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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art7 Abs1 / VerordnungLeitsatz
Keine Verletzung im Gleichheitsrecht durch eine Bestimmung der COVID-19-MaßnahmenV, in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten der Gastronomie, Speisen und Getränken nur im Sitzen an Verabreichungsplätzen zu konsumieren; Erforderlichkeit der – zu weniger Durchmischung führenden – fixen Sitzplatzzuweisungen angesichts der epidemiologischen Situation; hinreichende Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen im VerordnungsaktSpruch
Die Anträge werden abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit den vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Anträgen begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, der Verfassungsgerichtshof möge erkennen, dass die Wortfolge "im Sitzen" in §6 Abs3a, in eventu §6 Abs3a der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen werden, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 407/2020; in eventu die Wortfolge "im Sitzen" in §6 Abs3a, in eventu §6 Abs3a der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 398/2020 gesetzwidrig war.
II. Rechtslage
1. §1 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz – COVID-19-MG), BGBl I 12/2020, idF BGBl I 23/2020 lautete:
"Betreten von Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen sowie Arbeitsorte
§1. Beim Auftreten von COVID-19 kann der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz durch Verordnung das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen oder Arbeitsorte im Sinne des §2 Abs3 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen."
2. §§3 und 8 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz – COVID-19-MG), BGBl I 12/2020, idF BGBl I 104/2020 lauteten im Tatzeitpunkt der Anlassfälle:
"Betreten und Befahren von Betriebsstätten und Arbeitsorten sowie Benutzen von Verkehrsmitteln
§3. (1) Beim Auftreten von COVID-19 kann durch Verordnung
1. das Betreten und das Befahren von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen,
2. das Betreten und das Befahren von Arbeitsorten oder nur bestimmten Arbeitsorten gemäß §2 Abs3 des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes und
3. das Benutzen von Verkehrsmitteln oder nur bestimmten Verkehrsmitteln
geregelt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist.
(2) In einer Verordnung gemäß Abs1 kann entsprechend der epidemiologischen Situation festgelegt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit oder unter welchen Voraussetzungen und Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten und befahren oder Verkehrsmittel benutzt werden dürfen. Weiters kann das Betreten und Befahren von Betriebsstätten oder Arbeitsorten sowie das Benutzen von Verkehrsmitteln untersagt werden, sofern gelindere Maßnahmen nicht ausreichen.
[…]
Strafbestimmungen
§8. […]
(2) Wer
1. eine Betriebsstätte oder einen Arbeitsort entgegen den in einer Verordnung gemäß §3 festgelegten Voraussetzungen oder an ihn gerichteten Auflagen betritt oder befährt oder ein Verkehrsmittel entgegen den in einer Verordnung gemäß §3 festgelegten Voraussetzungen oder an ihn gerichteten Auflagen benutzt […]
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 500 Euro, im Nichteinbringungsfall mit Freiheitsstrafe von bis zu einer Woche, zu bestrafen. […]"
3. §§6 und 10 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen werden (COVID-19-Maßnahmenverordnung – COVID-19-MV), BGBl II 197/2020, idF BGBl II 412/2020 (der angefochtene Abs3a ist seit der Einführung durch die Verordnung BGBl II 398/2020 unverändert; mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 8.6.2021, V615/2020, wurde Abs3 idF BGBl II 207/2020 als gesetzwidrig festgestellt), idF BGBl II 446/2020 (§10) lauteten wie folgt (die mit den Hauptanträgen angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben):
"Gastgewerbe
§6. (1) Das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe ist unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen zulässig.
(1a) Der Betreiber darf Besuchergruppen in geschlossene Räume nur einlassen, wenn diese
1. aus maximal zehn Erwachsenen zuzüglich ihrer minderjährigen Kinder oder minderjährigen Kindern, gegenüber denen Aufsichtspflichten wahrgenommen werden, oder
2. aus Personen bestehen, die im gemeinsamen Haushalt leben.
(2) Der Betreiber darf das Betreten der Betriebsstätte für Kunden nur im Zeitraum zwischen 05.00 und 01.00 des folgenden Tages Uhr zulassen. Restriktivere Sperrstunden und Aufsperrstunden aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.
(3) Der Betreiber hat sicherzustellen, dass die Konsumation von Speisen und Getränken nicht in unmittelbarer Nähe der Ausgabestelle erfolgt.
(3a) In geschlossenen Räumen ist die Konsumation von Speisen und Getränken nur im Sitzen an Verabreichungsplätzen zulässig.
(4) Der Betreiber hat die Verabreichungsplätze so einzurichten, dass zwischen den Besuchergruppen ein Abstand von mindestens einem Meter besteht. Dies gilt nicht, wenn durch geeignete Schutzmaßnahmen zur räumlichen Trennung das Infektionsrisiko minimiert werden kann.
(5) Vom erstmaligen Betreten der Betriebsstätte bis zum Einfinden am Verabreichungsplatz hat der Kunde gegenüber anderen Personen, die nicht zu seiner Besuchergruppe gehören, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Beim Verlassen des Verabreichungsplatzes hat der Kunde gegenüber anderen Personen, die nicht zu seiner Besuchergruppe gehören, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.
(5a) Die Betreiber sowie deren Mitarbeiter haben bei Kundenkontakt in geschlossenen Räumen eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen, sofern zwischen den Personen keine sonstige geeignete Schutzvorrichtung zur räumlichen Trennung vorhanden ist, die das gleiche Schutzniveau gewährleistet.
(5b) Der Kunde hat in geschlossenen Räumen – ausgenommen während des Verweilens am Verabreichungsplatz – eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen.
(6) Selbstbedienung ist zulässig, sofern durch besondere hygienische Vorkehrungen das Infektionsrisiko minimiert werden kann.
(7) Die Abs1 bis 6 gelten nicht für Betriebsarten der Gastgewerbe, die innerhalb folgender Einrichtungen betrieben werden:
1. Krankenanstalten und Kureinrichtungen;
2. Pflegeanstalten und Seniorenheime;
3. Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung von Kindern und Jugendlichen einschließlich Schulen und Kindergärten;
4. Betrieben, wenn diese ausschließlich durch Betriebsangehörige genützt werden dürfen;
5. Massenbeförderungsmittel.
[…]
Veranstaltungen
§10. (1) Als Veranstaltungen im Sinne dieser Verordnung gelten insbesondere geplante Zusammenkünfte und Unternehmungen zur Unterhaltung, Belustigung, körperlichen und geistigen Ertüchtigung und Erbauung. Dazu zählen jedenfalls kulturelle Veranstaltungen, Sportveranstaltungen, Hochzeiten, Begräbnisse, Filmvorführungen, Ausstellungen, Vernissagen, Kongresse, Angebote der außerschulischen Jugenderziehung und Jugendarbeit, Schulungen und Aus- und Fortbildungen.
(2) Veranstaltungen ohne zugewiesene und gekennzeichnete Sitzplätze, wie beispielsweise Hochzeits-, Geburtstags- und Weihnachtsfeiern, mit mehr als zehn Personen in geschlossenen Räumen und mit mehr als 100 Personen im Freiluftbereich sind untersagt. Personen, die zur Durchführung der Veranstaltung erforderlich sind, sind in diese Höchstzahlen nicht einzurechnen. Für das Verabreichen von Speisen und den Ausschank von Getränken an Besucher sowie für die Sperrstundenregelung gilt §6.
(3) Veranstaltungen mit ausschließlich zugewiesenen und gekennzeichneten Sitzplätzen sind mit einer Höchstzahl bis zu 1 500 Personen in geschlossenen Räumen und mit einer Höchstzahl bis zu 3 000 Personen im Freiluftbereich zulässig. Personen, die zur Durchführung der Veranstaltung erforderlich sind, sind in diese Höchstzahlen nicht einzurechnen. Für das Verabreichen von Speisen und den Ausschank von Getränken an Besucher sowie für die Sperrstundenregelung gilt §6. […]"
III. Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren
1. Den Anträgen liegen folgende wesentliche Sachverhalte zugrunde:
Mit Straferkenntnissen der Bezirkshauptmannschaft Schwaz vom 7. Dezember 2020 wurde den Beschwerdeführern der Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol (iF: antragstellendes Gericht) zur Last gelegt, sie hätten am 16. Oktober 2020 in einer näher bezeichneten Gaststätte erstens im Stehen ein Getränk konsumiert und zweitens keine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung getragen. Über sie wurden daher Geldstrafen gemäß dem COVID-19-MG verhängt.
2. Gegen diese Straferkenntnisse erhoben die Beschwerdeführer des Verfahrens Beschwerden vor dem antragstellenden Gericht.
2.1. Das antragstellende Gericht forderte vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (iF: BMSGPK) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes die Verordnungsakten zur 11. Novelle der COVID-19-LV, BGBl II 407/2020, an. Nach Durchsicht dieser Akten hegt das antragstellende Gericht Bedenken ob der Gesetzeskonformität des §6 Abs3a COVID-19-MV (vormals COVID-19-LV).
2.2. Zur Zulässigkeit der Anträge führt das antragstellende Gericht aus, dass sich die Straferkenntnisse in den Anlassfällen auf §6 Abs3a COVID-19-MV stützten. Dieser sei zwar bereits außer Kraft getreten; da es sich aber um eine zeitraumbezogene Regelung handle, sei dieser in den Anlassfällen anwendbar.
2.3. In der Sache weist das antragstellende Gericht darauf hin, dass §3 Abs1 Z1 COVID-19-MG, BGBl I 12/2020, idF BGBl I 104/2020 dazu ermächtige, das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen zu regeln. Dabei könne gemäß §3 Abs2 COVID-19-MG festgelegt werden, in welcher Zahl, zu welcher Zeit und unter welchen Voraussetzungen und Auflagen Betriebsstätten betreten werden dürften. Das antragstellende Gericht verweist auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juli 2020, V363/2020, und kommt nach einer auszugsweisen Wiedergabe dieses Erkenntnisses zu dem Ergebnis, dass im Verordnungsakt keine Begründung für das Konsumationsverbot von Speisen und Getränken im Stehen aufzufinden sei. Es müssten die Entscheidungsgrundlagen ausreichend dokumentiert werden; eine bloße Sammlung und Übermittlung von wissenschaftlichen Daten und Studien könne diesem Erfordernis nicht genügen. Es sei zweifelhaft, ob §6 Abs3a COVID-19-MV nach Durchführung der gebotenen Interessenabwägung erlassen worden sei und ob dabei die maßgeblichen Umstände entsprechend ermittelt und nachvollziehbar festgehalten worden seien. Bezweifelt werden könne, ob die Entscheidungsgrundlagen ausreichend dokumentiert worden seien und ob eine fachliche Grundlage vorliege, die die Kriterien des COVID-19-MG berücksichtigt habe. §6 Abs3a COVID-19-MV sei somit gesetzwidrig.
Darüber hinaus widerspreche §6 Abs3a COVID-19-MV dem Gleichheitsgrundsatz nach Art7 B-VG bzw Art2 StGG, da aus epidemiologischer Sicht keine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung der Konsumation von Speisen und Getränken im Sitzen und im Stehen vorliege.
3. Zum Anfechtungsumfang führt das antragstellende Gericht aus, dass die Differenzierung zwischen der Konsumation von Speisen und Getränken im Sitzen und im Stehen im Hinblick auf die Ausgestaltung von Verabreichungsplätzen in §6 Abs4 COVID-19-MV durch die Streichung der Wortfolge "im Sitzen" beseitigt werden könne. In eventu werde die gesamte Streichung des §6 Abs3a leg cit beantragt, wobei Eventualbegehren für die Wortfolge bzw die Bestimmung unter dem Titel der COVID-19-LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 398/2020 gestellt würden.
4. Der BMSGPK hat die Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Anträge beantragt.
4.1. Zur Zulässigkeit der Anträge führt der BMSGPK aus, dass die Hauptanträge und die ersten Eventualbegehren der jeweiligen Anträge unzulässig seien. §6 Abs3a sei seit der Novelle BGBl II 398/2020 unverändert, weshalb dies auch die maßgebliche Fassung sei.
4.2. In der Sache führt der BMSGPK aus, dass sich das antragstellende Gericht auf den falschen Verordnungsakt berufen habe. Maßgeblich seien die Äußerungen im Verordnungsakt zur Novelle BGBl II 398/2020. Diese sei unter großem Zeitdruck erlassen worden, der auf Grund des Anstiegs des Infektionsgeschehens vorgelegen sei. Der BMSGPK sei dabei einem Vorschlag der Corona-Kommission vom 10. September 2020 gefolgt. Der Sachverhalt zur Novelle BGBl II 398/2020 nehme explizit Bezug auf diesen Vorschlag und auf die wissenschaftlichen Grundlagen für nicht-pharmakologische Maßnahmen des Nationalen Pandemieplans. Zu §6 Abs3a fänden sich keine expliziten Erläuterungen im Verordnungsakt. Dass keine umfangreiche wissenschaftliche und rechtliche Erörterung der Maßnahme erfolgt sei, schade jedoch nicht, da es sich um eine objektiv geeignete Maßnahme handle. Im Übrigen reiche eine zusammenfassende und nachvollziehbare Darstellung der wesentlichen Entscheidungsgrundlagen aus. Mit der Konsumation von Speisen und Getränken im Stehen (an Verabreichungsplätzen) gehe eine erhöhte Mobilität und eine verstärkte Durchmischung einher. Zweck der Vorschrift sei es, jenen Umständen zu begegnen, die auch Veranstaltungen ohne gekennzeichnete und zugewiesene Sitzplätze prägten und die epidemiologisch als besonders bedenklich gewertet werden könnten. Durch den Verweis auf §6 in §10 COVID-19-MV komme der Zusammenhang zwischen den Veranstaltungs- und den Gastronomieregelungen deutlich zum Ausdruck. Es liege daher nahe, als Konsequenz der Empfehlung der Corona-Kommission zur Beschränkung von Veranstaltungen ohne zugewiesene und gekennzeichnete Sitzplätze auch in der Gastronomie entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Verpflichtung zur Konsumation von Speisen und Getränken im Sitzen an Verabreichungsplätzen sei auf geschlossene Räume beschränkt worden und stelle ein gelinderes Mittel zu einem absoluten Betretungsverbot dar. Bestätigt werde diese Auffassung auch durch die 3. Novelle der COVID-19-MV, BGBl II 455/2020, in der ebendiese Ausführungen auch im "Sachverhalt" ausgeführt würden.
Im Hinblick auf die Verletzung des Sachlichkeitsgebotes wird darauf hingewiesen, dass der BMSGPK von einer höheren epidemiologischen Gefahrenlage bei der Konsumation von Speisen und Getränken im Stehen ausgehen habe dürfen und somit eine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung vorliege.
IV. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Anträge erwogen:
1. Zur Zulässigkeit der Anträge
1.1. Das antragstellende Gericht beantragt in seinen Hauptanträgen die Feststellung der Gesetzwidrigkeit des §6 Abs3a COVID-19-MV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 407/2020. Der Umstand, dass mit der Verordnung BGBl II 407/2020 lediglich eine Umbenennung der COVID-19-LV in COVID-19-MV erfolgte und in §6 Abs1a und Abs5b eingefügt wurden, nicht aber Abs3a des §6 COVID-19-MV geändert wurde, führt für sich allein nicht zur Unzulässigkeit des Antrages. §6 Abs3a COVID-19-MV erhielt bereits mit der Verordnung BGBl II 398/2020 den Wortlaut, den das antragstellende Gericht in seinen Anträgen wörtlich wiedergibt. Da somit unzweifelhaft erkennbar ist, in welcher Fassung diese Bestimmung angefochten wird, ist dem Formerfordernis des §57 Abs1 erster Satz VfGG Genüge getan (vgl VfGH 14.7.2020, V363/2020; 1.10.2020, V405/2020; 8.6.2021, V615/2020; zu Art140 B-VG VfGH 26.11.2020, G236/2020 mwN, VfSlg 20.300/2018). Damit erübrigt sich auch ein Eingehen auf die Eventualanträge.
1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
1.3. §6 Abs3a COVID-19-MV untersagte in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten des Gastgewerbes die Konsumation von Speisen und Getränken im Stehen. Dem antragstellenden Gericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es davon ausgeht, dass es in den Anlassverfahren die – inzwischen aufgehobene – Bestimmung anzuwenden hat (vgl VfGH 10.3.2021, V583/2020 ua).
1.4. Das antragstellende Gericht hegt Bedenken gegen die angefochtene Wortfolge "im Sitzen" in §6 Abs3a COVID-19-MV und bringt eine daraus resultierende Gesetzwidrigkeit vor. Die behauptete Rechtswidrigkeit liegt ausschließlich in der angefochtenen Wortfolge. Im Falle der Aufhebung dieser Wortfolge wäre eine Konsumation von Speisen und Getränken in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten des Gastgewerbes auch im Stehen an Verabreichungsplätzen zulässig. Der Anfechtungsumfang der Hauptbegehren der zu V114/2021 und V115/2021 protokollierten Anträge wurde daher richtig gewählt. Ein Eingehen auf die Eventualbegehren in Bezug auf eine Feststellung der Gesetzwidrigkeit des §6 Abs3a COVID-19-MV zur Gänze erübrigt sich aus diesem Grund.
1.5. Im Übrigen sind keine Prozesshindernisse hervorgekommen. Die Hauptanträge erweisen sich daher als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof ist in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).
2.2. Die Anträge sind nicht begründet.
Zum behaupteten Verstoß gegen das COVID-19-MG:
2.3. Das antragstellende Gericht macht als Bedenken im Wesentlichen geltend, der angefochtenen Wortfolge in der Verordnungsbestimmung habe die aktenmäßige Dokumentation der für die Verordnungserlassung maßgeblichen Grundlagen im Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung gefehlt.
2.4. Die Bestimmung des §6 Abs3a COVID-19-MV idF BGBl II 398/2020 hatte ihre gesetzliche Grundlage in §1 COVID-19-MG idF BGBl I 23/2020. Der Verfassungsgerichtshof hat zu §1 COVID-19-MG idF BGBl I 23/2020 bereits grundlegend ausgesprochen, dass der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, überträgt, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen zu treffen hat. In Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 ist prognosehaft zu beurteilen, inwieweit Betretungsverbote oder Betretungsbeschränkungen von Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete, erforderliche und insgesamt angemessene Maßnahmen darstellen.
2.4.1. Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtet §1 COVID-19-MG vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B-VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu (vgl zu alldem auch VfGH 1.10.2020, G272/2020 ua; 1.10.2020, V405/2020).
2.4.2. Für die Beurteilung des Verfassungsgerichtshofes sind deshalb der Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Verordnungsbestimmung und die zu diesem Zeitpunkt zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich. Zur Beantwortung der Frage, ob die angefochtene Verordnungsbestimmung mit der jeweiligen gesetzlichen Grundlage im Einklang steht, kommt es auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung an, sie ist aber kein Selbstzweck. Wenn für die Bewältigung von Situationen, in denen Maßnahmen anhand von Prognosen getroffen werden müssen, der Verwaltung zur Abwehr von möglichen Gefahren gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu (vgl VfGH 10.12.2020, V436/2020; 10.3.2021, V574/2020 ua).
2.5. Gemäß §6 Abs3a COVID-19-MV ist in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten der Gastronomie die Konsumation von Speisen und Getränken nur im Sitzen an Verabreichungsplätzen zulässig.
2.6. Als Grundlagen für die Erlassung (unter anderem) der angefochtenen Wortfolge in §6 Abs3a COVID-19-MV finden sich in dem vom BMSGPK vorgelegten Verordnungsakt, der der Erlassung der Verordnung BGBl II 398/2020 vom 12. September 2020 (10. COVID-19-LV-Novelle) zugrunde liegt, – soweit für die Beurteilung des Verfassungsgerichtshofes relevant – folgende Unterlagen und Angaben:
2.6.1. Die maßgeblichen Ergebnisse der Corona-Kommission sind in Form einer "Empfehlung der Corona-Kommission" vom 10. September 2020 auf Grundlage des Datenstandes vom 8. September 2020, 24:00 Uhr im Verordnungsakt enthalten. Die Corona-Kommission empfiehlt darin wegen des erhöhten Infektionsgeschehens in Österreich, über die Empfehlungen für einzelne Regionen hinausgehend, generell das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (unter anderem) für Innenräume in der Gastronomie bis zum Sitzplatz, unabhängig von der regionalen Risikoeinschätzung zu implementieren. Hinsichtlich der maximal zulässigen Teilnehmer bei Veranstaltungen findet sich eine Empfehlung zur Überprüfung bestehender Verordnungen. Für "Indoor und Outdoor Veranstaltungen" sei zu einem Niveau zu kommen, das den vorgeschlagenen Überlegungen des Präventionsleitfadens hinsichtlich eines mittleren Risikos entspreche. Besondere Aufmerksamkeit solle dabei auf Veranstaltungen ohne fixe Sitzplatzzuweisung in geschlossenen Räumen gelegt werden. Überdies enthält der Bericht die Festlegung der jeweiligen Risikostufe ("Ampelfarbe") und die Darstellung der epidemiologischen Lage (Entwicklung der kumulativen 7-Tagesinzidenz, Auslastung der Normal- und Intensivbetten, Angaben zur Aufklärung von Infektionsquellen, Ausmaß der Testaktivität usw) für das gesamte Bundesgebiet, für die Länder und für einzelne Bezirke mit Stand 8. September 2020, 24:00 Uhr.
2.6.2. Im Verordnungsakt findet sich auch der von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (AGES) erstellte tägliche Lagebericht zur SARS-CoV-2-Infektion vom 11. September 2020. In diesem werden für das Bundesgebiet bzw für die einzelnen Regionen etwa die kumulative Anzahl der Fälle von bestätigter SARS-CoV-2-Infektion, die kumulative Inzidenz und der zeitliche Verlauf im Hinblick auf neu identifizierte Fälle einer bestätigten SARS-CoV-2-Infektion abgebildet. Enthalten ist auch eine Clusteranalyse.
2.7. Der BMSGPK weist in seiner Äußerung darauf hin, dass er mit der Verpflichtung zur Konsumation von Speisen und Getränken nur im Sitzen und an Verabreichungsorten durch die Verordnung BGBl II 398/2020 auf ein erhöhtes Infektionsgeschehen reagiert habe und damit der entsprechenden Empfehlung der Corona-Kommission vom 10. September 2020 gefolgt sei. Die Regelung in §6 Abs3a COVID-19-MV sei eine notwendige Konsequenz der Empfehlung der Corona-Kommission in Bezug auf Veranstaltungen ohne fixe Sitzplatzzuweisung, die ein erhöhtes epidemiologisches Risiko bedeuteten. Die im Verordnungsakt dokumentierte epidemiologische Situation habe keine Zweifel an der schlüssigen Empfehlung der Corona-Kommission aufkommen lassen, sodass dieser gefolgt worden sei.
2.8. Der BMSGPK hat damit hinreichend dargelegt, auf welcher Informationsbasis bzw auf welchen Grundlagen die Entscheidung über die Anordnung in §6 Abs3a COVID-19-MV zur Verpflichtung der Konsumation von Speisen und Getränken in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten der Gastronomie nur im Sitzen und an Verabreichungsplätzen getroffen wurde.
Zum behaupteten Verstoß gegen den Gleichheitssatz:
2.9. Der Gleichheitssatz bindet auch den Verordnungsgeber (VfGH 5.6.2014, V44/2013). Er setzt ihm insofern inhaltliche Schranken, als er verbietet, unsachliche, durch tatsächliche Unterschiede nicht begründbare Differenzierungen und eine unsachliche Gleichbehandlung von Ungleichem sowie sachlich nicht begründbare Regelungen zu schaffen (vgl zur Differenzierung bei Gesetzen etwa VfSlg 17.315/2004, 17.500/2005; zum Sachlichkeitsgebot bei Gesetzen vgl VfSlg 14.039/1995, 16.407/2001; VfGH 23.2.2021, G361/2020; zum Sachlichkeitsgebot bei Verordnungen 24.6.2021, V593/2020; 23.9.2021, V572/2020).
2.10. Der Gesetzgeber hat dem Verordnungsgeber in der Frage der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie einen weiten Entscheidungsspielraum eingeräumt (vgl VfGH 24.6.2021, V592/2020; 24.6.2021, V593/2020; 23.9.2021, V572/2020; 23.9.2021, V5/2021).
2.11. Die angefochtene Verpflichtung zur Konsumation von Speisen und Getränken in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten der Gastronomie nur im Sitzen und an Verabreichungsplätzen in §6 Abs3a COVID-19-MV verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz:
§6 Abs3a COVID-19-MV lag das Ziel zugrunde, einer unkontrollierten Durchmischung der Gäste in Gastronomiebetrieben und damit einer Verbreitung von COVID-19 entgegenzusteuern. Der mit dieser Maßnahme verfolgte Schutz der Gesundheit stellt ein Ziel von erheblichem Gewicht dar. Angesichts der im Zeitpunkt der Verordnungserlassung bestehenden – in der vorgelegten Empfehlung der Corona-Kommission vom 10. September 2020 dokumentierten – epidemiologischen Situation ist dem BMSGPK nicht entgegenzutreten, wenn er ein Verbot der Konsumation von Speisen und Getränken im Stehen in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten von Gastronomiebetrieben zur Erreichung dieses Ziels für erforderlich hielt. Die Maßnahme ist auch sachlich gerechtfertigt, da durch fixe Sitzplatzzuweisungen und eine damit verbundene Konsumation von Speisen und Getränken nur an diesem Sitzplatz vertretbar davon ausgegangen werden konnte, dass in der Betriebsstätte weniger Durchmischung stattfindet.
2.12. Die angefochtene Wortfolge in §6 Abs3a COVID-19-MV, idF BGBl II 398/2020, ist daher aus den geltend gemachten Gründen nicht als gleichheitswidrig zu erkennen.
V. Ergebnis
1. Die ob der Gesetzmäßigkeit der Wortfolge "im Sitzen" in §6 Abs3a COVID-19-MV, idF BGBl II 398/2020 erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Die Anträge sind daher abzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
COVID (Corona), Grundlagenforschung, Verordnungserlassung, Determinierungsgebot, Legalitätsprinzip, Bindung (des Verordnungsgebers), VfGH / GerichtsantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:V114.2021Zuletzt aktualisiert am
19.05.2022