TE Vwgh Beschluss 2022/4/21 Ra 2022/19/0004

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Veröffentlicht am 21.04.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §19 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §45 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
B-VG Art133 Abs5
B-VG Art144 Abs1
MRK Art8
VwGG §28 Abs1 Z4
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, in der Revisionssache des D F M A S, vertreten durch Mag. Alfred Witzlsteiner, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maria-Theresien-Straße 21/III, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 2021, W287 2210234-1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 3. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, dass es im Irak „weder Sicherheit noch Geld“ gebe. Beim Versuch, gemeinsam mit etwa dreißig anderen kurdischen Freiwilligen seine Heimatstadt Dibis vor Angriffen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) zu verteidigen, seien sechs Personen seiner Gruppe getötet worden.

2        Mit Bescheid vom 31. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen können. Eine Rückkehr des Revisionswerbers nach Dibis sei ohne Gefährdung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK garantierten Rechte möglich. Betreffend die Rückkehrentscheidung ging das BVwG nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG im Ergebnis von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des Revisionswerbers gegenüber seinen privaten Interessen am Verbleib in Österreich aus.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Zu ihrer Zulässigkeit wendet sich die Revision zunächst gegen die vom BVwG vorgenommene Beweiswürdigung und bringt vor, das BVwG sei davon ausgegangen, dass das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers nicht glaubhaft sei, obwohl dieser seine Fluchtgründe stringent und nachvollziehbar geschildert habe. Es sei zudem nicht rechtens, Divergenzen in den Aussagen zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme durch das BFA heranzuziehen, um die Unglaubwürdigkeit des Revisionswerbers zu begründen, weil es solche immer geben werde.

9        Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 12.1.2022, Ra 2021/19/0350, mwN).

10       Das BVwG verschaffte sich in einer mündlichen Verhandlung vom Revisionswerber einen persönlichen Eindruck und setzte sich mit seinem Fluchtvorbringen umfassend auseinander. In der Beweiswürdigung legte es im Einzelnen offen, aufgrund welcher Überlegungen es die behauptete Verfolgung des Revisionswerbers durch den IS als nicht glaubwürdig erachtete und ihm auch im Falle einer Rückkehr keine Gefahr durch den IS drohe. Dabei stützte sich das BVwG unter anderem darauf, dass der Revisionswerber seine Fluchtgründe in der mündlichen Verhandlung oberflächlich und wenig detailreich geschildert sowie die Frage nach seiner persönlichen Bedrohung zunächst ausweichend beantwortet und schließlich verneint habe. Überdies habe sich der Revisionswerber mit seinen Schilderungen in der mündlichen Verhandlung im Vergleich zu jenen in der Einvernahme vor dem BFA in wesentlichen Punkten widersprochen. Die vom Revisionswerber in seiner Erstbefragung gemachten Angaben würden zudem unterstreichen, dass er seinen Herkunftsstaat aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage und nicht wegen einer individuellen Bedrohung verlassen habe.

11       Eine Unvertretbarkeit dieser Beweiswürdigung vermag die Revision mit ihren Ausführungen nicht aufzuzeigen. Soweit der Revisionswerber eine Verwertung seiner in der Erstbefragung gemachten Aussage kritisiert, ist darauf hinzuweisen, dass es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf dem Boden der gesetzlichen Regelung des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 weder der Behörde noch dem BVwG verwehrt ist, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zwischen der Erstbefragung und späteren Angaben - unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind - einzubeziehen (vgl. VwGH 12.1.2022, Ra 2021/19/0448, mwN). Diesen Anforderungen hat das BVwG, das bei der Würdigung der Angaben des Revisionswerbers in seiner Erstbefragung auch den eingeschränkten Zweck dieser Befragung berücksichtigte, im vorliegenden Fall entsprochen. Davon abgesehen handelt es sich bei der Bezugnahme des BVwG auf die Angaben in der Erstbefragung lediglich um eine von mehreren, für sich tragenden Erwägungen, auf die das BVwG seine Beurteilung des Vorbringens als unglaubwürdig stützte.

12       Entgegen dem Revisionsvorbringen hat sich das BVwG auch mit einer etwaigen Gefährdung des Revisionswerbers aufgrund seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe auseinandergesetzt. Es traf Länderfeststellungen zur Lage von Kurden im Irak und gelangte auf dieser Grundlage zum Ergebnis, dass dem Revisionswerber allein durch seine Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe keine Verfolgung drohe. Das BVwG räumte zwar ein, dass es immer wieder zu Spannungen zwischen Kurden und Arabern komme, ging aber davon aus, dass diese Gefährdung in einer Gesamtschau nicht jenes Ausmaß erreiche, welches notwendig wäre, um eine Gruppenverfolgung von Kurden im Irak, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung fünfzehn bis zwanzig Prozent ausmache, als gegeben zu erachten.

13       Die Revision zeigt nicht auf, dass das BVwG auf der Grundlage der getroffenen Länderfeststellungen von einer Gruppenverfolgung der Kurden im Irak hätte ausgehen müssen (vgl. zur Gruppenverfolgung allgemein VwGH 12.3.2021, Ra 2020/19/0315, mwN).

14       Soweit die Revision in diesem Zusammenhang und auch hinsichtlich der Nichtgewährung subsidiären Schutzes Feststellungs- und Ermittlungsmängel als Zulassungsgründe ins Treffen führt, legt sie nicht dar, welche Tatsachen sich bei deren Vermeidung als erwiesen ergeben hätten, sodass insoweit eine Relevanz nicht dargestellt wird (zum Erfordernis der Relevanzdarstellung bei Geltendmachung von Verfahrensmängeln als Zulassungsgründe vgl. etwa VwGH 5.3.2020 Ra 2020/19/0051, mwN). Dies gelingt ihr auch nicht mit dem pauschal gehaltenen Vorbringen, das BVwG habe veraltete Länderberichte herangezogen und unvollständige Länderfeststellungen getroffen. Die Revision legt nicht dar, inwiefern die Berücksichtigung weiterer Länderberichte zu einem anderen - für den Revisionswerber günstigeren - Ergebnis hätte führen können.

15       Da das BVwG eine mündliche Verhandlung durchführte, in welcher es den Revisionswerber zu seinen Fluchtgründen eingehend befragte, ist auch keine von der Revision behauptete Verletzung des Rechts auf Parteiengehör ersichtlich. Im Übrigen besteht keine Verpflichtung des Verwaltungsgerichtes, dem Asylwerber im Weg eines Vorhalts zur Kenntnis zu bringen, dass Widersprüche vorhanden seien, die im Rahmen der gemäß § 45 Abs. 2 AVG vorzunehmenden Beweiswürdigung zu seinem Nachteil von Bedeutung sein könnten, und ihm aus diesem Grunde eine Stellungnahme hiezu zu ermöglichen (vgl. VwGH 8.6.2021, Ra 2021/19/0156, mwN).

16       Schließlich wendet sich die Revision gegen die Rückkehrentscheidung und bringt dazu vor, das BVwG habe keine ordnungsgemäße Interessenabwägung durchgeführt. Es hätte den sechseinhalb Jahre dauernden Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet, die überlange Verfahrensdauer sowie sein „Sozialleben“ berücksichtigen müssen.

17       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 19.5.2021, Ra 2021/19/0047, mwN).

18       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 21.2.2022, Ra 2021/19/0119, mwN).

19       Das BVwG hat - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in welcher es den Revisionswerber zu dessen Integration befragte - im Zuge der Interessenabwägung auf alle entscheidungswesentlichen Aspekte und auch auf die zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände Bedacht genommen. Dabei berücksichtigte es - entgegen dem Revisionsvorbringen - auch die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers sowie seine freundschaftlichen Beziehungen zu Österreichern, bezog allerdings zu Recht in seine Erwägungen mit ein, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn - wie hier - integrationsbegründende Schritte zu einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 3.3.2021, Ra 2021/19/0023, mwN). Die Revision zeigt nicht auf, dass die Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wäre.

20       Einer überlangen Verfahrensdauer, wie sie in der Revision behauptet wird, käme lediglich dann Relevanz für den Verfahrensausgang zu, wenn sich während der Verfahrensdauer schützenswerte familiäre oder private Interessen herausgebildet hätten (vgl. VwGH 30.12.2021, Ra 2021/19/0446, mwN). Dass dies hier der Fall wäre, legt die Revision jedoch nicht dar.

21       Soweit die Revision die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet, ist auszuführen, dass der Verwaltungsgerichtshof zur Prüfung einer Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, die gemäß Art. 144 Abs. 1 B-VG als Prozessvoraussetzungen für ein Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof umschrieben sind, gemäß Art. 133 Abs. 5 B-VG nicht berufen ist (vgl. VwGH 22.9.2020, Ra 2020/19/0303, mwN). Insbesondere ist eine solche Behauptung nicht geeignet, die Zulässigkeit der Revision darzutun.

22       In der Revision, die im Übrigen entgegen § 28 Abs. 1 Z 4 VwGG auch keine tauglichen Revisionspunkte enthält, werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen. Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 21. April 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022190004.L00

Im RIS seit

09.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

03.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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