TE Vwgh Beschluss 1996/5/17 AW 96/21/0267

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Veröffentlicht am 17.05.1996
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

FrG 1993 §36 Abs2;
VwGG §30 Abs2;
VwGG §30 Abs3;
VwGG §63 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag des G in W, vertreten durch Dr. R, Rechtsanwalt in W, der gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 3. Jänner 1996, Zl. IV-831.760-FrB/95, betreffend Abschiebungsaufschub, erhobenen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, den Beschluß gefaßt:

Spruch

Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG wird dem Antrag mit der Wirkung stattgegeben, daß eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria bis zur Beendigung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, höchstens aber bis zum 14. August 1996, unzulässig ist.

Begründung

Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 3. Jänner 1996 wurde der am 14. August 1995 gestellte Antrag des Beschwerdeführers, gegen den eine Ausweisung erlassen ist, auf Erlassung eines Abschiebungsaufschubes gemäß § 36 Abs. 2 FrG abgewiesen. Zugleich mit der dagegen an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde stellt der Beschwerdeführer den Antrag, dieser die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Dieser Antrag wird damit begründet, daß durch seine Abschiebung während des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof der alleinige Zweck von dessen Anrufung durchkreuzt und die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes sinnlos würde.

Gemäß § 36 Abs. 2 FrG ist die Abschiebung eines Fremden auf Antrag oder von Amts wegen auf bestimmte, jeweils ein Jahr nicht übersteigende Zeit aufzuschieben, wenn sie gemäß § 37 FrG unzulässig ist oder aus tatsächlichen Gründen unmöglich scheint. Einer Beschwerde ist gemäß § 30 Abs. 2 VwGG die aufschiebende Wirkung mit Beschluß zuzuerkennen, insoweit dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung aller berührter Interessen mit dem Vollzug oder mit der Ausübung der mit Bescheid eingeräumten Berechtigung durch einen Dritten für den Beschwerdeführer ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.

Vorliegend ist also die Frage zu beantworten, ob der Bescheid, gegen welchen sich die Beschwerde richtet, einem "Vollzug" im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG zugänglich ist. Zu dieser Frage hat der Verwaltungsgerichtshof in einem verstärkten Senat ausgesprochen, daß das Rechtsinstitut der aufschiebenden Wirkung als ein die Funktionsfähigkeit jenes Rechtsschutzsystems stützendes Element anzusehen ist, im Rahmen dessen der Verwaltungsgerichtshof zur Prüfung der Rechtmäßigkeit von Bescheiden berufen ist. Diese in der Bescheidprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof gegebene Rechtsschutzfunktion dürfe durch einen Vollzug des angefochtenen Bescheides während der Dauer des Beschwerdeverfahrens nicht ausgehöhlt werden. Unter "Vollzug" im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG sei daher die Umsetzung des Bescheides in die Wirklichkeit zu verstehen und eine Rücksichtnahme auf jene Folgen notwendig, die den Beschwerdeführer bei einer Umsetzung des Bescheides in die Wirklichkeit treffen würden (Erkenntnis vom 25. Februar 1981, Slg. Nr. 10.381/A; Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung bei einem Bescheid, mit dem eine Berufung als verspätet zurückgewiesen wurde). Diese am Rechtsschutzgedanken orientierte Auslegung des § 30 Abs. 2 VwGG findet ihre Bestätigung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, derzufolge Einschränkungen des Grundsatzes der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfes nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig sind (vgl. etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Dezember 1995, G 1306/95, m. w.N.). Diese Aussage trifft auch für den Rechtsbehelf der aufschiebenden Wirkung gemäß § 30 Abs. 2 VwGG zu.

Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, als auch der Verfassungsgerichtshof gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß die Entscheidung betreffend die Außerlandesschaffung eines Fremden unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK erheblich werden und eine Verantwortlichkeit des betreffenden Staates nach sich ziehen - und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, daß der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden (Refoulement-Verbot; vgl. etwa das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 30. Oktober 1991 im Falle Vilvarajah u.a., ÖJZ 1992, 309 ff, sowie das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 16. Juni 1994, B 1774/93, jeweils mit weiteren Nachweisen). Unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK besteht für die Fremdenbehörden diesbezüglich eine besondere Sorgfaltspflicht. Das in Art. 13 EMRK gewährleistete Recht auf eine wirksame Beschwerde gegen die vertretbar behauptete Verletzung eines in der EMRK gewährleisteten Rechts kommt im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls zum Tragen, wobei von einer wirksamen Beschwerde nur dann gesprochen werden kann, wenn mit diesem Rechtsmittel auch eine aufschiebende Wirkung verbunden ist (vgl. das genannte Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde durch die Erlassung des angefochtenen Bescheides nicht nur den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung eines Abschiebungsaufschubes gemäß § 36 Abs. 2 FrG abgewiesen, sondern damit auch ihre Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria gemäß § 37 FrG zulässig ist. Würde der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid mit der Begründung aufheben, daß die belangte Behörde die Frage des Vorliegens des Refoulement-Verbotes bezüglich Nigeria unrichtig beurteilt hat, so wäre die belangte Behörde gemäß § 63 Abs. 1 VwGG verpflichtet, mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen, vorliegend also von einer Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria Abstand zu nehmen. Dem § 30 Abs. 2 und § 63 Abs. 1 VwGG kann im Lichte des Rechtsschutzprinzips nicht die Bedeutung unterstellt werden, die Behörde könnte durch die vorzeitige Abschiebung eines Fremden diese allenfalls durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes bewirkte Verpflichtung gemäß § 63 Abs. 1 VwGG unterlaufen. Im vorliegenden Fall kommt noch dazu, daß der Beschwerdeführer glaubwürdig behauptet, sich nach Erlassung des Bescheides betreffend seine Ausweisung in Schubhaft befunden zu haben, wodurch ihm die Möglichkeit zur Erhebung von Rechtsmitteln - somit auch eines Antrages gemäß § 54 FrG - faktisch nicht gegeben gewesen sei. Der vom Beschwerdeführer - soweit ersichtlich nicht offenkundig mißbräuchlich - gestellte Antrag gemäß § 36 Abs. 2 FrG erscheint für ihn daher das einzig verbleibende Mittel, das Refoulement-Verbot durchzusetzen, zumal er es auch im Rahmen einer Schubhaftbeschwerde nicht aufwerfen können dürfte, weil grundsätzlich die Möglichkeit einer Antragstellung gemäß § 54 FrG bestand (vgl. etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Juni 1994, B 1774/93). Der angefochtene Bescheid ist daher einem "Vollzug" im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG zugänglich.

Im vorliegenden Fall ist auch offensichtlich, daß die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria bei Zutreffen der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch zu prüfenden Beschwerdebehauptungen - für ihn bestehe in diesem Staat eine unmittelbare Gefährdung für Leib und Leben - einen unverhältnismäßigen Nachteil im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG bedeuten würde. Dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung war daher für jenen Zeitraum von einem Jahr beginnend mit der Stellung des Antrages auf Erteilung eines Abschiebungsaufschubes stattzugeben, für den gemäß § 36 Abs. 2 FrG ein solcher höchstens erlassen werden darf (dazu, daß diese Frist mit dem Antrag zu laufen beginnt, vgl. etwa den hg. Beschluß vom 17. April 1996, Zl. 95/21/1114).

Schlagworte

Begriff der aufschiebenden Wirkung Entscheidung über den Anspruch Unverhältnismäßiger Nachteil Verfahrensrecht Vollzug

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:AW1996210267.A00

Im RIS seit

14.12.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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