TE OGH 2022/4/20 10ObS158/21i

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Veröffentlicht am 20.04.2022
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch Mag. Van?o Apostolovski, LL.M., Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Rückforderung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Juni 2021, GZ 7 Rs 29/21w-22, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1]            Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt geltend gemachte Rückforderungsanspruch gemäß § 107 Abs 2 lit a ASVG ausgeschlossen oder gemäß § 107 Abs 2 lit b ASVG verjährt ist. Im Verfahren ist nicht strittig, dass der Rückforderungstatbestand des § 107 Abs 1 Fall 4 ASVG erfüllt ist, weil der Kläger erkennen konnte, dass ihm die Leistung nicht in der von der Beklagten erbrachten Höhe gebührte.

[2]       Mit Bescheid vom 4. 12. 2013 sprach die Beklagte aus, dass die vorzeitige Alterspension wegen langer Versicherungsdauer des Klägers vom 1. 10. 2012 bis 30. 11. 2012 wegfalle, der in diesem Zeitraum entstandene Überbezug von 6.007,78 EUR zurückgefordert und in Raten von 200 EUR von der monatlichen Leistung abgezogen werde.

[3]       Mit Bescheid vom 19. 12. 2013 wurde der Bescheid vom 4. 12. 2013 mit der Begründung aufgehoben, die Pension sei aufgrund eines Versehens irrtümlich entzogen worden. In der beigefügten Information wurde festgehalten, dass der bereits abgezogene Betrag von 200 EUR rückangewiesen werde.

[4]       Der Kläger entnahm dem Bescheid, dass ihm der einbehaltene Betrag von 200 EUR angewiesen werde. Die Beklagte überwies ihm jedoch 6.007,78 EUR. Der Kläger entnahm seinen Kontoauszügen die Überweisung, ging jedoch zunächst davon aus, dass es sich um die Auszahlung einer privaten Lebensversicherung handle. Etwa vier Jahre später erkannte er aufgrund eines Gesprächs mit seinem Versicherungsbetreuer, dass die Überweisung von 6.007,78 EUR von der Beklagten stammte. Er nahm keinen Kontakt mit der Beklagten auf und verbrauchte den überwiesenen Betrag.

[5]            Die Beklagte erhielt im November 2019 eine Meldung des Dachverbands der Sozialversicherungsträger zu Krankenversicherungsdaten des Klägers und nahm aus diesem Grund in seinen Akt Einsicht. Dabei fiel die erfolgte Überweisung auf.

[6]            Mit dem angefochtenen Bescheid vom 14. 5. 2020 forderte die Beklagte den Überbezug von 5.807,78 EUR zurück.

[7]            Das Erstgericht gab der vom Kläger gegen den Rückforderungsanspruch erhobenen Klage statt.

[8]            Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, wies das Klagebegehren auf Feststellung, dass der Rückforderungsanspruch nicht zu Recht bestehe, ab und verpflichtete den Kläger zur ratenweisen Rückzahlung. Es ließ die Revision nicht zu, weil die zu entscheidende Rechtsfrage keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung habe.

[9]            Rechtlich erörterte es, der Rückforderungsausschluss des § 107 Abs 2 lit a ASVG betreffe nur Leistungen, die nach dem Zeitpunkt, zu dem der Sozialversicherungsträger die Ungebührlichkeit seiner Leistung erkennen habe können, weiter erbracht worden seien. Derartige Leistungen lägen hier nicht vor. Die Leistung sei auch nicht gemäß § 107 Abs 2 lit b ASVG verjährt, weil der Beklagten ihr Irrtum erst 2019 bekannt geworden sei.

[10]           In seiner außerordentlichen Revision steht der Kläger zusammengefasst auf dem Standpunkt, die angemessene Frist iSd § 107 Abs 2 lit a ASVG und die Verjährungsfrist iSd § 107 Abs 2 lit b ASVG hätten bereits im Auszahlungszeitpunkt, also im Dezember 2013, zu laufen begonnen.

Rechtliche Beurteilung

[11]           Die außerordentliche Revision des Klägers ist nicht zulässig.

[12]           1.1. Das Recht auf Rückforderung nach § 107 Abs 1 ASVG besteht nicht, wenn der Versicherungsträger zum Zeitpunkt, in dem er erkennen musste, dass die Leistung zu Unrecht erbracht worden ist, die für eine bescheidmäßige Feststellung erforderlichen Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist unterlassen hat (§ 107 Abs 2 lit a ASVG).

[13]     1.2. Die Regelung des § 107 Abs 2 lit a ASVG wird als eine im Interesse des Empfängers geschaffene „Aufgriffsobliegenheit“ des Versicherungsträgers gedeutet (10 ObS 310/91 SSV-NF 6/48; Fellinger in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm [132. Lfg] § 107 ASVG Rz 26; Schrammel in Tomandl, SV-System [5. Lfg] 174, Pkt 2.1.5.3.).

[14]           Es handelt es sich um ein im Interesse des Zahlungs- oder des Leistungsempfängers gegenüber § 1432 letzter Fall ABGB verschärftes Rückforderungsverbot, das schon dann besteht, wenn der Versicherungsträger erkennen musste, dass er Geldleistungen zu Unrecht erbracht hat. Er ist ab dem Zeitpunkt, in dem er erkennen musste, dass seine Leistung zu Unrecht erbracht worden ist, verpflichtet, innerhalb angemessener Frist die für eine bescheidmäßige Feststellung dieser Leistung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um weitere Überbezüge zu verhindern (RS0084420; zuletzt 10 ObS 86/21a). Ignoriert der Versicherungsträger eine – sei es durch eine Meldung des Leistungsempfängers, eine Mitteilung des Dachverbands der Sozialversicherungsträger oder auf andere Art – zugekommene Information, aus der er erkennen musste, dass eine Leistung zu Unrecht erbracht worden ist, und erbringt er diese Leistung weiter, dann besteht das Recht auf Rückforderung der zu Unrecht weiter erbrachten Leistung nicht (RS0084301; zuletzt 10 ObS 86/21a).

[15]           Der Rückforderungsausschluss des § 107 Abs 2 lit a ASVG bezieht sich nur auf Leistungen, die der Versicherungsträger nach dem Zeitpunkt erbracht hat, in dem er erkennen musste, dass die (bisherige) Leistung zu Unrecht erbracht worden ist (RS0075164; 10 ObS 141/89 SSV-NF 3/96; 10 ObS 130/90 SSV-NF 4/139).

[16]           Wann der Versicherungsträger erkennen musste, dass eine Leistung zu Unrecht erbracht worden war, ist stets nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0084420 [T5]; RS0109340 [T4] = 10 ObS 361/02i).

[17]           1.3. Das Berufungsgericht beurteilte den vorliegenden Sachverhalt dahin, dass der Beklagten aufgrund der Mitteilung des Dachverbands im November 2019 die unberechtigte Leistungserbringung auffallen musste. Nach diesem Zeitpunkt habe sie keine (gemeint: unberechtigten) Leistungen an den Kläger erbracht, sodass kein Fall des Rückforderungsausschlusses des § 107 Abs 2 lit a ASVG vorliege.

[18]           1.4. Diese Beurteilung steht im Einklang mit der dargestellten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

[19]           1.5. Soweit der Kläger in seiner außerordentlichen Revision das Fehlen von Rechtsprechung zum Zeitpunkt der Erkennbarkeit von „Eigenfehlern“ des Versicherungsträgers vermisst, lässt er die Entscheidungen 10 ObS 141/89 (SSV-NF 3/96) und 10 ObS 130/90 (SSV-NF 4/139) außer Acht, nach denen sich der Rückforderungsausschluss des § 107 Abs 2 lit a ASVG nur auf Leistungen beziehen kann, die der Versicherungsträger nach dem Zeitpunkt erbrachte, zu dem er erkennen musste, dass die (bisherige) Leistung zu Unrecht erbracht wurde. Auch der Wortlaut des § 107 Abs 2 lit a ASVG stellt darauf ab, dass der Versicherungsträger erkennen musste, dass eine Leistung zu Unrecht bereits zuvor „erbracht worden ist“.

[20]           Im vorliegenden Fall lag zum Zeitpunkt der irrtümlichen Auszahlung des überhöhten Betrags an den Kläger im Dezember 2013 noch keine unberechtigte Leistung an den Kläger vor, deren Ungebührlichkeit die Beklagte hätte erkennen und im Hinblick auf folgende Leistungserbringungen berücksichtigen müssen.

[21]           Die in der außerordentlichen Revision aufgeworfene Rechtsfrage ist in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bereits beantwortet.

[22]           1.6. Auch der in der außerordentlichen Revision behauptete Widerspruch des Urteils des Berufungsgerichts zur Entscheidung 10 ObS 310/91 (SSV-NF 6/48) liegt nicht vor, weil der zugrunde liegende Sachverhalt in den hier interessierenden Aspekten anders gelagert war. In dem zu 10 ObS 310/91 (SSV-NF 6/48) zu beurteilenden Fall war nämlich nicht eine einmalige überhöhte Auszahlung, sondern eine laufende monatliche Leistung zu beurteilen, die die Beklagte trotz mehrfacher aktenkundiger Anhaltspunkte für ihre Ungebührlichkeit über einen längeren Zeitraum nicht entzog. Das Berufungsgericht ist daher nicht von dieser Entscheidung abgewichen. Eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO wird in diesem Zusammenhang daher nicht aufgezeigt.

[23]           2. Im Weiteren wird in der außerordentlichen Revision gerügt, es fehle höchstgerichtliche Rechtsprechung zum Beginn der Verjährungsfrist gemäß § 107 Abs 2 lit b ASVG. Die Frist beginne im vorliegenden Fall bereits im Zeitpunkt der erkennbar nicht gebührenden Auszahlung durch die Beklagte zu laufen.

[24]           Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn das Gesetz selbst eine klare, das heißt eindeutige Regelung trifft (RS0042656).

[25]           Nach § 107 Abs 2 lit b ASVG verjährt der Rückforderungsanspruch des Versicherungsträgers binnen drei Jahren nach dem Zeitpunkt, in dem ihm bekannt geworden ist, dass die Leistung zu Unrecht erbracht worden ist. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass zum Zeitpunkt der irrtümlichen überhöhten Auszahlung bei der Beklagten noch keine Kenntnis einer stattgefundenen ungebührlichen Leistungserbringung bestand, steht mit dem insofern klaren Wortlaut der Norm im Einklang.

[26]           3. Soweit der Kläger in der außerordentlichen Revision dem Rückforderungsanspruch entgegenhält, es liege keine Meldepflichtverletzung des Klägers vor, vermag dies die Zulässigkeit der Revision nicht zu begründen, weil im vorliegenden Fall nicht der Rückforderungstatbestand des § 107 Abs 1 Fall 3 ASVG (Meldepflichtverletzung), sondern jener des § 107 Abs 1 Fall 4 ASVG (Erkennenmüssen der Ungebührlichkeit durch den Leistungsempfänger) vorliegt.

[27]           4. Da die außerordentliche Revision insgesamt keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist sie zurückzuweisen.

Textnummer

E134852

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00158.21I.0420.000

Im RIS seit

20.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

20.05.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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