TE Vwgh Beschluss 2022/4/20 Ra 2020/14/0407

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Veröffentlicht am 20.04.2022
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Index

E1P
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §7
AVG §7 Abs1
AVG §7 Abs1 Z3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art6
VwGG §28 Abs3
VwGG §31 Abs2
VwGG §34 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §6
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache des A H in S, vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2020, W225 2161538-1/33E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 11. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2        Mit Bescheid vom 10. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Seit dem 29. März 2018 war er im Beschwerdeverfahren durch den nunmehrigen Revisionswerbervertreter anwaltlich vertreten.

4        Das BVwG führte zunächst am 29. Jänner 2020 eine mündliche Verhandlung durch, die für voraussichtlich vier Stunden ab 14 Uhr anberaumt worden war, letztlich bis 19 Uhr dauerte und in der der Revisionswerber vernommen wurde. Am Ende der Verhandlung wurde dem Revisionswerber eine Frist von einer Woche zur Mitteilung allfälliger Einwendungen (gegen die Niederschrift) eingeräumt.

5        Mit Schriftsatz vom 5. Februar 2020 erhob der Revisionswerber insgesamt 41 näher ausgeführte Einwendungen gegen die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 29. Jänner 2020. Zugleich erklärte er die „Ablehnung“ der zuständigen Richterin des BVwG „im Sinne von § 7 Abs. 1 Z 3 AVG“ wegen Vorliegens wichtiger Gründe, die geeignet seien, ihre volle Unbefangenheit in Zweifel zu ziehen, nämlich im Wesentlichen näher dargestelltes behauptetes Verhalten der Richterin im Rahmen der Verhandlung und ihre Weigerung, bestimmte Anträge des Beschwerdeführervertreters zu protokollieren.

6        Am 7. Februar 2020 erfolgte die Ausschreibung einer fortgesetzten mündlichen Verhandlung für den 26. Februar 2020 von 8 bis 18 Uhr. Gemeinsam mit den Ladungen teilte das BVwG den Verfahrensparteien mit, dass es beabsichtige, der Entscheidung die in einer angeschlossenen Liste angeführten Beweismittel zur Lage im Herkunftsstaat des Revisionswerbers zu Grunde zu legen bzw. diese zu verwerten. Es bestehe die Möglichkeit, sich zu diesen Beweismitteln vorab schriftlich oder spätestens in der mündlichen Verhandlung zu äußern. Die beigelegte Liste („Beweismittel zur Lage in Afghanistan, Stand: 02.01.2020“) umfasste insgesamt 18 Dokumente der Staatendokumentation, des UNHCR, von EASO, ACCORD und anderer Stellen.

7        Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2020 beantragte der Revisionswerber eine Verlängerung der eingeräumten Stellungnahmefrist im Hinblick auf den Umfang dieser Unterlagen. Zugleich erklärte er erneut die „Ablehnung“ der zuständigen Richterin. Der psychisch belastete Revisionswerber sei nach der fünfstündigen Verhandlung am 29. Jänner 2020 völlig erschöpft gewesen. Der Richterin müsse außerdem bekannt sein, dass die Verfassung einer anwaltlichen Stellungnahme zu landeskundlichen Dokumenten im Umfang von mehr als 1500 Seiten für den Revisionswerber mit enormen Kosten verbunden sei. Es liege daher der Verdacht nahe, dass es sich bei der Übermittlung der Liste von Beweismitteln (mit einem Gesamtumfang von 1900 Seiten) und der Anberaumung einer zehnstündigen Verhandlung nach der Ablehnung der Richterin vor allem um „eine Strafmaßnahme für das unbotmäßige Verhalten“ des Revisionswerbers und seines Vertreters handle.

8        In der mündlichen Verhandlung vom 26. Februar 2020 wurde die Vernehmung des Revisionswerbers fortgesetzt, weiters wurden zwei vom Revisionswerber zum Beweis seiner Integrationserfolge beantragte Zeugen vernommen - diese waren bereits für den 29. Jänner 2020 stellig gemacht worden.

9        Nachdem die Richterin in der Verhandlung bekannt gab, den Einwendungen gegen die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 29. Jänner 2020 in sechs Punkten nicht nachzukommen, erfolgte im Hinblick auf einen entsprechenden Beweisantrag des Revisionswerbers noch die Vernehmung zweier Zeugen über den Ablauf der mündlichen Verhandlung vom 29. Jänner 2020. Am Ende der zehnstündigen Verhandlung beantragte der Revisionswerber wieder eine Frist von zwei Wochen „für etwaige Vorbringungen und Berichtigungen im Sinne des § 14 AVG“, woraufhin den Verfahrensparteien eine Frist von zwei Wochen eingeräumt wurde.

10       Mit Schriftsatz vom 11. März 2020 erhob der Revisionswerber insgesamt 59 näher darstellte Einwendungen und zwei Anmerkungen zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 26. Februar 2020. Zugleich wiederholte er die „Ablehnung“ der zuständigen Richterin des BVwG und begründete dies mit einer angeblich unverhältnismäßigen Androhung der Sitzungspolizei gegenüber dem Vertreter des Revisionswerbers und dem Umstand, dass - näher ausgeführt - unter Anleitung der Richterin insgesamt eine Protokollierung zu Lasten des Revisionswerbers vorgenommen worden sei, während für die Richterin offensichtlich nicht genehme Passagen nicht protokolliert worden seien. Eine offensichtliche Abneigung der Richterin gegenüber dem Revisionswerber zeige sich auch bei - näher dargestellten - Nebensächlichkeiten.

11       Am 11. Mai 2020 und am 14. Mai 2020 erstattete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Schriftsätze mit ergänzendem inhaltlichen Vorbringen bzw. einer Stellungnahme zur Verhandlungsführung der Richterin; diese wurden dem Revisionswerber vom BVwG nicht weitergeleitet.

12       Mit schriftlichem Erkenntnis des BVwG vom 20. Mai 2020 wurde die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet abgewiesen. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

13       Die inhaltliche Entscheidung begründete das BVwG im Wesentlichen damit, dass dem Revisionswerber hinsichtlich des von ihm geschilderten Fluchtvorbringens (Verfolgung durch die Taliban aufgrund einer Anmeldung zum Militärdienst) keine Glaubwürdigkeit zukomme und ihm auch aus anderen im Laufe des Verfahrens vorgebrachten Gründen (Volksgruppenzugehörigkeit, behauptete Abkehr vom Islam und „westlich“ orientierte Lebensweise) keine Verfolgung im Herkunftsstaat drohe. Trotz einer als volatil einzuschätzenden Herkunftsregion sei dem Revisionswerber auch kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen, weil ihm - als ausgebildetem, arbeits- und anpassungsfähigem jungen Mann - eine näher dargelegte innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei trotz des damit verbundenen Eingriffs in das grundrechtlich geschützte Privatleben des Revisionswerbers zulässig, weil - auch unter Berücksichtigung seiner viereinhalbjährigen Aufenthaltsdauer im Inland, Schritten zur Integrationsverfestigungen und Bemühungen um eine gute Integration - die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die Interessen des Revisionswerbers an seinem Verbleib überwögen.

14       Darüber hinaus befasste sich das BVwG im Erkenntnis umfassend einerseits mit den Einwendungen des Revisionswerbers gegen die Niederschriften zu den mündlichen Verhandlungen und andererseits dem Vorbringen, wonach die erkennende Richterin befangen sei.

Nach entsprechenden Feststellungen, einer eingehenden Beweiswürdigung und rechtlichen Erwägungen zur Funktion einer Niederschrift und den rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung hielt das BVwG dazu fest, dass es sich bei einer Vielzahl der Einwendungen um bloße Berichtigungen von offenkundigen Tipp- und Schreibfehlern handle; vereinzelt werde die Ersetzung, Ergänzung oder Streichung von Sätzen, Wörtern oder einzelnen Wortfolgen begehrt. Die begehrten Berichtigungen seien nicht geeignet, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt in irgendeiner Form abzuändern oder zu ergänzen. Die Berichtigungen wären daher nicht notwendigerweise vorzunehmen, würden aber zur Hintanhaltung jeden Zweifels über die Vollständigkeit oder Richtigkeit des Protokolls zuerkannt. Allerdings entsprächen insgesamt 11 näher bezeichnete Einwendungen (von 41) betreffend die erste Niederschrift und 19 Einwendungen (von 59) betreffend die zweite Niederschrift - aus näher dargelegten Erwägungen - nicht dem tatsächlichen Hergang der Verhandlungen, belegten daher nicht eine Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Niederschriften, sodass ihnen nicht zu entsprechen sei.

Schließlich hielt das BVwG fest, dass die erkennende Richterin nicht befangen sei. Insbesondere sei die Übermittlung des Konvoluts von Erkenntnisquellen zum Zwecke der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens erfolgt und stelle keine Strafmaßnahme oder „Retourkutsche“ für die erfolgte Ablehnung dar. Nach Auseinandersetzung mit dem übrigen diesbezüglichen Vorbringen kam das BVwG zum Ergebnis, dass keine Gründe hervorgekommen seien, die geeignet seien, die volle Unvoreingenommenheit der erkennenden Richterin in Zweifel zu ziehen. Sie erkläre sich daher nicht für befangen.

15       Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 14. Juli 2020, E 2220/2020-5, ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In der Folge wurde die vorliegende außerordentliche Revision eingebracht.

16       In dem darüber vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet. Die erkennende Richterin des BVwG gab über Aufforderung des Verwaltungsgerichtshofes eine Stellungnahme zum Revisionsvorbringen ab, in der sie unter anderem die behaupteten Vorkommnisse in tatsächlicher Hinsicht zum Teil bestritt. Der Revisionswerber replizierte darauf.

17       Die Revision ist nicht zulässig:

18       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

19       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Nach § 34 Abs. 3 VwGG ist ein solcher Beschluss in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

20       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

21       Die Revision begründet ihre Zulässigkeit ausschließlich damit, dass das angefochtene Erkenntnis von einer im Sinne des § 6 VwGVG und § 7 Abs. 1 Z 3 AVG iVm § 17 VwGVG befangenen Richterin erlassen worden sei, diese sich also in Abweichung von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht ihres Amtes enthalten habe. Lediglich hilfsweise wird auch uneinheitliche bzw. fehlende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage geltend gemacht, ob bei Geltendmachung von Befangenheitsgründen die Relevanz dieses Mangels für den Verfahrensausgang dargetan werden müsse.

22       Die Richterin des BVwG habe im Beschwerdeverfahren deutlich und in mehrfacher Hinsicht den Eindruck von Befangenheit vermittelt:

So habe sie den ausgewiesenen Rechtsanwalt angesichts eines höflich vorgetragenen Beweisanbots mit den Worten „Das interessiert mich jetzt Nüsse“ brüskiert und dies nicht protokoliert; die Schilderung der Fluchtgründe des Revisionswerbers im Dialekt mit den Worten „Sind wir jetzt fertig?“ unterbrochen; dem Rechtsanwalt trotz seines Handzeichens erst nach einiger Zeit das Wort erteilt und seine Frage, ob er ad hoc zur Wahrheitsfindung beitragen dürfe, schroff mit den Worten „Nein, jetzt nicht“ beantwortet; näher genannte förmliche Anträge des Rechtsanwalts nicht protokolliert; trotz Hinweises darauf, dass in § 14 AVG eine zweiwöchige Frist vorgesehen sei, nur eine einwöchige Frist für Einwendungen eingeräumt; dem Rechtsanwalt mehrfach Verfahrensverschleppung und den Versuch, mittels Einwendungen die Aussagen seines Mandaten auszubessern, unterstellt; eine nachteilige Feststellung zum Gesundheitszustand des Revisionswerbers protokolliert, ohne diese (hörbar) zu äußern; unmissverständlich in der ersten Verhandlung zum Ausdruck gebracht, dass die Angelegenheit für sie abgesehen von den noch offenen Zeugenanträgen entscheidungsreif sei, und dies nicht protokolliert; in der Folge aber dennoch - offenbar in Reaktion auf die Ablehnungserklärung - eine zehnstündige Verhandlung anberaumt und Beweismittel im Umfang von 1900 Seiten ins Verfahren eingeführt, wobei ihr bekannt sein habe müssen, dass eine rechtsanwaltliche Stellungnahme dazu mit enormen Kosten für den Mandanten verbunden wäre; einem Fristverlängerungsantrag nicht entsprochen und das Erkenntnis vor Ablauf der durch die Corona-Pandemie unterbrochenen Stellungnahmefrist erlassen; in der zweiten Verhandlung dem Rechtsanwalt in unverhältnismäßiger Weise die Ausübung der Sitzungspolizei angedroht, weil er angeblich versucht habe, eine Zeugin zu beeinflussen, obwohl er nur angehoben habe, die Richterin um weiteres Notizpapier zu ersuchen; die Angaben der Zeugin, die dies bestätigt habe, nicht protokolliert; eine Frage an eine als Zeugin vernommene Unterstützerin derartig zynisch gestellt, dass der Rechtsanwalt dies in seiner Mitschrift sogar eigens vermerkt habe; nachdem die Vermutung geäußert worden sei, dass die Anschrift auf der Ladung einer Zeugin nicht korrekt sei, gleich gemutmaßt, dass dies am Beweisantrag des Revisionswerbers gelegen sei; ohne Erörterung und Beweisverfahren plötzlich festgehalten, dass bestimmte Einwendungen „jedenfalls“ nicht korrigiert würden und nicht den Gegebenheiten der vergangenen Verhandlung entsprächen; obwohl der Revisionswerber schon in der ersten Verhandlung auf seine psychischen Probleme hingewiesen habe und die Durchsicht der Niederschrift wegen Erschöpfung abgebrochen habe, eine weitere zehnstündige Verhandlung ausgeschrieben und durchgeführt, obwohl der Revisionswerber angegeben habe, in der Nacht kaum geschlafen zu haben; die Protokollierung über die Erörterung der Einwendungen über die letzte Niederschrift unrichtig vorgenommen; dem Rechtsanwalt durch eine konkrete Protokollformulierung eine „selbstbeschuldigende Aussage“ (über die Versäumung einer Vorlagefrist) in den Mund gelegt; ihr unangenehme Aussagen von Zeugen nicht oder nicht vollständig protokolliert und schließlich den Einwand des Rechtsanwaltes, die Richterin habe eine Suggestivfrage gestellt, und ihre Entgegnung darauf, dass ihr die Formulierung ihrer Fragen selbst obliege, nicht protokolliert.

Über dieses bereits im Verfahren vor dem BVwG thematisierte Vorbringen hinaus begründet die Revision den Eindruck der Befangenheit im Rahmen des Zulässigkeitsvorbringens weiters mit einer angeblichen Begebenheit nach Ende der ersten Verhandlung: So habe die Richterin das Gespräch mit dem Revisionswerber (und den noch anwesenden, noch nicht vernommenen Zeugen) ohne dessen Anwalt gesucht und ihn dazu überreden versucht, sich anstelle des Rechtsanwaltes von der kostenlosen Rechtsberatung vertreten zu lassen und zur Verfahrensbeschleunigung auf die beantragten Zeugen zu verzichten. Weiters habe die Richterin die Verfahrensparteien ungleich behandelt, weil der Vertreter der belangten Behörde sehr wohl die Richterin in ihrer Befragung ungerügt unterbrechen und eine Zwischenfrage an den Revisionswerber habe stellen dürfen; die belangte Behörde trotz Ablaufs einer ihr gesetzten Stellungnahmefrist erneut zu einer Äußerung aufgefordert worden sei und die beiden nach der zweiten Verhandlung erstatteten Schriftsätze der belangten Behörde nicht an den Revisionswerber weitergeleitet worden seien, sondern überraschend ein Erkenntnis erlassen worden sei. Es mute im Übrigen merkwürdig an, dass die Ordnungszahl 15 im Akt angeblich irrtümlich angelegt worden sei: der zuständige Referent des BVwG habe zunächst mitgeteilt, dass nichts von der Akteneinsicht ausgenommen sei, dann aber, dass es sich bei dem Aktenstück unter dieser Ordnungszahl um einen offenbar von der Akteneinsicht ausgenommenen Aktenvermerk der Richterin über die vorhergehende Verhandlung handle; es bestehe also der Verdacht, dass ein solcher Aktenvermerk nachträglich aus dem Gerichtsakt entfernt worden sei. Schließlich habe die Richterin dem Rechtsanwalt im Rahmen des Erkenntnisses tatsachenwidrig unterstellt, seine im Zuge des Verfahrens getätigte Äußerung, er habe zuvor noch nie einen Richter abgelehnt, sei unwahr.

Die offensichtliche Befangenheit der Richterin habe sich auch auf das Erkenntnis ausgewirkt, weil bei unvoreingenommener Beurteilung die festgestellte posttraumatische Belastungsstörung mit der vorgebrachten Verfolgung durch die Taliban in Verbindung gebracht worden und die Beweiswürdigung hinsichtlich des vorgebrachten Abfalls vom Glauben anders erfolgt wäre. Angesichts der herausragenden Integration des Revisionswerbers wäre zumindest die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zu seinen Gunsten ausgegangen.

23       Zur Frage der Behandlung einer von einer Verfahrenspartei geltend gemachten möglichen Befangenheit einer Richterin oder eines Richters eines Verwaltungsgerichtes ist angesichts der mehrfach während des Verfahrens erklärten „Ablehnung“ der erkennenden Richterin des BVwG zunächst festzuhalten:

24       Nach § 6 VwGVG haben sich u.a. Mitglieder des Verwaltungsgerichtes unter Anzeige an den Präsidenten der Ausübung ihres Amtes „wegen Befangenheit“ (nicht aber bereits bei bloßer Behauptung des Vorliegens einer Befangenheit durch eine Partei) zu enthalten. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine allfällige Befangenheit von Amts wegen wahrzunehmen, ein Ablehnungsrecht der Parteien besteht diesbezüglich nicht (vgl. VwGH 18.2.2015, Ra 2014/03/0057, mwN). Eine Verletzung des § 6 VwGVG durch ein Mitglied des Verwaltungsgerichtes begründet jedoch eine Rechtswidrigkeit der von ihm getroffenen Entscheidung infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und hat bei Zulässigkeit der Revision zur Aufhebung der Entscheidung aus diesem Grunde zu führen. Dabei muss - zumindest im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK oder, wie vorliegend, des Art. 47 GRC - nicht geprüft werden, ob die Befangenheit für das Ergebnis des Verfahrens von Relevanz gewesen wäre (vgl. VwGH 19.10.2016, Ra 2015/12/0081; 25.6.2019, Ra 2018/19/0676, je mwN).

25       Da nach § 17 VwGVG für Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG auch die Bestimmung des § 7 AVG anzuwenden ist, ist die dazu ergangene Rechtsprechung auch für die Befangenheit iSd § 6 VwGVG maßgeblich.

Das Wesen der Befangenheit besteht nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes grundsätzlich in der Hemmung einer unparteiischen Entscheidung durch unsachliche psychologische Motive. Auch Mitglieder der Verwaltungsgerichte haben sich gemäß § 7 Abs. 1 Z 3 AVG (neben den in Z 1, 2 und 4 leg cit genannten Fällen) der Ausübung des Amts im Sinne des § 6 VwGVG zu enthalten, wenn sonstige wichtige Gründe vorliegen, die geeignet sind, ihre volle Unbefangenheit in Zweifel zu ziehen. Zum Vorliegen des Befangenheitsgrundes nach § 7 Abs. 1 Z 3 AVG genügen Umstände, die die volle Unbefangenheit zweifelhaft erscheinen lassen und die eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Befangenheit begründen können. Es genügt somit, dass eine Befangenheit mit Grund befürchtet werden muss - auch wenn der Entscheidungsträger tatsächlich unbefangen sein sollte - oder dass bei objektiver Betrachtungsweise auch nur der Anschein einer Voreingenommenheit entstehen könnte. Für die Beurteilung, ob eine Befangenheit in diesem Sinne vorliegt, ist maßgebend, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller konkreten Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Organwalters zu zweifeln (vgl. jeweils VwGH 18.2.2015, Ra 2014/03/0057, mwN).

26       Jeder Vorwurf einer Befangenheit hat konkrete Umstände aufzuzeigen, welche die Objektivität des Entscheidungsträgers in Frage stellen oder zumindest den Anschein erwecken können, dass eine parteiische Entscheidung möglich ist. Nur eindeutige Hinweise, dass ein Entscheidungsträger seine vorgefasste Meinung nicht nach Maßgabe der Verfahrensergebnisse zu ändern bereit ist, können seine Unbefangenheit in Zweifel ziehen (VwGH 21.1.2020, Ra 2019/01/0393 bis 0396, mwN).

27       Der Vorwurf von Verfahrensfehlern - hier etwa die behauptete Nichtprotokollierung bestimmter Vorgänge, die Setzung vom Gesetz abweichender Fristen, die Nichtweiterleitung von Eingaben der belangten Behörde und dergleichen - bildet ohne Hinzutreten weiterer begründeter Umstände keinen Anlass, die Befangenheit des Richters oder der Richterin anzunehmen (vgl. VwGH 15.11.2017, Ra 2016/08/0184 bis 0185, 27.4.2021, Ra 2021/19/0082, je mwN).

28       Eine solche lässt sich im konkreten Fall - selbst unter Berücksichtigung der von der Revision hervorgehobenen Begleitumstände - auch nicht aus der ausdrücklichen Einräumung von Parteiengehör zu möglicherweise entscheidungsrelevanten, auch umfangreichen Dokumenten ableiten, zumal das gewählte Vorgehen vor allem in Verfahren betreffend Anträge auf internationalen Schutz in Bezug auf Afghanistan angesichts des Umfangs diesbezüglich verfügbarer Erkenntnisquellen nicht als unüblich anzusehen ist.

29       Auch nicht jede verbale Entgleisung indiziert eine Befangenheit, wenn nicht die dabei manifestierte Wortwahl geeignet ist, begründete Zweifel an der Bereitschaft des Richters oder der Richterin daran zu erwecken, dass die Einwendungen der Partei im gebotenen Umfang ernst genommen werden und ihr Vorbringen auch zu ihren Gunsten geprüft wird (vgl. zur Annahme von Befangenheit auf Grund der Wortwahl, wenn der Verkehr zwischen Gericht und Parteien nicht sachlich geführt wird, VwGH 18.2.2015, Ra 2014/03/0057, mwN, und VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0676).

30       Unter Berücksichtigung der sich aus dem Vorbringen und dem Akteninhalt ergebenden Gesamtumstände wären bei den in der Revision behaupteten Äußerungen und Verfügungen der Richterin im Zuge der beiden Verhandlungen noch keine Befürchtungen dahingehend angezeigt, dass sie nicht bereit gewesen wäre, auf relevantes Vorbringen des Revisionswerbers und seines Vertreters - allenfalls zu gegebener Zeit - einzugehen und sich damit inhaltlich zu befassen.

31       Zweifel an der Unbefangenheit der Richterin lassen sich konkret auch nicht aus ihren Äußerungen nach Ende der ersten mündlichen Verhandlung gegenüber (noch nicht vernommenen) Zeugen, allenfalls auch dem Revisionswerber selbst, dazu ableiten, wonach die Notwendigkeit der Vernehmung dieser Zeugen (und damit eines weiteren Verhandlungstermins, der mit weiteren Kosten verbunden ist) im konkreten Fall ausschließlich aus dem entsprechenden Beweisantrag folge; mag dies möglicherweise auch in einer Art und Weise formuliert gewesen sein, dass dies als - einem Entscheidungsorgan in dieser Form nicht zustehende - Empfehlung zum Wechsel des Rechtsvertreters und/oder Zurückziehung der Beweisanträge aufgefasst worden sein könnte.

32       Ganz grundsätzlich erschließt sich aus dem Revisionsvorbringen und dem übrigen Akteninhalt das Bild eines konfliktbehafteten und nicht friktionsfreien Verfahrens- und vor allem Verhandlungsablaufs, der - unabhängig von der Frage nach der Verantwortung und den Gründen dafür - den Beteiligten besondere Anstrengungen zur Sicherung einer sachlichen Entscheidungsfindung abverlangt.

33       Ungeachtet solcher Umstände ist einer Richterin und einem Richter auch aus Sicht eines Beteiligten bei vernünftiger Würdigung aller konkreten Umstände zunächst zuzugestehen, dass sie oder er dazu fähig ist, eine möglicherweise belastete Verhandlungssituation nicht in die Entscheidung in der Sache einfließen zu lassen. Daher kann aus den von der Revision vorgebrachten Vorkommnissen, auch in ihrer Gesamtheit, noch nicht zwingend der Anschein einer Befangenheit abgeleitet werden.

34       Im vorliegenden Fall lässt sich nicht zuletzt aus der auch in der Sache äußerst sorgfältig und ohne jegliche Unsachlichkeit ausgeführten Entscheidungsbegründung - mag das Erkenntnis auch der Beschwerde vollumfänglich nicht Folge geben - keinerlei Anhaltspunkt dafür ableiten, dass die erkennende Richterin des BVwG aus unsachlichen psychologischen Motiven an einer unparteiischen Entscheidungsfindung gehemmt gewesen wäre oder unabhängig vom Verfahrensinhalt lediglich eine gegen den Revisionswerber vorgefasste Meinung umgesetzt hätte.

35       Weil sich somit auch unter Zugrundelegung des gesamten Zulässigkeitsvorbringens nicht ergibt, dass eine Befangenheit vorgelegen wäre, die die erkennende Richterin des BVwG veranlassen hätte müssen, sich nach § 6 VwGVG wegen Befangenheit ihres Amtes zu enthalten, waren eine Klärung und Feststellung des diesbezüglich strittig gebliebenen Sachverhaltes durch den Verwaltungsgerichtshof sowie die dazu seitens des Revisionswerbers beantragte Beweisaufnahme nicht erforderlich.

36       In der Revision werden damit im Ergebnis keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

37       Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 20. April 2022

Schlagworte

Ablehnung wegen Befangenheit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020140407.L00

Im RIS seit

13.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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