Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Mag. Claus Marchl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Familienzeitbonus, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 31. Mai 2021, GZ 8 Rs 15/21s-16 womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 5. Oktober 2020, GZ 9 Cgs 100/20d-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil zu lauten hat:
„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei den Familienzeitbonus anlässlich der Geburt des Kindes F* am 27. August 2019 für den Zeitraum von 5. September 2019 bis 30. September 2019 in der Höhe von 22,60 EUR täglich zu gewähren und die bereits fälligen Beträge binnen 14 Tagen zu zahlen.
2. Hingegen wird das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei einen Familienzeitbonus auch für den Zeitraum von 1. September 2019 bis 4. September 2019 im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, abgewiesen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 609,67 EUR (darin 101,61 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Familienzeitbonus aus Anlass der Geburt seines Sohnes F* am 27. 8. 2019 für den Zeitraum von 1. 9. 2019 bis 30. 9. 2019.
[2] Im Zeitraum von 1. 9. 2019 bis 30. 9. 2019 lebte der Kläger mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn in einem Einfamilienhaus, das im Eigentum der Eltern seiner Lebensgefährtin steht. Dieses Haus besteht nach einem Dachgeschoßausbau aus zwei Wohnbereichen. Die Gemeinde ordnete dem Haus im Zug dieses Dachgeschoßausbaus zwei Top-Nummern zu, und zwar – nach dem unstrittigen Vorbringen des Klägers – dem Erdgeschoß die Top-Nummer 1 und dem Obergeschoß die Top-Nummer 2. Der Kläger wohnte im hier relevanten Zeitraum mit seiner Lebensgefährtin, dem gemeinsamen Kind und der Großmutter der Lebensgefährtin im Erdgeschoß. Die Eltern seiner Lebensgefährtin wohnten im Obergeschoß. Die „hauptwohnsitzliche“ Meldung des Klägers lautet auf „A*/1“ (= Erdgeschoß). Die „hauptwohnsitzliche“ Meldung der Lebensgefährtin des Klägers lautete – ebenso wie jene des gemeinsamen Kindes – bis 5. 9. 2019 unstrittig auf „A*/2“ (= Obergeschoß).
[3] Die beklagte Österreichische Gesundheitskasse lehnte den Antrag des Klägers auf Familienzeitbonus mit Bescheid vom 17. 1. 2020 ab, weil die Mutter des gemeinsamen Kindes erst ab 5. 9. 2019 gemeinsam mit dem Kläger und dem Kind „hauptwohnsitzlich“ gemeldet sei, sodass es an einem gemeinsamen Haushalt im Sinn des § 2 Abs 1 Z 4 iVm Abs 3 FamZeitbG fehle.
[4] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren auf Zuerkennung des Familienzeitbonus für den Zeitraum von 1. 9. 2019 bis 30. 9. 2019 statt. Das Wohnhaus sei nach den faktischen Gegebenheiten als Einheit zu betrachten, sodass ihm lediglich eine Adresse zugeordnet werden könne. Die Top-Nummern dienten gemäß § 31 Abs 6 nö BauO 2014 lediglich der Nummerierung und Kennzeichnung der Wohnungen, hätten allerdings keinen Einfluss auf die Adresse.
[5] Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren über Berufung der Beklagten ab. Nach den unangefochtenen Feststellungen bilde der gemeinsame Haushalt des Klägers, seiner Lebensgefährtin und des gemeinsamen Kindes keine Einheit mit dem gemeinsamen Haushalt der Eltern seiner Lebensgefährtin, weil das Haus aus zwei Wohnbereichen bestehe. Die Mutter des Kindes und das Kind seien erst ab 5. 9. 2019, daher nicht während des gesamten beantragten Bezugszeitraums an der gemeinsamen Adresse mit dem Kläger gemeldet gewesen. Zwar schade eine höchstens bis zehn Tage verspätete Hauptwohnsitzmeldung des Kindes an dieser Adresse nicht, die Ausnahmebestimmung des § 2 Abs 3 Satz 2 FamZeitbG gelte jedoch nicht für dessen Mutter.
[6] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung der Klage beantragt.
[7] In der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Revision.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision ist zulässig, weil zum Begriff der Wohnadresse (Adresse) in § 2 Abs 3 FamZeitbG Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehlt. Sie ist auch teilweise berechtigt.
[9] Der Revisionswerber macht geltend, dass durch die Zuweisung von zwei Top-Nummern im Zug eines Dachgeschoßausbaus durch die Gemeinde in einem Einfamilienhaus mit einem Haupteingang, gemeinsamer Wärmeversorgung, einem einheitlichen Wasseranschluss, gemeinsamer Abfallentsorgung und einer einheitlichen Abstellgenehmigung nicht von zwei unterschiedlichen, den Meldevorschriften entsprechenden Hauptwohnsitzen ausgegangen werden könne. Vielmehr liege nur ein einheitliches Wohnobjekt und damit eine einzige Wohnadresse bzw nur ein Hauptwohnsitz vor. An dieser Wohnadresse seien der Kläger, seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind während des gesamten Antragszeitraums wohnhaft und gemeldet gewesen. Die Zuteilung von Top-Nummern durch die Gemeinde sei hingegen nicht relevant, diese dienten gemäß § 31 Abs 6 nö BauO nur der Nummerierung und Kennzeichnung der Wohnungen, hätten jedoch keinen Einfluss auf die Adresse selbst. Auch das Meldegesetz stelle nur auf die Wohnsitznahme an einer Unterkunft ab, nicht jedoch auf Top-Nummern.
[10] Die beklagte Österreichische Gesundheitskasse hält dem im Wesentlichen entgegen, dass kumulativ zum gemeinsamen Haushalt eine „hauptwohnsitzliche“ Meldung am Ort des gemeinsamen Haushalts vorliegen müsse, woran es hier fehle. Der Familienzeitbonus stehe dem Vater nicht für Zeiträume zu, in denen die Mutter und das Kind – oder nur das Kind oder nur die Mutter – nicht an derselben Wohnadresse, sondern an einer anderen Adresse – worunter auch eine andere Topnummer zu verstehen sei – „hauptwohnsitzlich“ gemeldet waren.
Dazu ist auszuführen:
1. Anspruchsvoraussetzung des gemeinsamen Haushalts gemäß § 2 Abs 1 Z 4 iVm Abs 3 FamZeitbG:
[11] 1.1 Anspruch auf Familienzeitbonus hat ein Vater für sein Kind, sofern (ua) gemäß § 2 Abs 1 Z 4 FamZeitbG er, das Kind und der andere Elternteil im gemeinsamen Haushalt leben. Ein gemeinsamer Haushalt liegt gemäß § 2 Abs 3 FamZeitbG nur dann vor, wenn der Vater, das Kind und der andere Elternteil in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse leben und alle drei an dieser Adresse auch „hauptwohnsitzlich“ gemeldet sind. Eine höchstens bis zu zehn Tagen verspätet erfolgte Hauptwohnsitzmeldung des Kindes an dieser Wohnadresse schadet nicht (§ 2 Abs 3 Satz 2 FamZeitbG).
[12] 1.2 Der Begriff des gemeinsamen Haushalts wurde mit § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2009/116 geschaffen. Ein gemeinsamer Haushalt lag nach Satz 1 dieser Bestimmung vor, wenn der Elternteil und das Kind auch an derselben Adresse „hauptwohnsitzlich“ gemeldet sind (10 ObS 69/14s SSV-NF 28/46). In den Gesetzesmaterialien zu dieser Bestimmung hieß es auszugsweise (ErläutRV 340 BlgNR 24. GP 9): „Nach dem Meldegesetz ist der Hauptwohnsitz eines Menschen an jener Unterkunft begründet, an der der Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen (Lebensmittelpunkt) liegt. Bei getrennten Hauptwohnsitzmeldungen des beziehenden Elternteiles und des Kindes einerseits und gegenteiligen Angaben (zB gemeinsamer Lebensmittelpunkt und gemeinsamer Haushalt an einer der beiden Adressen) bei den Krankenversicherungsträgern andererseits, handelt es sich um einen aufklärungsbedürftigen Widerspruch. Damit entstehen in den meisten Fällen unnötige Belastungen der Eltern und der Behörden. Durch die Klarstellung, dass ein gemeinsamer Haushalt eine auf längere Zeit gerichtete Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft mit dementsprechenden Hauptwohnsitzmeldungen des Elternteiles und des Kindes an derselben Adresse voraussetzt, wird eine Entlastung der Eltern und der Krankenversicherungsträger erreicht.“ Für das Vorliegen eines gemeinsamen Haushalts im Sinn des § 2 Abs 6 KBGG müssen daher seit der Novelle BGBl I 2009/116 zwei Elemente erfüllt sein: Es muss eine auf längere Zeit gerichtete Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft des beziehenden Elternteils und des Kindes an derselben Wohnadresse bestehen (vgl dazu 10 ObS 50/19d SSV-NF 33/68) und beide müssen an dieser Adresse auch „hauptwohnsitzlich“ gemeldet sein (10 ObS 17/19a SSV-NF 33/17 mwH). In Bezug auf das hier interessierende Merkmal der gemeinsamen „hauptwohnsitzlichen“ Meldung erfuhr § 2 Abs 6 KBGG weder mit der Novelle BGBl I 2016/53 – mit der auch das Familienzeitbonusgesetz geschaffen wurde – noch mit der Novelle BGBl I 2019/24 eine Änderung.
[13] 1.3 In der Entscheidung 10 ObS 69/14s SSV-NF 28/46 begründete der Oberste Gerichtshof ausführlich seine Ansicht, dass der Gesetzgeber des Kinderbetreuungsgeldgesetzes den eine Unterkunft voraussetzenden melderechtlichen Hauptwohnsitzbegriff des § 1 Abs 7 Meldegesetz 1991, BGBl 1992/9 (MeldeG) anwenden wollte, nicht aber jenen des Art 6 Abs 3 B-VG. Daran hielt er auch in Folgeentscheidungen fest (10 ObS 144/15x; 10 ObS 121/18v SSV-NF 33/15 mwH; 10 ObS 19/19w; vgl auch jüngst 10 ObS 136/21d). Die in 10 ObS 144/15x gegen § 2 Abs 6 KBGG dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken des Obersten Gerichtshofs hatte der Verfassungsgerichtshof nicht (VfGH G 121/2016). Mit der Novelle BGBl I 2019/24 fügte der Gesetzgeber in § 2 Abs 6 Satz 2 KBGG einen ausdrücklichen Hinweis auf § 3 Abs 1 MeldeG ein (Art 2 Z 2 BGBl I 2019/24).
[14] 1.4 Die mit BGBl I 2016/53 geschaffene Bestimmung des § 2 Abs 3 FamZeitbG entspricht hinsichtlich des hier zu behandelnden Tatbestandsmerkmals der gemeinsamen „hauptwohnsitzlichen“ Meldung inhaltlich § 2 Abs 6 KBGG. Unter Berücksichtigung des vergleichbaren Regelungszwecks dieser Bestimmungen ist auch im Anwendungsbereich des § 2 Abs 3 FamZeitbG davon auszugehen, dass diese Bestimmung auf den Hauptwohnsitzbegriff des § 1 Abs 7 MeldeG abstellt (10 ObS 121/18v SSV-NF 33/15).
[15] 1.5.1 Das Meldegesetz verknüpft das Entstehen der Meldepflicht mit der Tatsache der Aufnahme oder Aufgabe einer Unterkunft (§ 2 Abs 1 MeldeG). § 2 Abs 1 MeldeG begründet die Meldepflicht für vier Fälle, darunter die Aufnahme der Unterkunft in einer Wohnung (§ 3 MeldeG). Die Unterkunftnahme beginnt mit dem erstmaligen widmungsmäßigen Gebrauch der Unterkunft und hängt bloß von objektiven, äußeren (faktischen) Umständen ab (10 ObS 121/18v SSV-NF 33/15 mwH). Wer in einer Wohnung Unterkunft nimmt, ist innerhalb von drei Tagen danach bei der Meldebehörde anzumelden (§ 3 Abs 1 MeldeG).
[16] 1.5.2 Weder das FamZeitbG noch das MeldeG definieren den in § 2 Abs 3 FamZeitbG verwendeten Begriff der Adresse (Wohnadresse). Das Meldegesetz knüpft an den Begriff der Unterkunft an. Unterkünfte sind Räume, die zum Wohnen oder Schlafen benutzt werden (§ 1 Abs 1 MeldeG). Das Meldegesetz unterscheidet nicht zwischen einem (Wohn-)Haus und einer Wohnung, sondern definiert nur den Begriff der Wohnung. Wohnungen sind gemäß § 1 Abs 4 MeldeG Unterkünfte, soweit es sich nicht um Beherbergungsbetriebe (vgl § 1 Abs 2 MeldeG) handelt. Fahrzeuge und Zelte gelten nach § 1 Abs 4 MeldeG dann als Wohnung, wenn sie im Gebiet derselben Gemeinde länger als drei Tage als Unterkunft dienen. Ein Wohnsitz eines Menschen ist gemäß § 1 Abs 6 MeldeG an einer Unterkunft begründet, an der er sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, dort bis auf weiteres einen Anknüpfungspunkt von Lebensbeziehungen zu haben. Der Hauptwohnsitz eines Menschen ist wiederum an jener Unterkunft begründet, an der er sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, diese zum Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen (vgl zu diesem Begriff § 1 Abs 8 MeldeG) zu machen (§ 1 Abs 7 erster Halbsatz MeldeG). Der Tatbestand des „Wohnsitzes“ beruht auf zwei Aspekten, einerseits der tatsächlichen Unterkunftnahme und andererseits der Absicht, bis auf weiteres dort (zumindest) einen Anknüpfungspunkt von Lebensbeziehungen zu haben (10 ObS 69/14s SSV-NF 28/46).
[17] 1.5.3 Das Meldegesetz verweist jedoch an drei Stellen (§ 3 Abs 1a und 2; § 16a Abs 4 MeldeG) auf das Bundesgesetz über das Gebäude- und Wohnungsregister, BGBl I 2004/9 (GWR-G). Dieses Gesetz regelt die Einrichtung und Führung eines zentralen Gebäude- und Wohnungsregisters durch die Bundesanstalt Statistik Österreich für Zwecke der Bundesstatistik, Forschung und Planung (§ 1 Abs 1 GWR-G). § 3 MeldeG trifft Regelungen über An- und Ummeldung bei der Unterkunftnahme in einer Wohnung. § 3 Abs 2 Satz 1 und 2 MeldeG lauten: „Für jeden anzumeldenden Menschen ist der Meldezettel entsprechend vollständig auszufüllen. Befindet sich die Wohnung in einem Gebäude, das im Gebäude- und Wohnungsregister (GWR) mit mehreren Adressen aufscheint, hat der Unterkunftnehmer eine dieser Adressen auszuwählen.“
[18] 1.5.4 Das GWR-G trifft ua Definitionen der Begriffe Gebäude (§ 2 Z 2 GWR-G), Wohnung (§ 2 Z 4 GWR-G) und Adresse (§ 2 Z 6 GWR-G). Eine Wohnung ist danach ein baulich abgeschlossener, nach der Verkehrsauffassung selbständiger Teil eines Gebäudes, der nach seiner Art und Größe geeignet ist, der Befriedigung individueller Wohnbedürfnisse von Menschen zu dienen. Eine Adresse ist die Bezeichnung einer Örtlichkeit eines Grundstücks (Abschnitt A der Anlage zum GWR-G), eines Gebäudes (Abschnitt B der Anlage zum GWR-G), oder einer Wohnung oder sonstigen Nutzungseinheit (Abschnitt C der Anlage zum GWR-G). Das Register hat ua die Adressen der Gebäude (§ 3 Z 2 GWR-G) und der Wohnungen und sonstigen Nutzungseinheiten zu enthalten (§ 3 Z 3 GWR-G). Anlage C zum GWR-G enthält die Merkmale von Adressen der Wohnungen und sonstigen Nutzungseinheiten und lautet:
„1. Merkmale der Adresse des Gebäudes, in dem sich die Wohnung oder die sonstige Nutzungseinheit befindet;
2. die Tür- oder Topnummer entsprechend den landesrechtlichen Vorschriften oder die nähere Lagebestimmung innerhalb des Gebäudes.“
[19] Eine derartige, vom Erstgericht bereits erwähnte landesrechtliche Vorschrift ist § 31 Abs 6 der nö BauO 2014, LGBl 2015/1, wonach Stiegenhäuser und Wohnungen in Wohngebäuden vom Gebäudeeigentümer zu nummerieren und zu kennzeichnen sind.
[20] 1.6 Für die Bestimmung des Begriffs der Adresse (Wohnadresse) gemäß § 2 Abs 3 FamZeitbG ist daher der Wohnungsbegriff maßgeblich, da insbesondere die Unterkunftnahme in einer Wohnung die Meldepflicht auslöst (§ 3 Abs 1 MeldeG). Daran knüpft wieder die Bestimmung des Wohnsitzes oder Hauptwohnsitzes eines Menschen an. Eine Wohnung kann sich in einem Gebäude befinden, das mehrere Adressen hat (zB auf einem Eckgrundstück). Befinden sich mehrere Wohnungen in einem Gebäude, so sind diese in der Regel entsprechend den landesrechtlichen Vorschriften nach Tür- oder Topnummer zu bezeichnen, wodurch sich wiederum die Wohnungsadresse bestimmt.
[21] 1.7 Befinden sich daher in einem Gebäude (einem Wohnhaus) zwei Wohnungen, die wie im vorliegenden Fall mit zwei unterschiedlichen Topnummern von der Meldebehörde – das ist gemäß § 13 Abs 1 MeldeG der Bürgermeister – bezeichnet wurden, so verfügen diese Wohnungen nach der dargestellten Rechtslage auch gemäß § 2 Abs 3 FamZeitbG über unterschiedliche Adressen (Wohnadressen). Dies stimmt mit den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen überein, wonach das Haus seit dem Ausbau des Dachgeschoßes aus zwei Wohnbereichen besteht. Auf die weiteren in der Revision dargestellten Umstände – nur ein Haupteingang, gemeinsame Wärmeversorgung, einheitlicher Wasseranschluss etc – kommt es hingegen nicht an.
[22] 1.8 Zwischenergebnis: Für den Zeitraum von 1. 9. 2019 bis 4. 9. 2019 liegt kein gemeinsamer Haushalt im Sinn des § 2 Abs 1 Z 4 iVm Abs 3 FamZeitbG vor, weil es in diesem Zeitraum an einer gemeinsamen „hauptwohnsitzlichen“ Meldung des Klägers und des anderen Elternteils fehlt. Daran ändert, worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat, der Umstand nichts, dass die nachträgliche Hauptwohnsitzmeldung des Kindes gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 FamZeitbG im konkreten Fall nicht schadet, weil diese Bestimmung nicht für den anderen Elternteil, also die Mutter des Kindes gilt.
[23] 2. Der Kläger hat die Rechtsrüge durch Aufwerfen einer im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO erheblichen Rechtsfrage gesetzmäßig ausgeführt. Damit hat der Oberste Gerichtshof – nach einem allgemeinen Grundsatz des Rechtsmittelverfahrens – die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen ohne Beschränkung auf die Ausführungen des Rechtsmittelwerbers auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen allseitig und umfassend, also nach allen Richtungen hin, zu überprüfen (RS0043352).
3. Höhe und Dauer des Anspruchs:
[24] 3.1 Nach der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs besteht auch dann kein Anspruch auf Familienzeitbonus, wenn die Anspruchsvoraussetzung des gemeinsamen Haushalts im Sinn des § 2 Abs 3 FamZeitbG nicht für den gesamten, vom Vater gewählten Anspruchszeitraum erfüllt ist, mag ein gemeinsamer Haushalt auch in einer den Mindestzeitraum des § 3 Abs 2 FamZeitbG erreichenden oder überschreitenden Dauer von zumindest 28 Tagen vorliegen (10 ObS 101/19d SSV-NF 33/48; 10 ObS 109/18d SSV-NF 32/67; RS0133088). Dies wurde damit begründet, dass der Familienzeitbonus gemäß § 3 Abs 2 FamZeitbG ausschließlich für eine ununterbrochene Dauer von 28, 29, 30 oder 31 aufeinanderfolgenden Kalendertagen und innerhalb eines Zeitraums von 91 Tagen ab dem Tag der Geburt des Kindes gebühre. Die Anspruchsdauer sei bei der Antragstellung verbindlich festzulegen, könne ausschließlich 28, 29, 30 oder 31 Kalendertage betragen und später nicht geändert werden (§ 3 Abs 3 FamZeitbG). Die Familienzeit und der beantragte Bezugszeitraum müssten sich demnach decken, die Familienzeit dürfe nicht kürzer andauern als der gewählte Anspruchszeitraum (10 ObS 177/19f; 10 ObS 115/19p; 10 ObS 113/19v; 10 ObS 69/20z; 10 ObS 71/21w).
[25] 3.2 Diese Rechtsprechung ist in der Lehre auf Kritik gestoßen. Reissner (ASoK 2019, 402 [409]) erachtet die Sanktion des Verlusts des gänzlichen Anspruchs in einem Fall, in dem die Anspruchsvoraussetzungen nur während eines Tages des gewählten Anspruchszeitraums nicht verwirklicht waren (10 ObS 101/19d), als unnötig hart, bewege sich der Vater doch immer noch innerhalb des gesetzlich gewollten Zeitausmaßes. Schrattbauer (JAS 2020, 244 [261 f]) kritisiert wiederum, dass der explizite Ausschluss jeglicher Änderungsmöglichkeit des einmal gewählten Bezugszeitraums (§ 3 Abs 3 letzter Satz FamZeitbG) im Fall unvorhergesehener und unvorhersehbarer Ereignisse selbst dann zu einem Wegfall des Anspruchs führe, wenn der Bezugszeitraum ursprünglich richtig geplant und beantragt worden ist und die spätere Verkürzung der Familienzeit nicht im Einflussbereich des Leistungsbeziehers liege (etwa im Fall einer Erkrankung des Kindes und des Vaters gegen Ende der Familienzeit, 10 ObS 132/19p SSV-NF 33/72). I. Faber (DRdA 2022, 18 [20 f]) hält es insbesondere auch vor dem Hintergrund des Zwecks des FamZeitbG für hinterfragenswert, dass aus den gesetzlichen Vorgaben über die Antragstellung – also einer verfahrensrechtlichen Bestimmung – der Schluss zu ziehen, sei, dass der Anspruch auf Familienzeitbonus materiell nicht auch für einen kürzeren als den gewählten Zeitraum bestehen könne.
[26] 3.3 Reissner (ASoK 2019, 402 [403 f]) weist überdies auf die Vorgaben der Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates (in der Folge: RL 2019/1158) und insbesondere deren Art 8 hin. Aus dieser Bestimmung ergebe sich – iVm Art 4 Abs 1 RL 2019/1158 – die Verpflichtung zur Zahlung eines Familienzeitbonus für 10 Tage (vgl) nach den Maßstäben des Krankenstands- bzw Krankenversicherungsrechts. § 3 FamZeitbG werde nach den Vorgaben der bis 2. 8. 2022 umzusetzenden Richtlinie (Art 20 Abs 1 RL 2019/1158) zu adaptieren sein.
[27] Unter Beachtung der dargestellten Kritik und der unionsrechtlichen Vorgaben ist eine neuerliche Auseinandersetzung mit den Bestimmungen der §§ 2 und 3 FamZeitbG erforderlich:
4. Anspruchsberechtigung:
[28] 4.1 Die materielle Anspruchsberechtigung regelt unter dieser ausdrücklichen Überschrift § 2 FamZeitbG. Diese Bestimmung lautet auszugsweise:
„§ 2. (1) Anspruch auf den Familienzeitbonus hat ein Vater (Adoptivvater, Dauerpflegevater) für sein Kind (Adoptivkind, Dauerpflegekind), sofern
…
3. er sich im gesamten Anspruchszeitraum in Familienzeit (Abs. 4) befindet,
4. er, das Kind und der andere Elternteil im gemeinsamen Haushalt leben (Abs. 3),
…
(3) Ein gemeinsamer Haushalt im Sinne dieses Gesetzes liegt nur dann vor, wenn der Vater, das Kind und der andere Elternteil in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse leben und alle drei an dieser Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Eine höchstens bis zu zehn Tagen verspätet erfolgte Hauptwohnsitzmeldung des Kindes an dieser Wohnadresse schadet nicht.
…
(4) Als Familienzeit im Sinne dieses Gesetzes versteht man den Zeitraum zwischen 28 und 31 Tagen (§ 3 Abs. 2), in dem sich ein Vater aufgrund der kürzlich erfolgten Geburt seines Kindes ausschließlich seiner Familie widmet und dazu die Erwerbstätigkeit (Abs. 1 Z 5) unterbricht, keine andere Erwerbstätigkeit ausübt, keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sowie keine Entgeltfortzahlung aufgrund von oder Leistungen bei Krankheit erhält. …“
[29] 4.2 Der Zweck des Familienzeitbonus für Väter wird in den Gesetzesmaterialien wie folgt beschrieben (ErläutRV 1110 BlgNR 24. GP 1): „Erwerbstätige Väter, die sich direkt nach der Geburt ihres Kindes intensiv und ausschließlich der Familie widmen, sollen eine finanzielle Unterstützung erhalten. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Familiengründungszeit wichtig ist, damit das Neugeborene rasch eine sehr enge emotionale Bindung (auch) zum Vater aufbauen, dieser seine unter den Auswirkungen der gerade erfolgten Geburt stehende Partnerin bei der Pflege und Betreuung des Säuglings, bei den Behördenwegen, bei Haushaltsarbeiten etc bestmöglich unterstützen kann, und um den Zusammenhalt in der Familie von Anfang an zu stärken.“ Anspruchsberechtigt sind daher Väter, die sich in Familienzeit befinden und die alle anderen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen.
4.3 Höhe, Dauer und Antragstellung regelt § 3 FamZeitbG. Diese Bestimmung lautet:
„§ 3. (1) Der Familienzeitbonus beträgt 22,60 Euro täglich. Der Anspruch auf den Bonus reduziert sich um den Anspruch auf vergleichbare Leistungen nach anderen in- oder ausländischen Rechtsvorschriften.
(2) Der Familienzeitbonus gebührt ausschließlich für eine ununterbrochene Dauer von 28, 29, 30 oder 31 aufeinanderfolgenden Kalendertagen innerhalb eines Zeitraumes von 91 Tagen ab dem Tag der Geburt des Kindes.
(3) Der Familienzeitbonus gebührt auf Antrag, frühestens ab dem Tag der Geburt des Kindes, bei Adoptiv- und Pflegekindern gebührt der Bonus frühestens ab dem Tag, an dem das Kind in Pflege genommen wird. Der Antrag muss, bei sonstigem Anspruchsverlust, spätestens binnen 91 Tagen ab dem Tag der Geburt des Kindes gestellt werden. Bei der Antragstellung ist die Anspruchsdauer verbindlich festzulegen, diese kann ausschließlich 28, 29, 30 oder 31 Kalendertage betragen und kann später nicht geändert werden.“
[30] 4.4 § 3 FamZeitbG enthält in seinen Absätzen 1 und 2 materiell-rechtliche Regelungen über die Höhe und Dauer des Anspruchs. § 3 Abs 3 FamZeitbG ist hingegen eine verfahrensrechtliche Vorschrift über die Fristen zur Antragstellung und Festlegung der Anspruchsdauer bei Antragstellung. In den Gesetzesmaterialien heißt es dazu auszugsweise (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 3): „Der Familienzeitbonus wird auch aus verwaltungsvereinfachenden Gründen als pauschaler Tagesbetrag ausgestaltet, es besteht jedoch kein anteiliger (tageweiser) Anspruch auf den Bonus. Werden daher nicht an jedem einzelnen der gewählten 28, 29, 30 oder 31 Tage alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, so gebührt gar kein Bonus. Der Bonus gebührt nur für den ununterbrochenen Zeitraum von 28 bis 31 Tagen, der zur Gänze innerhalb des Zeitfensters von 91 Tagen ab Geburt des Kindes liegen muss. Die gewählte Anspruchsdauer von 28, 29, 30 oder 31 Tagen kann nicht verändert werden (ohne Ausnahme). Die Anspruchsdauer kann nicht verlängert, verkürzt, verschoben, aufgeteilt, vorzeitig beendet etc werden.“
[31] 4.5 Aus dem Wortlaut des – für die Anspruchsberechtigung maßgeblichen – § 2 FamZeitbG ergibt sich nicht zwingend, dass der Anspruch auf Familienzeitbonus materiell nicht auch für einen kürzeren Zeitraum als den nach der verfahrensrechtlichen Bestimmung des § 3 Abs 3 FamZeitbG gewählten bestehen kann. Aus § 2 Abs 1 Z 3 FamZeitbG folgt lediglich, dass der Vater sich im gesamten Zeitraum, in dem ein Anspruch besteht, in Familienzeit befinden muss, die zwischen 28 und 31 Tage beträgt. Zutreffend ist daher, dass die Festlegung eines verbindlichen Anspruchszeitraums gemäß § 3 Abs 3 FamZeitbG allein für das Verwaltungsverfahren maßgeblich ist, nicht jedoch für die Frage der Anspruchsberechtigung (I. Faber, DRdA 2022, 21). Aus dem Umstand allein, dass die Gesetzesmaterialien eine anteilige Auszahlung des Familienzeitbonus ablehnen, ergibt sich schon deshalb nichts Gegenteiliges, weil diese keine authentische Auslegung des Gesetzes im Sinn des § 8 ABGB darstellen (RS0008799). Der gänzliche Wegfall des Anspruchs im Fall des Fehlens der Anspruchsvoraussetzungen auch nur an einem Tag des gewählten Bezugszeitraums steht überdies in Widerspruch zum Zweck der Gewährung eines Familienzeitbonus. Der Bonus soll nach den dargestellten Gesetzesmaterialien Väter als finanzielle Unterstützung dazu motivieren, sich nach der Geburt des Kindes intensiv dem Kind und der Familie zu widmen.
[32] 4.6 Dass dem FamZeitbG eine rechtmäßige anteilige Auszahlung des Bonus nicht fremd ist, ergibt sich etwa auch aus § 7 Abs 3 letzter Satz FamZeitbG. Wird danach der Tod des Kindes nicht rechtzeitig gemeldet und ist daraus ein unrechtmäßiger Bezug der Leistung nach dem FamZeitbG entstanden, so ist von Amts wegen von der Rückforderung abzusehen, sofern die Meldung binnen 31 Tagen ab dem Tod des Kindes erfolgt. Stirbt das Kind während des Bezugszeitraums, so lässt die Formulierung dieser Bestimmung den Schluss zu, dass in einem solchen Fall der Bonus anteilsmäßig zu Recht bezogen wurde: andernfalls würde sich der unrechtmäßige Bezug nicht aus der verspäteten Todesmeldung ergeben, sondern aus der fehlenden Voraussetzung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen für den restlichen beantragten Bezugszeitraum (Schrattbauer, JAS 2020, 263 f).
5. RL (EU) 2019/1158 und Gebot der richtlinienkonformen Interpretation:
[33] 5.1 Die RL 2019/1158 wurde am 12. 7. 2019 im Amtsblatt veröffentlicht (ABl L 188/79) und trat gemäß ihrem Art 21 am zwanzigsten Tag nach dieser Veröffentlichung, daher am 1. 8. 2019 in Kraft. Sie ist gemäß ihrem Art 20 Abs 1 bis 22. 8. 2022 von den Mitgliedstaaten umzusetzen. Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind jedoch bereits vor diesem Zeitpunkt und ab Inkrafttreten einer Richtlinie verpflichtet, es so weit wie möglich zu unterlassen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf von deren Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde (EuGH C-212/04, Adeneler ua, ECLI:EU:C:2006:443, Rn 122, 123; C-439/16 PPU, Milev, ECLI:EU:C:2016:818, Rn 30 ff mwH).
5.2 Die RL 2019/1158 lautet auszugsweise:
„[ErwGr] (11) Der derzeitige Rechtsrahmen der Union bietet Männern nur wenige Anreize, um einen gleichwertigen Anteil an den Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu übernehmen. In vielen Mitgliedstaaten gibt es keinen bezahlten Vaterschafts- und Elternurlaub, weshalb nur wenige Väter einen Urlaub in Anspruch nehmen. … Wenn Väter Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in Anspruch nehmen, wie zB Urlaub oder flexible Arbeitsregelungen, wirkt sich dies außerdem nachweislich positiv in der Form aus, dass Frauen relativ betrachtet weniger unbezahlte Familienarbeit leisten und ihnen mehr Zeit für eine bezahlte Beschäftigung bleibt.
[ErwGr] (29) Um die Inanspruchnahme der in dieser Richtlinie festgelegten Urlaubszeiten für Arbeitnehmer, die Eltern sind, insbesondere für Männer, noch attraktiver zu machen, sollten die Betroffenen während des Urlaubs Anspruch auf eine angemessene Vergütung haben.
[ErwGr] (30) Die Mitgliedstaaten sollten deshalb für den Mindestzeitraum des Vaterschaftsurlaubs eine Höhe für die Bezahlung oder Vergütung festsetzen, die mindestens der Höhe des Krankengelds in dem jeweiligen Mitgliedstaat entspricht. …
Artikel 1
Gegenstand
Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften festgelegt, um die Gleichstellung von Männern und Frauen im Hinblick auf Arbeitsmarktchancen und die Behandlung am Arbeitsplatz dadurch zu erreichen, dass Arbeitnehmern, die Eltern oder pflegende Angehörige sind, die Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben erleichtert wird.
Hierzu legt diese Richtlinie individuelle Rechte fest, und zwar in Bezug auf Folgendes:
a) Vaterschaftsurlaub, Elternurlaub und Urlaub für pflegende Angehörige; …
Artikel 3
Begriffsbestimmungen
(1) Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a) 'Vaterschaftsurlaub' die Arbeitsfreistellung für Väter oder – soweit nach nationalem Recht anerkannt – gleichgestellte zweite Elternteile anlässlich der Geburt eines Kindes zum Zweck der Betreuung und Pflege; …
Artikel 4
Vaterschaftsurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Väter oder – soweit nach nationalem Recht anerkannt – gleichgestellte zweite Elternteile, Anspruch auf zehn Arbeitstage Vaterschaftsurlaub haben, der anlässlich der Geburt des Kindes des Arbeitnehmers genommen werden muss. …
Artikel 8
Bezahlung oder Vergütung
(1) Im Einklang mit den nationalen Gegebenheiten, wie dem nationalen Recht, Kollektiv- bzw Tarifverträgen oder Gepflogenheiten und unter Berücksichtigung der den Sozialpartnern übertragenen Befugnisse stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Arbeitnehmer, die ihr Recht auf Urlaub gemäß Artikel 4 Absatz 1 oder Artikel 5 Absatz 2 in Anspruch nehmen, eine Bezahlung oder eine Vergütung gemäß den Absätzen 2 und 3 des vorliegenden Artikels erhalten.
(2) Bei Vaterschaftsurlaub nach Artikel 4 Absatz 1 ist eine Bezahlung oder Vergütung in einer Höhe zu entrichten, die mindestens der Höhe der Bezahlung oder Vergütung entspricht, die der betreffende Arbeitnehmer vorbehaltlich der im nationalen Recht festgelegten Obergrenzen im Fall einer Unterbrechung seiner Tätigkeit aus Gründen im Zusammenhang mit seinem Gesundheitszustand erhalten würde. …“
[34] 5.3 Die innerstaatlichen Gerichte und Behörden haben die inhaltlich von einer Richtlinie berührten innerstaatlichen Normen so weit wie möglich in Einklang mit der Richtlinie (richtlinienkonform) auszulegen (RS0111214 [T1]). Dabei ist unter Anwendung des Methodenkatalogs des nationalen Rechts dem in einer Richtlinie niedergelegten Zweck zum Durchbruch zu verhelfen (RS0075866). Richtlinienkonforme Interpretation darf den normativen Gehalt der nationalen Regelung nicht grundlegend neu bestimmen und kann im nationalen Recht keine neuen Institute schaffen (RS0114158; vgl 7 Ob 241/18v mwH).
[35] 5.4 Der sachliche Anwendungsbereich der RL 2019/1158 ist im vorliegenden Fall eröffnet, weil der Kläger nach seinen – insofern unstrittigen – Angaben im Antrag auf Zuerkennung des Familienzeitbonus Angestellter, daher Arbeitnehmer im Sinn des Art 2 RL 2019/1158 ist. Darüber hinaus setzt die hier nicht strittige Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 1 Z 5 FamZeitbG eine unmittelbar vor Bezugsbeginn in den letzten 182 Tagen ausgeübte kranken- und pensionsversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit voraus. Die in Anspruch genommene Familienzeit im Sinn des § 2 Abs 4 FamZeitbG entspricht zweifellos einem „Vaterschaftsurlaub“ im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a RL 2019/1158. Die Gewährung eines Familienzeitbonus dient insbesondere der finanziellen Unterstützung und sozialversicherungsrechtlichen Absicherung während der Inanspruchnahme eines Anspruchs auf Freistellung anlässlich der Geburt eines Kindes gemäß § 1a Abs 1 VKG, BGBl 1989/651. Diese Bestimmung wurde für Geburten ab 1. 9. 2019 (hier daher noch nicht anwendbar) in Umsetzung der RL 2019/1158 geschaffen (Burger-Ehrnhofer/Schrittwieser/Bauer, Mutterschutzgesetz und Väter-Karenzgesetz³ § 1a VKG Rz 1 und 2).
[36] 5.5 Die Dauer der Familienzeit von mindestens 28 Tagen übersteigt – ebenso wie der Zeitraum von einem Monat gemäß § 1a Abs 1 VKG – die unionsrechtlich vorgesehene Mindestdauer von 10 Tagen Vaterschaftsurlaub, was gemäß Art 16 Abs 1 RL 2019/1158 zulässig ist. Demgegenüber wird die unionsrechtlich vorgesehene Vergütung in Höhe des Krankengeldes mit dem Satz von täglich 22,60 EUR für den Familienzeitbonus nicht in jedem Fall erreicht (Burger-Ehrnhofer/Schrittwieser/Bauer, MSchG und VKG § 1a VKG Rz 3 und 31). Reissner (ASoK 2019, 403 f) weist zutreffend darauf hin, dass diese relativ hohe Bezahlung oder Vergütung vom Unionsrecht gewollt ist, um Väter zum Familienurlaub zu motivieren (vgl ErwGr 29).
[37] 5.6 Vor dem Hintergrund dieser unionsrechtlichen Zielsetzungen und Regelungen ergibt sich für die Auslegung der §§ 2 und 3 FamZeitbG daher, dass der Gesetzgeber in zulässiger Weise verlangt, dass die Familienzeit zumindest 28 Tage beträgt, um die Intention, dass sich der Vater um das Kind und die Familie kümmert, in ausreichendem Maß durchzusetzen. Die Familienzeit sollte daher nicht gestückelt oder tageweise in Anspruch genommen werden, wie dies auch in den Gesetzesmaterialien gefordert ist.
[38] Es entspricht aber weder den Intentionen des FamZeitbG noch der RL 2019/1158, in einem Fall wie dem vorliegenden den Anspruch des Klägers auf Familienzeitbonus gänzlich zu verneinen. Der Kläger hat – im Sinn des ErwGr 11 der RL 2019/1158 – die Zuerkennung des Familienzeitbonus im Ausmaß von 30 Tagen beantragt und war bereit, in diesem Zeitraum einen gleichwertigen Anteil an Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu übernehmen. Er befand sich im gesamten gewählten Zeitraum in Familienzeit, unterbrach also seine Erwerbstätigkeit und widmete sich ausschließlich der Familie. Während des gesamten Zeitraums bestand eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft des Klägers, des Kindes und des anderen Elternteils. Bloß während der ersten vier Tage des gewählten Zeitraums fehlte es an der für das Bestehen eines gemeinsamen Haushalts formal zusätzlich erforderlichen gemeinsamen „hauptwohnsitzlichen“ Meldung.
[39] In einem Fall wie dem vorliegenden würde der gänzliche Verlust des Anspruchs bei Aufrechterhaltung der bisherigen Rechtsprechung der Intention der RL 2019/1158, Männern einen Anreiz zur Übernahme eines gleichwertigen Anteils an Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu bieten, damit Frauen relativ betrachtet weniger unbezahlte Familienarbeit leisten, widersprechen. Die mit der Bestimmung des § 2 Abs 3 FamZeitbG verfolgte legitime Verwaltungsvereinfachung durch das Verlangen einer gemeinsamen „hauptwohnsitzlichen“ Meldung (VfGH G 121/2016 VfSlg 20.096/2016) kann im konkreten Fall auch dadurch erreicht werden, dass der Familienzeitbonus anteilig für den Teil des Anspruchszeitraums ausgezahlt wird, in dem eine gemeinsame „hauptwohnsitzliche“ Meldung besteht.
[40] 5.7 Ergebnis: Unterbricht der Vater für den gesamten beantragten Anspruchszeitraum, der zwischen 28 und 31 Tagen umfassen muss, seine Erwerbstätigkeit, um sich aus Anlass der Geburt eines Kindes seiner Familie zu widmen (Familienzeit), und fehlt es während des Antragszeitraums nur an einzelnen Tagen an der Erfüllung einer der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen des § 2 FamZeitbG, so besteht (nur) für die Tage, an denen alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, ein anteiliger Anspruch auf Familienzeitbonus.
[41] 6. Daraus folgt für den vorliegenden Fall: Strittig ist im Verfahren lediglich die Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 1 Z 4 iVm Abs 3 FamZeitbG gewesen. Tatsächlich fehlt es an einem gemeinsamen Haushalt des Klägers mit der Mutter des Kindes und dem Kind von 1. 9. 2019 bis 4. 9. 2019. Nicht strittig sind die weiteren Anspruchsvoraussetzungen. Insbesondere ist nicht strittig, dass sich der Kläger während des gesamten Anspruchszeitraums in Familienzeit gemäß § 2 Abs 4 FamZeitbG befand und sich um sein Kind und seine Familie kümmerte. Dem Kläger gebührt daher Familienzeitbonus für jenen Zeitraum innerhalb des von ihm gewählten Anspruchszeitraums, in dem sämtliche Anspruchsvoraussetzungen des § 2 FamZeitbG erfüllt waren.
[42] 7. Der außerordentlichen Revision ist daher teilweise Folge zu geben. Dem Klagebegehren auf Zuerkennung des Familienzeitbonus ist für die Dauer von 5. 9. 2019 bis 30. 9. 2019 in der gesetzlich vorgesehenen Höhe (§ 3 Abs 1 FamZeitbG) stattzugeben. Hingegen ist das Mehrbegehren abzuweisen.
[43] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG. Beim Familienzeitbonus handelt es sich um eine wiederkehrende Leistung im Sinn des § 77 Abs 2 ASGG (10 ObS 16/21g; RS0085788 [T3]).
Textnummer
E134686European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00161.21F.0329.000Im RIS seit
10.05.2022Zuletzt aktualisiert am
10.05.2022