,-- bezogen aus der RF (ab € 60 in europ. Onlinehandel).
Im indischen Onlinehandel können die Präparate Interferon beta 1a und 1b zu einem Bruchteil der russischen bzw europäischen Preise erstanden werden (vgl etwa https://dir.indiamart.com: Interferon Beta 1a: € 40,-- Interferon Beta 1b: ab € 1,-- pro Injektion).
Es ist der bP1 nach einer Rückkehr nach Armenien auch weiterhin zumutbar, dass sie sich die notwendigen Medikamente wiederum aus dem Ausland besorgt.
MS-Patienten erhalten auf Grundlage ihrer Erkrankung keine besondere Unterstützung. Sie können sich nur entweder kommissionell als Behinderte einstufen lassen (Was eine der sozial gefährdeten Bevölkerungsgruppen darstellt. Behinderte haben Anspruch auf eine Behindertenzulage von AMD 25.500 monatlich, auf kostenlose stationäre Behandlung (ohne teure Medikamente) und je nach Schwere der Behinderung kostenlose oder kostenreduzierte Medikamente von der NEDL). Ein zweiter Weg um als MS-Patient Sozialhilfe zu erhalten, ist wenn man als sozial bedürftig eingestuft wird. Die bP1 ist im Besitz eines armenischen Behindertenausweises mit einem Grad der Invalidität von 3 und ist deshalb seine ambulante Behandlung als auch eine stationäre Behandlung für ihn kostenlos. Alle armenischen StaatsbürgerInnen, einschließlich Rückkehrende, Asylsuchende und Flüchtlinge, haben ohne Einschränkungen das Recht auf Dienstleistungen von Krankenversicherungen. Rückkehrende, die nicht von der staatlichen Krankenkasse profitieren, können eine freiwillige private Krankenversicherung abschließen. Die Preise variieren zwischen 230 USD und 350 USD pro Jahr.
Das Ministerium für Arbeit und Soziales (MLSA) implementiert Programme zur Unterstützung von schutzbedürftigen Personen: Behinderte, ältere Personen, RentnerInnen, Waisen, Opfer von Menschenhandel, Frauen und Kinder. Der Zugang zu diesen Leistungen erfolgt über die 51 Büros des staatlichen Sozialversicherungsservice.
[…]
In Yerevan ist eine stationäre und ambulante (Nach-)Behandlung durch einen Neurologen, stationäre und ambulante (Nach-)Behandlung durch einen Physiotherapeuten, sowie Untersuchungen mittels Magnetresonanztomographie und Computertomographie grundsätzlich verfügbar.
Der Wirkstoff Interferon Beta-1b ist in Yerevan nicht verfügbar. Alternativen hierzu sind ebensowenig verfügbar. Die Wirkstoffe Baclofen (als Tabletten) und Tizanidin sind in Apotheken in Yerevan verfügbar.
Interferon Beta-1b kann aber grundsätzlich im Ausland bestellt werden.
[…] Medikamente, die auf der National Essential Drug List (NEDL) stehen, sind in den PHCs für Angehörige einer sozial gefährdeten Bevölkerungsgruppe oder bei bestimmten Erkrankungen ambulant ebenfalls kostenlos oder preisreduziert zu haben. Angehörige dieser Gruppen erhalten im Rahmen des Basic Benefit Package (BBP) auch stationäre Behandlung kostenlos (außer teure Medikamente). Multiple Sklerose (MS) ist nicht unter diesen Erkrankungen. MS-Patienten erhalten auf Grundlage ihrer Erkrankung also keine besondere Unterstützung. […]
[…] Für Baclofen, das zwar nicht in Armenien registriert ist aber in den letzten Jahren verfügbar ist (besonders in der genannten Apotheke) gibt es keine Rückerstattung. Für Tizanidin gibt es keine Rückerstattung. Das nicht verfügbare Interferon Beta-1b kann in der Russischen Föderation online gekauft und per Versand nach Armenien importiert werden. Kostenerstattung gibt es in diesem Fall keine. Wenn ein bestimmtes Medikament in Armenien nicht registriert ist, darf es zum persönlichen Gebrauch aus dem Ausland bestellt werden (außer Betäubungsmittel und Psychopharmaka) und zwar im Ausmaß von bis zu fünf Medikamenten, je drei Packungen, einmal im Kalenderjahr. Will man mehr importieren, braucht man eine Genehmigung. Die MedCOI-Quelle empfiehlt dazu folgende Website: https://am.globbing.com/en/buy-for-me. Dort findet sich eine schrittweise Anleitung zur Bestellung von Medikamenten. Der Import nicht registrierter Arzneimittel wurde während der COVID-19-Pandemie von der Regierung durch ein vereinfachtes Verfahren erleichtert.
Einer Analyse der MedCOI-Ärzte zu diesem Fall ist zu entnehmen, dass durch die Nichtverfügbarkeit des im gegenständlichen Fall sehr wichtigen Medikaments Interferon beta 1b ein hohes Risiko auf ein Fortschreiten der Krankheit besteht.
[…]
Die bP1 leidet nach wie vor an einer Erkrankung, hinsichtlich derer von keiner Heilung ausgegangen werden kann. Die Symptome von MS sind in Armenien behandelbar und kann die bP1 dort eine entsprechende Behandlung erlangen. Das Medikament Betaferon, mit welchem bP1 derzeit behandelt wird, ist in Armenien nicht zugelassen, doch besteht die Möglichkeit, sich dieses Medikament im Ausland (Russland, Indien) legal zu importieren. Auch die psychischen Erkrankungen von bP1 bis bP4, sowie die Psoriasis Erkrankung von bP4, welche momentan nicht akut ist, ist in Armenien behandelbar und wurden diesbezüglich seitens der bP keine Bedenken geäußert. Den bP1 bis bP4 steht im Falle einer Rückkehr nach Armenien bei Bedarf das armenische Gesundheitssystem offen."
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
5.1. Das Bundesverwaltungsgericht halte dem Erstbeschwerdeführer vor, auch in Armenien eine adäquate Behandlung von Multipler Sklerose erhalten zu können. Dagegen habe der Erstbeschwerdeführer bereits vorgebracht, dass er in Armenien lediglich hormonell behandelt worden sei. Zudem sei ihm ein hohes Maß an Cortison verabreicht worden, wodurch er mehr als 20 Kilogramm zugenommen habe. In Österreich hätten ihm die Ärzte mitgeteilt, dass es sich um keine für ihn geeignete Behandlung gehandelt habe.
5.2. In Österreich werde der Erstbeschwerdeführer mit Betaferon behandelt und es sei ihm bestätigt worden, dass dies die einzige in Frage kommende Behandlung für ihn sei. Gleichzeitig hätten die beschwerdeführenden Parteien eine Bestätigung des Ministeriums für Gesundheitswesen der Republik Armenien vorgelegt, wonach Betaferon in Armenien nicht registriert und nicht verfügbar sei. Wie es in den Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zu gegenteiligen Behauptungen kommen könne, sei unerklärlich, zumal das zuständige Gesundheitsministerium selbst die mangelnde Verfügbarkeit bestätige.
5.3. Entgegen der Feststellung des Bundesverwaltungsgerichtes habe der Erstbeschwerdeführer nicht vorgebracht, bereits in Armenien mit Betaferon behandelt worden zu sein. Auch der Import des Medikaments sei dem Erstbeschwerdeführer aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich. Einen Kostenersatz für nicht registrierte Medikamente gebe es in Armenien den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes gemäß nicht. Zur Möglichkeit der günstigen Bestellung von Medikamenten aus dem Ausland sei anzuführen, dass der Erstbeschwerdeführer bereits angegeben habe, hohe Zollzinsen zahlen zu müssen. Vom Bundesverwaltungsgericht sei aber auch die Wirksamkeit der aus Russland und Indien bezogenen Medikamente nicht erläutert worden. Es sei zu erwarten, dass die Qualität dieser Medikamente nicht an die Qualität von in Europa bezogenen Medikamenten heranreiche.
5.4. Vom Bundesverwaltungsgericht werde festgehalten, dass durch die Nichtverfügbarkeit des Medikaments Betaferon mit dem Wirkstoff Interferon beta-1b ein hohes Risiko auf ein Fortschreiten der Krankheit bestehe. Der Erstbeschwerdeführer habe hierzu ein Schreiben des Ministeriums für Gesundheitswesen der Republik Armenien vorgelegt, wonach Betaferon in Armenien nicht registriert und nicht verfügbar sei.
5.5. Darüber hinaus werde der Erstbeschwerdeführer nun auch noch mit Dronabinol behandelt. Das Bundesverwaltungsgericht treffe dazu keine Feststellungen und habe die Verfügbarkeit in Armenien nicht überprüft. Dies sei unter anderem insofern relevant, als ein Import aus dem Ausland nicht möglich wäre, weil es sich bei Dronabinol um ein Betäubungsmittel handle.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. In Bezug auf die Behandlungsmöglichkeiten des unter anderem an Multipler Sklerose erkrankten Erstbeschwerdeführers stützt sich das Bundesverwaltungsgericht insbesondere auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 10. November 2020. Darin wird auszugsweise ausgeführt, dass "der Wirkstoff Interferon Beta-1b in Yerevan nicht verfügbar ist. Alternativen hierzu sind ebensowenig verfügbar. Die Wirkstoffe Baclofen (als Tabletten) und Tizanidin sind in Apotheken in Yerevan verfügbar […]. Einer Analyse der MedCOI-Ärzte zu diesem Fall ist zu entnehmen, dass durch die Nichtverfügbarkeit des im gegenständlichen Fall sehr wichtigen Medikaments Interferon beta 1b ein hohes Risiko auf ein Fortschreiten der Krankheit besteht." (Hervorhebung im Original)
In den im Akt enthaltenen Einzelquellen wird das Fortschreiten der Krankheit näher ausgeführt "[…] more lesions/ nerve damage, disability and to more frequent attacks/exacerbation […]." In diesem Sinne wird auch im vom Erstbeschwerdeführer vorgelegten neurologischen Befund vom 8. Oktober 2020 ausgeführt, dass "Betaferon die einzige Therapiemöglichkeit [ist und e]in Absetzen der Therapie […] zu einer Verschlechterung der Erkrankung führen [würde]".
Soweit das Bundesverwaltungsgericht gestützt auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation davon ausgeht, dass ein Import aus dem Ausland (insbesondere aus der Russischen Föderation) möglich wäre, unterlässt es eine Auseinandersetzung mit den Einfuhrbeschränkungen von Medikamenten zum persönlichen Bedarf auf fünf bzw zehn Arzneimittel, je drei Packungen, einmal im Kalenderjahr (angefochtene Entscheidung, S 49 und 52). Ob damit der regelmäßige und notwendige Bedarf des Erstbeschwerdeführers sichergestellt ist, um ein Absetzen oder eine Unterbrechung der Therapie zu verhindern, das bzw die zu einer Verschlechterung der Erkrankung führen würde, kann der Entscheidung nicht entnommen werden (vgl VfGH 9.6.2020, E3688/2019; 26.6.2020, E1689/2020; 22.9.2020, E2246/2020 ua; zu den grundrechtlichen Anforderungen an eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in Fällen von erkrankten Personen siehe das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 13. Dezember 2016 [GK], Fall Paposhvili, Appl 41.738/10, Z183 ff.; vgl auch VfGH 11.6.2019, E2094/2018 ua, vom selben Tag, E3796/2018; 9.10.2019, E500/2019). Der Hinweis auf den Onlinehandel vermag vor diesem Hintergrund nicht auszureichen.
2.2. Vor dem Hintergrund des Akteninhaltes und der vom Bundesverwaltungsgericht selbst getroffenen Feststellungen, ist es für den Verfassungsgerichtshof nicht nachvollziehbar, wie das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass "im Lichte der Berichtslage kein Hinweis [besteht], dass die bP vom Zugang zu medizinischer Versorgung in Armenien ausgeschlossen wären und […] auch keine Hinweise [bestehen], dass die seitens der bP beschriebenen Krankheiten nicht behandelbar wären".
2.3. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit dem vom Erstbeschwerdeführer vorgelegten Schreiben des Ministeriums für Gesundheitswesen der Republik Armenien vom 21. Oktober 2020 (vgl VfGH 8.6.2020, E3377/2019; 22.9.2020, E2246/2020 ua), aus dem hervorgeht, dass das Medikament Betaferon in der Republik Armenien nicht registriert sei und daher als ein Medikament ohne staatliche Registrierung nicht in Umlauf gebracht werden könne. Die Behandlung der Krankheit werde in der Republik Armenien mit dem Medikament Betaferon im Rahmen der staatlichen Bestellung nicht durchgeführt.
2.4. Außerdem stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass der Erstbeschwerdeführer in Österreich mit dem Medikament Betaferon mit dem Wirkstoff Interferon beta-1b und Sirdalud behandelt werde (siehe dazu oben). Entgegen dem Akteninhalt stellt es jedoch weder fest, noch prüft es die Verfügbarkeit der weiteren Medikamente, mit denen der Erstbeschwerdeführer behandelt wird, obwohl der Erstbeschwerdeführer diese, wie vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen einer Stellungnahmemöglichkeit verlangt, in Form einer Medikamentenliste bekannt gegeben hat.
3. Das Bundesverwaltungsgericht hat daher sein Erkenntnis im Hinblick auf den Erstbeschwerdeführer mit Willkür belastet. Die Entscheidung ist somit aufzuheben (vgl auch VfGH 4.3.2020, E2373/2019 ua; 22.9.2020, E2246/2020 ua).
Der Mangel schlägt gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidung betreffend die Zweitbeschwerdeführerin, den Drittbeschwerdeführer und die Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen durch (VfSlg 19.855/2014; VfGH 11.6.2019, E2094/2018 ua; 4.3.2020, E2373/2019 ua; 22.9.2020, E2246/2020 ua), weshalb diese auch hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin, des Drittbeschwerdeführers und der Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen aufzuheben ist.
III. Ergebnis
1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch die angefochtene Entscheidung in dem durch ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 545,–, Umsatzsteuer in der Höhe von € 545,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht / Vulnerabilität, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, RückkehrentscheidungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E1904.2021Zuletzt aktualisiert am
24.05.2022