Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M* GmbH & Co KG, *, vertreten durch DDr. Heinz Dietmar Schimanko, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei R* GmbH, *, vertreten durch Bichler Zrzavy Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien, wegen 7.906,82 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 7. Juni 2021, GZ 38 R 66/21v-16, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Favoriten vom 19. Jänner 2021, GZ 3 C 503/20f-12, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich seiner Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei jeweils binnen 14 Tagen die mit 912,41 EUR (darin 152,07 EUR USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung und die mit 1.386 EUR (darin 104 EUR USt und 762 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin ist Vermieterin und die Beklagte ist Mieterin eines Geschäftslokals in W* im Ausmaß von 86,95 m² mit dem vereinbarten Geschäftszweck einer Verwendung als Reisebüro. Das Objekt hat eine Front zur Fußgängerzone „F*straße“ mit einer Länge von etwa sechs Metern, eine Toilette und einen kleinen Back-Office-Bereich mit Küche, Tisch und einigen Sesseln, der als Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter dient. Der Großteil des Objekts wird als Kunden-Bereich verwendet; dort stehen fünf Tische mit je einem Stuhl für den Reisebüromitarbeiter und je zwei weiteren Stühlen für Kunden.
[2] Der monatliche Gesamtmietzins ist am Fünften des Monats fällig und betrug zuletzt 6.501,90 EUR einschließlich Betriebskosten und USt.
[3] Von 16. März bis 30. April 2020 war aufgrund § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz und den darauf basierenden Verordnungen des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen untersagt. Die davon vorgesehenen Ausnahmen für Bereiche der Grundversorgung galten nicht für das von der Beklagten gemietete Geschäftslokal.
[4] Der in der Filiale der Beklagten in dieser Zeit erwirtschaftete Umsatz betrug im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum nur einen Bruchteil (weniger als 10 %). Unter normalen Umständen arbeiten im Geschäftslokal insgesamt sechs Personen, wobei der Filialleiter vollzeitbeschäftigt und die fünf anderen Mitarbeiter mit einer Stundenzahl zwischen 25 und 35 Stunden teilzeitbeschäftigt sind.
[5] Etwa 70 % der Kunden der Beklagten buchen Reisen im Reisebüro nach persönlicher Beratung. Die übrigen Kunden lassen sich die Reise per Internet/Mail planen, doch suchen dann auch von diesen Kunden zumindest 90 % die Filiale auf, um Unterschriften oder die Anzahlung zu leisten. Abgesehen von den Kundengesprächen erledigen die Mitarbeiter der Beklagten in der Filiale auch zahlreiche administrative Tätigkeiten, wie die Vorbereitung der Angebote für Kunden, Korrespondenz mit Veranstaltern, Bestellung und Schlichtung von Katalogen und Telefonate.
[6] Bis zum 16. März 2020 arbeitete keiner der Mitarbeiter im Home Office. Ab dem 16. März 2020 wurden keine Reisen mehr bei der Beklagten gebucht, doch waren die Mitarbeiter intensiv damit beschäftigt, Umbuchungen und Stornierungen abzuwickeln und Kunden, die im Ausland waren, bei der Rückreise nach Österreich zu unterstützen. Nach einigen Tagen konnten die Mitarbeiter auf Home Office umstellen und es erledigten nur mehr einzelne Mitarbeiter dringend notwendige Tätigkeiten im Geschäftslokal, wie etwa das Abholen von Unterlagen oder das Ablegen von Rechnungen. Diese Anwesenheit betrug für gewöhnlich nur bis zu einer Stunde pro Tag.
[7] Obwohl ab 1. Mai 2020 keine gesetzlichen Beschränkungen mehr für die Geschäftstätigkeit der Beklagten galten, ließ diese das Geschäftslokal noch geschlossen. Ab Juni 2020 war das Geschäft für vier Stunden pro Tag geöffnet und ab Herbst bis 16. November 2020 zwei oder drei Stunden pro Tag.
[8] Die Beklagte hatte den Mietzins für März 2020 bereits vor dem 16. März 2020 bezahlt und teilte der Klägerin am 27. März 2020 schriftlich mit, dass sie die Mietzinszahlungen wegen des Betretungsverbots für Kundenbereiche bis auf weiteres einstelle. Die Klägerin lehnte am 3. April 2020 eine Mietzinderungsminderung ab und mahnte am 10. April 2020 den Mietzins für April 2020 bei der Beklagten ein. Die Beklagte zahlte im April 2020 keinen Mietzins und im Mai 2020 die Differenz zum Gesamtmietzins durch Aufrechnung mit dem aliquoten Mietzins für März 2020.
[9] Die Klägerin begehrte von der Beklagten die Zahlung von 7.906,82 EUR (anteilige offene Mietzinse für April und Mai 2020). Die bestimmungsgemäße Nutzung des Kundenbereichs sei zwar untersagt, aber die Bürotätigkeit von den Maßnahmen nicht betroffen gewesen. Es sei jedenfalls keine Mietzinsminderung von mehr als 30 % gerechtfertigt, weshalb die Klägerin – unpräjudiziell ihres Rechtsstandpunkts – nur 70 % des Mietzinses fordere. Pandemiebedingte wirtschaftliche Nachteile der Beklagten habe nicht die Vermieterin, sondern die Beklagte als Unternehmerin zu tragen.
[10] Die Beklagte wandte zusammengefasst ein, von 16. März bis 30. April 2020 sei das Geschäftslokal „objektiv gänzlich unbrauchbar“ gewesen, weshalb sie für diesen Zeitraum zum Einbehalt des gesamten Mietzinses berechtigt gewesen sei.
[11] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 6.900,43 EUR sA und wies das Mehrbegehren von 1.006,30 EUR sA unbekämpft ab. Der Beklagten stehe aufgrund des Betretungsverbots eine Mietzinsminderung zu. Diese sei nach der Gebrauchseinschränkung für das Bestandobjekt und nicht nach der geschäftlichen Umsatz- oder Nachfrageverringerung zu bemessen, weil Letzteres zum allgemeinen Unternehmerrisiko zähle. Im Mai 2020 habe die Beklagte aus eigenen wirtschaftlichen Überlegungen ihr Geschäftslokal geschlossen gehalten. Infolge der eingeschränkten Verwendbarkeit des Objekts aufgrund der behördlichen COVID-19-Maßnahmen sei eine Mietzinsminderung von 30 % gerechtfertigt. Die Beklagte schulde daher für die Zeit von 1. bis 15. März den gesamten und für die Zeit von 16. bis 31. März 2020 sowie für den Monat April 2020 den aliquoten Mietzins von 70 %, während ab Mai 2020 wieder der volle Mietzins zu bezahlen gewesen sei. Auf Basis dieser Abrechnung ergebe sich der Zuspruch an die Klägerin.
[12] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen den klagsstattgebenden Teil des Ersturteils Folge und wies das gesamte Klagebegehren ab. Die COVID-19-Pandemie und deren Folgen seien nicht dem allgemeinen Unternehmerrisiko zuzuordnen. Ein Restnutzen des Bestandobjekts habe für die Beklagte infolge des massiven Umsatzrückgangs auf 10 % nicht mehr bestanden, weshalb das gesamte Klagebegehren nicht berechtigt sei.
[13] Das Berufungsgericht sprach nachträglich aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil sich der Oberste Gerichtshof mit der Frage der Risikoabgrenzung zwischen Vermieter und Mieter beim außerordentlichen Zufall noch nicht befasst habe.
[14] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen, hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.
[15] Die Beklagte beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
[16] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[17] 1. Die mit 16. März 2020 in Kraft getretene, auf der Ermächtigung des § 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes [BGBl I 2020/12, Art 8] beruhende Regelung des § 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, BGBl II 2020/96, („Schließungsverordnung“), verlängert durch die beiden Verordnungen BGBl II 2020/110 und BGBl II 2020/151, untersagte mit Ausnahme bestimmter Bereiche der Grundversorgung das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen sowie von Freizeit- und Sportbetrieben. Dieses Betretungsverbot galt gemäß BGBl II 2020/151 Z 6 bis zum 30. April 2020. Die in § 2 Z 1 (zunächst bis Z 21 später) bis Z 23 dieser Verordnung genannten Ausnahmen von den Betretungsverboten, die durch die erwähnten späteren Verordnungen teilweise ergänzt wurden, waren für Bereiche wie Apotheken, Lebensmittelhandel, Drogeriemärkte, Gesundheits- und Pflegedienstleistungen, Tankstellen, Banken, Postdiensteanbieter, Lieferdienste, öffentlicher Verkehr, Abfallentsorgungsbetriebe und Kfz-Werkstätten, später auch Bau- und Gartenmärkte sowie Pfandleihanstalten vorgesehen. Das von der Klägerin betriebene Reisebüro fällt nicht unter diese Ausnahmen. Im maßgeblichen Zeitraum 16. März bis 30. April 2020 galt daher für den Kundenbereich des Bestandobjekts der Beklagten ein behördliches Betretungsverbot.
[18] 2. Der Oberste Gerichtshof hat bereits in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass die infolge der COVID-19-Pandemie erlassenen behördlichen Maßnahmen einen außerordentlichen Zufall im Sinn der §§ 1104 f ABGB begründen (3 Ob 78/21y, 3 Ob 184/21m; 5 Ob 192/21b; 8 Ob 131/21d).
[19] 3. Wenn die in Bestand genommene Sache wegen eines außerordentlichen Zufalls gar nicht gebraucht oder benutzt werden kann, so ist nach § 1104 ABGB kein Mietzins zu entrichten. Behält der Mieter trotz eines solchen Zufalls einen beschränkten Gebrauch des Mietstücks, so wird ihm gemäß § 1105 ABGB ein verhältnismäßiger Teil des Mietzinses erlassen.
[20] 4. Die Frage, ob (teilweise) Unbenützbarkeit des Bestandgegenstands vorliegt, ist nach dem Vertragszweck zu beurteilen (3 Ob 184/21m). Die in §§ 1104, 1105 und 1107 ABGB angesprochene Unbrauchbarkeit folgt daher in ihren Grundsätzen der (teilweisen) Unbrauchbarkeit im Sinn des § 1096 ABGB. Die Bestandsache muss eine Verwendung zulassen, wie sie gewöhnlich nach dem Vertragszweck erforderlich ist und nach der Verkehrssitte erfolgt. Mangels anderer Vereinbarungen ist eine mittlere (durchschnittliche) Brauchbarkeit geschuldet (RS0021054; RS0020926). Für die Beurteilung ist in erster Linie die (ausdrückliche) Parteienvereinbarung bzw der dem Vertrag zugrunde gelegte Geschäftszweck maßgeblich (8 Ob 131/21d mzN). Der vereinbarte Bestandzweck war hier die Verwendung des Geschäftslokal als Reisebüro.
[21] 5. Durch das Betretungsverbot im hier allein strittigen Zeitraum von 16. März bis 30. April 2020 war das Geschäftslokal insofern nur mehr eingeschränkt zum vereinbarten Zweck verwendbar, als es von Kunden nicht mehr betreten und diese folglich nicht mehr in Präsenz betreut werden konnten. Demgegenüber konnte die Beklagte das Geschäftslokal dahin zum vereinbarten Verwendungszweck nutzen, als alle mit dem Betrieb eines Reisebüros anfallenden Bürotätigkeiten dort uneingeschränkt durchgeführt werden konnten. Der aus dem Betretungsverbot für Kunden resultierenden Gebrauchsbeschränkung des Geschäftslokals hat das Erstgericht durch eine Mietzinsminderung im Umfang von 30 % Rechnung getragen. Dass in diesem Zusammenhang eine unrichtige Bemessung durch das Erstgericht vorgelegen habe, macht die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung nicht geltend, sondern stützt sich allein darauf, dass es wegen der verheerenden Auswirkungen der Pandemie auf die gesamte Tourismus- und Reisebranche zum gänzlichen Erlass des Mietzinses kommen müsse.
[22] 6. Zur Frage, ob/inwieweit die infolge der COVID-19-Pandemie eingetretene Beeinträchtigung des vom Geschäftsraummieter erzielten/erzielbaren Umsatzes – generell, also unabhängig von der Anwendbarkeit der §§ 1104 f ABGB – eine Mietzinsminderung rechtfertigen könnte, finden sich in der Literatur unterschiedliche Standpunkte:
[23] 6.1 Nach Ehgartner/Weichbold (COVID-19: Mietzinsminderung für Geschäftsräume? wbl 2020, 250 [255]) verwirkliche sich lediglich das allgemeine Lebensrisiko, wenn für gewöhnlich belebte Einkaufsstraßen aufgrund der Einschränkungen des öffentlichen Lebens weniger stark frequentiert seien und dadurch ein Umsatzrückgang der angesiedelten Unternehmen eintrete; ebenso sei aber auch die Zuweisung der Arbeitsplätze seiner Mitarbeiter dem Geschäftsraummieter zuzuordnen, weshalb er etwa aus Regelungen über den erforderlichen Mindestabstand keine Mietzinsminderung ableiten könne. Ähnlich sieht das Hochleitner (Die Auswirkungen von COVID-19 auf Geschäftsraummieter und Pächter, ÖJZ 2020, 533 [537]), die ausführt, Betriebe, die durch die behördlichen Corona-Maßnahmen nicht geschlossen, sondern lediglich einen Umsatzrückgang erleiden würden, könnten sich nicht auf die §§ 1104, 1105 ABGB stützen, weil es sich – mangels anderer vertraglicher Vereinbarung – um einen Umstand handle, der allein in die Sphäre des Geschäftsraummieters falle (insoweit aA Ofner, Mietrecht und die COVID-19-Pandemie in Österreich, ZfRV 2020, 107 [110]). Auch Fadinger/Seeber (COVID-19 alleine reicht nicht für eine Mietzinsminderung gemäß §§ 1104 f ABGB, wobl 2020, 189 [193]) sind der Ansicht, ein bloßer Umsatzrückgang könne keine Mietzinsminderung nach §§ 1104 f ABGB rechtfertigen, weil der Vermieter nicht für ein schlecht laufendes Geschäft verantwortlich gemacht und das Risiko des Geschäftsmodells des Mieters nicht auf dem Vermieter überwälzt werden dürfe. Ähnlich sehen dies auch Tamerl (Die Gefahrtragung im Bestandrecht im Lichte der COVID-19-Pandemie, Zak 2020, 106 [109]), Lindenbauer (Auswirkungen von COVID-19 auf die Geschäftsraummiete: Aktuelle Entwicklungen, wobl 2021, 90 [93]) und Ofner (Mietrecht und die COVID-19-Pandemie in Österreich, ZfRV 2020, 107 [111]). Ausführlich befasst sich Pesek (Ausgewählte Fragen zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Mietzins bei Geschäftsraummieten, wobl 2021, 125 [131 ff]) mit diesem Thema und verweist auf die Bedeutung der Auslegung des konkreten Mietvertrags; im Regelfall sei davon auszugehen, dass die Ertragsfähigkeit des Mietgegenstands in Zeiten einer Pandemie nicht als Bestandteil des bedungenen Gebrauchs gewertet werden könne; eine allgemeine ungünstige Wirtschaftslage habe zwar Auswirkungen auf die Ertragsfähigkeit des Mietobjekts, dürfe aber nicht als „Preisgefahr“ auf den Vermieter überwälzt werden. Pesek hebt auch hervor, dass die gegenteilige Ansicht mit erheblicher Rechtsunsicherheit verbunden wäre, weil zB ein Geschäftslokal, das zum Betrieb einer Fleischerei in Bestand gegeben und als Zulieferer für Hotelbetriebe eingesetzt worden sei, im Zuge der Schließungen erhebliche Einbußen erlitten habe, während dies im Fall einer Belieferung von Supermärkten keine Umsatzeinbußen zur Folge gehabt hätte; im Übrigen könnten bei einer Anknüpfung an den jeweiligen Umsatzrückgang auch noch spätere, bloß mittelbare Folgewirkungen der Pandemie für eine Mietzinsminderung herangezogen werden (wobl 2021, 125 [136]). Auch P. Bydlinski (Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Geschäftsraummiete, ÖJZ 2021, 1065 [1071]) und Broesigke/Ruf (Zinsminderungsansprüche von Geschäftsraummieten während der Coronavirus-Krise unter Einbindung der Sphärentheorie, immo aktuell 2020, 77 [80]) sind der Auffassung, dass Umsatzrückgänge allein den Mieter eines Geschäftslokals nicht zur Mietzinsminderung berechtigen.
[24] 6.2 Demgegenüber möchten Prader/Gottardis (Auswirkungen einer Pandemie (COVID-19) auf das Mietrecht, immolex 2020, 106), Tschütscher (Auswirkungen der COVID-19-Beschränkungen auf Bestandrechte, ZAK 2020 184) und Vonkilch (Mietzinsminderung bei der Geschäftsraummiete, wobl 2021, 321) eine Mietzinsreduktion unmittelbar an Umsatzeinbußen des Geschäftsraummieters anknüpfen: Prader/Gottardis meinen, wenn „die gesamte Wirtschaft weitgehend zum Erliegen gekommen ist“, sei dies der Unbenutzbarkeit des Geschäftslokals „gleichzuhalten“ (immolex 2020, 106 [107]). Prader/Pittl (zu Reichweite und Wirkungen von COVID-19 im Bestandrecht, RdW 2020, 402 [404 f]) Nach Tschütscher sei eine „Gewichtung“ vorzunehmen, die für den jeweiligen Bereich die „erzielten bzw erzielbaren Umsätze“ berücksichtige; Beschränkungen infolge der Corona-Krise seien derart beispiellos und umfassend, dass niemand damit habe rechnen können, weshalb sie nicht dem Risiko des einzelnen Bestandnehmers zugeordnet werden könnten (Zak 2020 184 [185 f]). Vonkilch argumentiert, bei Geschäftsraummieten bestehe der zentrale Vertragszweck in der unternehmerischen Nutzung des Bestandobjekts, weshalb der durch die Gebrauchsbeeinträchtigung bewirkte Umsatzrückgang für die Ermittlung der Mietzinsbefreiung wesentlich sei (wobl 2021, 321 [327 f]).
[25] 7.1 Nach der bisherigen Rechtsprechung kommt es für einen allfälligen Mietzinsminderungsanspruch des Bestandnehmers eines Geschäftslokals maßgeblich darauf an, ob eine Beeinträchtigung der vertragsgemäßen Nutzung vorliegt, während ein Umsatzrückgang als solcher dafür im Allgemeinen für sich allein nicht ausreicht: So sind etwa für den Geschäftsraummieter vorhersehbare Umsatzeinbußen, die durch die Ansiedlung weiterer Konkurrenzbetriebe in der Umgebung eintreten, ohne besondere Umstände – wie etwa eine entsprechende (ausdrückliche oder durch ergänzende Auslegung erzielbare) Regelung im Bestandvertrag (Konkurrenzschutz) – kein Grund für eine Mietzinsminderung, liegt doch eine solche Situation im Bereich des Unternehmerrisikos (vgl RS0119192; RS0117011 [T1, T2]; Riss in Klete?ka/Schauer, ABGB-ON1.02 § 1107 Rz 2; Pesek in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1096 Rz 109).
[26] 7.2 Es mag nun durchaus zutreffen, dass die vorliegende Konstellation einer Pandemie mit weitreichenden weltweiten wirtschaftlichen Verwerfungen nicht unmittelbar mit kleinräumigen Konkurrenzverhältnissen vergleichbar ist. Als Grundsatz lässt sich aus der zuvor angesprochenen Judikatur aber doch ableiten, dass ein erheblicher Rückgang des Geschäftserfolgs des Bestandnehmers nicht schon per se eine Mietzinsreduktion rechtfertigt, sondern nur dann, wenn er auf einer Verletzung vertraglicher Verpflichtungen des Bestandgebers beruht (vgl 1 Ob 113/02b [verstSenat]) oder zumindest auf einer nach der Wertung der §§ 1104 f ABGB dem Bestandgeber zuzurechnenden Einschränkung der Benützbarkeit des Bestandgegenstands.
[27] 7.3 Nach Ansicht des Senats ist daher eine differenzierte Betrachtung erforderlich:
[28] 7.3.1 Soweit Umsatzeinbußen des Geschäftsraummieters eine unmittelbare Folge der COVID-19-Pandemie sind, die sämtliche Unternehmer wie (auch) den Mieter des Geschäftslokals, insbesondere dessen gesamte Branche, allgemein und insgesamt treffen, sind diese dem Unternehmerrisiko zuzuordnen und daher für den zu zahlenden Mietzins nicht relevant. Diese Auswirkungen der Pandemie sind keine Gebrauchsbeeinträchtigung des vom Vermieter vereinbarungsgemäß zur Verfügung zu stellenden Objekts. Die §§ 1096, 1104 f ABGB bilden daher keine Grundlage für eine allein darauf aufbauende Mietzinsminderung. Die gegenteiligen Lehrmeinungen zeigen keine, insbesondere keine überzeugenden und konkreten gesetzlichen Grundlagen auf, die es geboten erscheinen ließen, die praktisch global eine ganze Branche treffenden Umsatzeinbußen als Unbrauchbarkeit des bestimmten Bestandobjekts dem einzelnen Vermieter aufzubürden.
[29] 7.3.2 Lassen sich hingegen Umsatzeinbußen des Geschäftsraummieters auf behördliche Maßnahmen, hier also auf jene Betretungsverbote zurückführen, die anlässlich der COVID-19-Pandemie verfügt wurden, so sind solche Umsatzeinbußen konkrete Folgen einer objektiven Einschränkung des vertraglich bedungenen Gebrauchs des Bestandobjekts und im Rahmen einer Mietzinsminderung zu berücksichtigen.
[30] 7.3.3 Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten, dass Umsatzeinbußen des Geschäftsraummieters zwar ein Indiz dafür sein können, dass eine (teilweise) Unbrauchbarkeit des Bestandobjekts vorliegt, allerdings müssen diese Einbußen abgesehen von Fällen eines vertragswidrigen Verhaltens des Bestandgebers im Anwendungsbereich des § 1105 ABGB eine unmittelbare Folge der – etwa wegen behördlicher Maßnahmen – eingeschränkten Nutzungsmöglichkeit des konkreten Geschäftslokals sein. Bezogen auf den vorliegenden Fall könnte daher eine Umsatzeinbuße dann beachtlich sein, wenn diese aus dem Umstand resultiert, dass Kunden das von der Beklagten gemietete Geschäftslokal nicht betreten durften und daher nicht in Präsenz betreut werden konnten. Ohne Belang ist es dagegen, wenn Umsatzrückgänge darauf beruhen, dass sich Menschen namentlich infolge der gesundheitlichen Risken der Pandemie nicht zu Reisen entschließen wollten. Dass bei Ermittlungsschwierigkeiten bezüglich des Ausmaßes einer beachtlichen Beeinträchtigung und der daraus gegebenenfalls gerechtfertigten Zinsminderung das Gericht gemäß § 273 ZPO vorgehen darf, folgt zwanglos aus bereits vorliegender Rechtsprechung (vgl RS0109646; RS0021324 [T2]; vgl auch 5 Ob 192/21b).
[31] 8. Das Erstgericht erörterte zu Beginn des Verfahrens mit den Parteien ausdrücklich, dass Umsatzeinbußen nur dann für eine Minderung des Mietzinses beachtlich seien, wenn die behördliche Schließung des Geschäftslokals dafür kausal gewesen sei, nicht aber, wenn diese auf andere Gründe, wie zB die Verminderung der Reiseaktivitäten zurückzuführen seien (ON 8, Seite 2 = AS 43). Die Beklagte ist auch der Annahme des Erstgerichts nie konkret entgegengetreten, dass die Umsatzeinbuße auf 10 % des Vorjahresumsatzes auf der allgemein gesunkenen Nachfrage nach Reisen und nicht auf der fehlenden Möglichkeit beruht habe, das Geschäftslokal geöffnet zu halten. Die Beklagte stützt sich noch in ihrer Revisionsbeantwortung allein darauf, dass die weltweiten Folgen der Pandemie für die gesamte Tourismus- und Reisebranche zum gänzlichen Mietzinserlass führen müssten. Da dieser Umstand aber allein für eine (weitergehende) Mietzinsreduktion nicht ausreicht (vgl insbesondere Punkt 7.3.2), eine Umsatzeinbuße gerade aufgrund des Betretungsverbots – trotz Erörterung durch das Erstgericht – von der Beklagten nie konkret angesprochen und die Ausmittlung der Mietzinsminderung durch das Erstgericht auch aus keinen sonstigen Gründen angegriffen wird, war der Revision Folge zu geben und das Ersturteil wiederherzustellen.
[32] 9. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.
Textnummer
E134815European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0030OB00209.21P.0324.000Im RIS seit
19.05.2022Zuletzt aktualisiert am
19.05.2022