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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 22. Juni 2020 mündlich verkündete und mit 18. Februar 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, G303 2200240-5/9E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: S S), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit Mandatsbescheid vom 1. Juni 2018 ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Mitbeteiligten, einen russischen Staatsangehörigen, gegen den eine rechtskräftige und durchsetzbare Rückkehrentscheidung bestand, gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG (idF vor dem FrÄG 2018) die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung an. Diese Haft wurde nach der Festnahme des Mitbeteiligten ab 11. Juni 2018 bis zu ihrer Beendigung durch das BFA am 31. Oktober 2018 um 20.15 Uhr vollzogen.
2 Mit dem am 4. Oktober 2018 vor Beendigung der Verhandlung um 15.09 Uhr mündlich verkündeten und dann mit 2. November 2018 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) wurde eine vom Mitbeteiligten erhobene Schubhaftbeschwerde als unbegründet abgewiesen und gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG (der Sache nach: gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG idF des FrÄG 2018) festgestellt, dass „die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen.“
3 Mit Eingabe vom 12. Dezember 2018 erhob der Mitbeteiligte neuerlich Beschwerde mit dem Antrag „auszusprechen, dass die Anhaltung in Schubhaft vom 04.10.2018 bis zum Tag der Haftentlassung am 31.10.2018 in rechtswidriger Weise erfolgte“.
4 Mit dem angefochtenen, am 22. Juni 2020 nach mündlicher Verhandlung verkündeten und mit 18. Februar 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis gab das BVwG dieser Beschwerde statt und erklärte die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft „von 04.10.2018, 15.09 Uhr, bis 31.10.2018, 20.15 Uhr“, für rechtswidrig. In der schriftlichen Urteilsausfertigung wurde ergänzend der Bund zum Kostenersatz an den Mitbeteiligten verhalten. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG zu beiden Spruchpunkten jeweils noch aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Begründend verwies das BVwG darauf, dass der seit seinem elften Lebensjahr ab Dezember 2007 in Österreich lebende - wie das BVwG an anderer Stelle festhielt: strafrechtlich unbescholtene - Mitbeteiligte familiäre Anknüpfungspunkte, insbesondere seine Schwester und seine Brüder, habe, welche ihn unterstützten. Auch sonst sei er sozial verankert, insbesondere durch Aktivitäten in einem Sportverein. Vor seiner Inschubhaftnahme am 11. Juni 2018 sei er bei einer Obdachloseneinrichtung der Caritas gemeldet gewesen und habe zur Bestätigung seiner Anwesenheit „ständig Unterschriftsleistungen“ getätigt. Durch diese Meldung sei er „auch für die Behörde greifbar“ gewesen. Vor allem habe ihm aber seine Schwester eine Wohnmöglichkeit eingeräumt und finanzielle Unterstützung zugesichert. Dem nicht dringenden Sicherungsbedarf hätte daher im verfahrensgegenständlichen Zeitraum durch die Anordnung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG ausreichend begegnet werden können.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, zu der vom Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstattet wurde. Die Revision erweist sich - wie die nachstehenden Ausführungen zeigen - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig.
7 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
9 Vorauszuschicken ist, dass die Beschwerde, die sich - so wurde der dort gestellte Antrag vom BVwG (in der Revision und in der Revisionsbeantwortung unbeanstandet) gedeutet - gegen die Anhaltung in Schubhaft im Zeitraum vom 4. Oktober 2018, 15.09 Uhr, bis zum 31. Oktober 2018, 20.15 Uhr, richtete, nicht verfristet war, weil sie binnen sechs Wochen ab Beendigung der Schubhaft am 31. Oktober 2018 eingebracht wurde (vgl. VwGH 11.5.2021, Ra 2021/21/0066, Rn. 24, unter Hinweis auf VwGH 30.4.2009, 2008/21/0565). Aus den genannten Erkenntnissen ergibt sich, dass die auf den Schubhaftbescheid gegründete Anhaltung in Schubhaft binnen sechs Wochen nach deren Beendigung noch in Beschwerde gezogen werden kann. Zulässig war die Beschwerde allerdings nur unter der Voraussetzung, dass über den damit bekämpften Zeitraum der Anhaltung in Schubhaft noch nicht rechtskräftig abgesprochen wurde; sonst wäre die Beschwerde wegen entschiedener Sache zurückzuweisen gewesen (vgl. VwGH 30.8.2018, Ra 2018/21/0111, Rn. 11/12, mit dem Hinweis auf VwGH 24.1.2013, 2012/21/0183, mwN; siehe dazu auch VwGH 11.5.2021, Ra 2021/21/0066, nunmehr Rn. 23, mwN).
10 Vor diesem Hintergrund macht das BFA unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit der Revision geltend, das erwähnte, am 4. Oktober 2018 mündlich verkündete Erkenntnis des BVwG, mit dem gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG ausgesprochen wurde, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen, stelle einen neuen Schubhafttitel dar. Die Entscheidung nach § 22a Abs. 3 BFA-VG sei bindend, sodass bei Feststellung der Unzulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft eine neuerliche Inschubhaftnahme ohne eine Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht zulässig sei (Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2010/21/0292, und auf VwGH 19.3.2013, 2011/21/0246). Das müsse auch für die „umgekehrte Situation“ gelten. Ganz generell folge (nämlich) aus der Rechtskraft, dass für eine neuerliche anderslautende Entscheidung, wie sie gegenständlich das BVwG vorgenommen habe, eine Änderung der Sach- oder Rechtslage erforderlich sei; eine bloße Neubeurteilung desselben Sachverhalts erlaube hingegen keine gegenteilige Entscheidung (Hinweis auf VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0278, Rn. 7 bis 9).
Von dieser Rechtsprechung weiche das BVwG ab, weil es mit dem angefochtenen Erkenntnis die Anhaltung in Schubhaft bereits ab 4. Oktober 2018, 15.09 Uhr, und somit im unmittelbaren Anschluss an die Verkündung des „vorherigen Erkenntnisses gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG“ für rechtswidrig erklärte. Aus dem angefochtenen Erkenntnis ergebe sich auch keine plötzliche Sachverhaltsänderung im unmittelbaren Anschluss an diese Verkündung. Vielmehr habe das BVwG die schon bekannten Tatsachen, insbesondere das Angebot der Schwester des Mitbeteiligten, bei ihr Unterkunft nehmen zu können, neu beurteilt. Die Neubeurteilung ohne Auseinandersetzung mit den Argumenten in der Entscheidung des BVwG vom 4. Oktober 2018 widerspreche auch dem Grundsatz der Amtswegigkeit und der Pflicht zur Ermittlung des vollständigen Sachverhalts. „Konkrete“ Rechtsprechung, „inwiefern“ das BVwG eine Neubeurteilung nach einer rechtskräftigen und nicht angefochtenen vorherigen Fortsetzungsentscheidung des BVwG vornehmen dürfe, fehle.
11 Dem ist zunächst zu entgegnen, dass aus dem in der Revision ins Treffen geführten Erkenntnis VwGH 23.1.2020, Ra 2019/21/0278, für die vorliegend zu beurteilende Frage der Wirkungen eines nach § 22a Abs. 3 BFA-VG vorgenommenen positiven Fortsetzungsausspruchs nichts zu gewinnen ist, weil diese Entscheidung die damit nicht vergleichbare Wirkung einer rechtskräftigen Feststellung der Unzulässigkeit einer Abschiebung betraf.
12 Gleiches gilt für die Bezugnahme des BFA auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur für das BFA bei der Frage einer neuerlichen Inschubhaftnahme bestehenden Bindungswirkung eines negativen, die Unzulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft feststellenden Ausspruchs nach § 22a Abs. 3 BFA-VG (siehe zu Letzterem auch VwGH 8.4.2021, Ra 2021/21/0005, Rn. 10).
13 In der Amtsrevision wird nämlich außer Acht gelassen, dass mit dem Erkenntnis des BVwG vom 4. Oktober 2018 - entsprechend dem Wortlaut des § 22a Abs. 3 BFA-VG - nur ausgesprochen wurde, dass „zum Zeitpunkt der Entscheidung“ die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlagen. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber schon zur inhaltsgleichen Vorgängerregelung des § 83 Abs. 4 FPG wiederholt klargestellt, dass der - (nur) einen neuen Titelbescheid darstellende - Ausspruch (damals) des unabhängigen Verwaltungssenates, dass „zum Zeitpunkt seiner Entscheidung“ die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen, im Verhältnis zu einer sich auf den danach liegenden Zeitraum beziehenden Schubhaftbeschwerde nicht das Prozesshindernis der entschiedenen Sache begründet (siehe VwGH 2.8.2013, 2012/21/0111, mit dem Hinweis auf das schon genannte Erkenntnis VwGH 24.1.2013, 2012/21/0183, mwN). Daran wurde auch für die geltende Rechtslage festgehalten (vgl. das ebenfalls schon erwähnte Erkenntnis VwGH 30.8.2018, Ra 2018/21/0111, Rn. 11 bis 13; siehe dazu auch VwGH 11.5.2021, Ra 2021/21/0066, Rn. 23 und 27/28 iVm Rn. 6, soweit sich die Ausführungen auf einen Ausspruch nach § 22a Abs. 3 BFA-VG beziehen). Mit dieser eingeschränkten Rechtskraftwirkung eines positiven Fortsetzungsausspruchs nach § 22a Abs. 3 BFA-VG wäre eine darüberhinausgehende Bindungswirkung nicht in Einklang zu bringen.
14 Dass einem positiven Fortsetzungsausspruch nicht in gleichem Umfang Bindungswirkung wie einem negativen, die Unzulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft feststellenden Ausspruch nach § 22a Abs. 3 BFA-VG zukommen kann, folgt aber auch daraus, dass in das in Art. 1 Abs. 1 des BVG zum Schutz der persönlichen Freiheit normierte Grundrecht nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen eingegriffen werden darf. Dem entsprechend sieht § 80 Abs. 1 FPG vor, dass die Schubhaft nur solange aufrechterhalten werden darf, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann. Damit korrespondiert die gemäß § 80 Abs. 6 FPG bestehende Pflicht für das BFA, regelmäßig von Amts wegen die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung in Schubhaft - längstens alle vier Wochen - zu überprüfen. Für ein enges Verständnis der Bindungswirkung eines positiven Fortsetzungsausspruchs spricht somit vor allem, dass eine rechtswidrige Haft jederzeit zu beenden ist. Dem widerspräche das in der Amtsrevision angestrebte Verständnis, die Wirkungen einer früheren (und zwar selbst einer inhaltlich unzutreffenden) feststellenden Entscheidung des BVwG nach § 22a Abs. 3 BFA-VG über die zeitlichen Grenzen ihres Entscheidungsgegenstandes hinaus auf künftige Perioden auszudehnen. Vielmehr ergibt sich aus den erwähnten Rechtsschutzgründen zwingend, dass das BFA an einen positiven Fortsetzungsausspruch des BVwG, der sich - etwa weil das BVwG bei seiner Entscheidung den schon eingetretenen Ablauf der Schubhafthöchstfrist übersehen hat oder weil ihm mittlerweile eingetretene Tatsachen, beispielsweise eine Haftunfähigkeit, bei seiner Entscheidung nicht bekannt waren - als rechtswidrig erweist, nicht gebunden ist; diesfalls hätte das BFA den Schubhäftling sofort zu entlassen, obwohl der Ausspruch des BVwG einen Schubhafttitel darstellt. Das kann nicht - wie es dem BFA in der Amtsrevision offenbar vorschwebt - nur für den Fall gelten, dass nachträglich eine maßgebliche Änderung der Sach- oder Rechtslage eintritt. Diese Überlegungen zur mangelnden Bindung des BFA an einen positiven Fortsetzungsausspruch nach § 22a Abs. 3 BFA-VG gelten sinngemäß auch für das BVwG, das infolge einer zulässigen Beschwerde über einen Schubhaftzeitraum abspricht, über den noch nicht entschieden wurde.
15 Entgegen der Meinung in der Amtsrevision war es daher nicht rechtswidrig, dass das BVwG eine inhaltliche Behandlung der Schubhaftbeschwerde vom 12. Dezember 2018 vornahm und zu einem vom Erkenntnis des BVwG vom 4. Oktober 2018 abweichenden Ergebnis kam. Dabei musste es sich nach dem Gesagten nicht mit der Begründung dieses Erkenntnisses auseinandersetzen, hatte es doch keine Überprüfung dieser Entscheidung, sondern eine eigene Beurteilung der ihm nun vorliegenden Beschwerde vorzunehmen. Gegen die inhaltliche Richtigkeit des angefochtenen Erkenntnisses wird aber in der Amtsrevision nichts vorgetragen.
16 Zusammenfassend folgt aus dem Gesagten, dass das BVwG nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist und eine solche Rechtsprechung auch nicht fehlt, sodass die Amtsrevision mangels Vorliegens einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat mit Beschluss zurückzuweisen war.
Wien, am 5. April 2022
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde Zurückweisung wegen entschiedener SacheEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210121.L00Im RIS seit
06.05.2022Zuletzt aktualisiert am
17.05.2022