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L7030 Buchmacher, Totalisateur, WettenNorm
B-VG Art7 Abs1 / GerichtsaktLeitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht betreffend die Verhängung einer Geldstrafe nach dem Wiener WettenG wegen fehlender Zutrittskontrolle mangels zeitnaher schriftlicher Ausfertigung der nahezu 16 Monate vorher mündlich verkündeten Entscheidung des Verwaltungsgerichts WienSpruch
I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch Spruchpunkt 1 ("keine Zutrittskontrolle") des angefochtenen Erkenntnisses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Das Erkenntnis wird in diesem Umfang aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 3.117,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerde liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1.1. Die zweitbeschwerdeführende Partei ist als Inhaberin entsprechender Bewilligungen zum gewerbsmäßigen Abschluss von Wetten berechtigt. Der Erstbeschwerdeführer war am 18. Oktober 2017 verantwortlicher Beauftragter der zweitbeschwerdeführenden Partei.
1.2. Am 18. Oktober 2017 führte der Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 36, eine Kontrolle nach den Bestimmungen des Wiener Wettengesetzes in einem Tankstellenshop durch. Inhaberin dieses Tankstellenshops war eine weitere, nicht am Verfahren beteiligte Gesellschaft. Den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes Wien zufolge betrieb die zweitbeschwerdeführende Partei im großen Verkaufsraum des Tankstellenshops als Buchmacherin einen Wettterminal sowie einen Wettannahmeschalter.
1.3. Mit Straferkenntnis vom 25. Februar 2019 verurteilte der Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 36, den Erstbeschwerdeführer als verantwortlichen Beauftragten der zweitbeschwerdeführenden Partei zu einer Verwaltungsstrafe auf Grund fehlender Zutrittskontrollen gemäß §19 Abs2 iVm §24 Abs1 Z12 Wr. WettenG (Spruchpunkt 1). Die weiteren Spruchpunkte dieses Straferkenntnisses betrafen den nach Auffassung der vor dem Verwaltungsgericht Wien belangten Behörde fehlenden Hinweis auf das Zutrittsverbot für Kinder und Jugendliche (Spruchpunkt 2) sowie die Möglichkeit, am Wettannahmeschalter anonym Wetten abzuschließen (Spruchpunkt 3).
1.4. Die beschwerdeführenden Parteien erhoben gegen dieses Straferkenntnis rechtzeitig Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien, in der sie zusammengefasst geltend machten, es sei keinem Wettkunden ein anonymer Wettabschluss ermöglicht worden; zudem hätten Zutrittskontrollen stattgefunden.
1.5. Das Verwaltungsgericht Wien führte am 16. März 2020 sowie am 6. und 29. Juni 2020 eine mündliche Verhandlung durch. In der mündlichen Verhandlung am 29. Juni 2020 verkündete das Verwaltungsgericht Wien das angefochtene Erkenntnis, wonach der Beschwerde gegen die Spruchpunkte 2 und 3 des genannten Straferkenntnisses Folge gegeben, das Straferkenntnis insofern behoben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß §45 Abs1 Z1 bzw Z2 VStG eingestellt werde. Hinsichtlich Spruchpunkt 1 des Straferkenntnisses wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde als unbegründet ab und setzte den Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens mit € 400,– fest.
Begründend führt das Verwaltungsgericht Wien zu Spruchpunkt 1 seines Erkenntnisses auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die zweitbeschwerdeführende Partei habe in der kontrollierten Filiale als Wettunternehmerin einen Wettterminal sowie einen Wettannahmeschalter betrieben. In dieser Betriebsstätte seien keine Angestellten der zweitbeschwerdeführenden Partei beschäftigt oder dauernd anwesend gewesen. Zudem seien in der Betriebsstätte entgegen §19 Abs2 Wr. WettenG keine Zutrittskontrollen durchgeführt worden. Die belangte Behörde habe den Erstbeschwerdeführer daher zu Recht als verantwortlichen Beauftragten der zweitbeschwerdeführenden Partei bestraft. Letztere hafte gemäß §9 Abs7 VStG für die durch dieses Erkenntnis verhängten Verfahrenskosten zur ungeteilten Hand.
1.6. Mit Schriftsatz vom 29. Juni 2020 begehrten die beschwerdeführenden Parteien gemäß §29 Abs4 VwGVG die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtes Wien.
1.7. Am 20. Oktober 2021 – den beschwerdeführenden Parteien zugestellt am 27. Oktober 2021 – erging die schriftliche Ausfertigung des am 29. Juni 2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses.
2. In der vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten und gegen Spruchpunkt 1 des Erkenntnisses gerichteten Beschwerde behaupten die beschwerdeführenden Parteien die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK sowie einen Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art4 7. ZPEMRK.
Begründend führen die beschwerdeführenden Parteien zusammengefasst aus, das Verwaltungsgericht Wien habe alleine für die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses knapp 16 Monate benötigt. Insgesamt habe die Verfahrensdauer ungefähr zwei Jahre und elf Monate betragen. Dadurch seien die beschwerdeführenden Parteien in ihrem Recht auf eine Entscheidung binnen angemessener Frist verletzt worden. Darüber hinaus verstoße die Entscheidung auch gegen das Doppelbestrafungsverbot, weil der Freispruch in Spruchpunkt 3 hinsichtlich des von der belangten Behörde angenommenen anonymen Wettabschlusses dieselbe strafbare Handlung betreffe wie die Bestrafung durch Spruchpunkt 1 hinsichtlich der angeblich fehlenden Zutrittskontrollen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liege daher eine unzulässige Doppelbestrafung vor (unter Hinweis auf VwGH 25.6.2020, Ra 2020/02/0046).
3. Das Verwaltungsgericht Wien legte den Gerichtsakt vor und erstattete eine Gegenschrift, in der es dem in der Beschwerde erhobenen Vorwurf der überlangen Verfahrensdauer zusammengefasst wie folgt entgegentritt:
Die Dauer zwischen der mündlichen Verkündung des Erkenntnisses und dessen schriftlicher Ausfertigung sei im Wesentlichen auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zurückzuführen. Das Verwaltungsgericht Wien sei schon vor dem Ausbruch der Pandemie chronisch überlastet gewesen; darüber hinaus habe es mit den Einschränkungen auf Grund der Pandemie umgehen müssen und sei mit einer Vielzahl an Beschwerden gegen COVID-19-Maßnahmen konfrontiert gewesen. Trotz der vielfältigen pandemiebedingten Einschränkungen habe es im vorliegenden Verfahren drei Verhandlungstermine gegeben, sodass gerade nicht von einer Untätigkeit des Gerichtes gesprochen werden könne. Die Verfahrensverzögerung sei daher nicht auf ein Versäumnis des Verwaltungsgerichtes Wien zurückzuführen, weil ein Ereignis wie eine Pandemie nicht vorhersehbar und eine Aufstockung des richterlichen sowie nicht-richterlichen Personals nicht möglich gewesen sei.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige, gegen Spruchpunkt 1 des angefochtenen Erkenntnisses gerichtete – Beschwerde ist begründet:
1.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat. Angesichts der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften und des Umstandes, dass kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass das Verwaltungsgericht diesen Vorschriften fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, könnten die beschwerdeführenden Parteien in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzt worden sein, wenn das Verwaltungsgericht Willkür geübt hätte.
1.2. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).
2. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist dem Verwaltungsgericht Wien ein willkürliches Vorgehen anzulasten:
2.1. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist bezüglich der Erlassung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung der Zustellung einer Entscheidung ihre mündliche Verkündung gleichzuhalten (vgl VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082; s. auch VfSlg 19.965/2015 und VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua). Mit der mündlichen Verkündung wird die Entscheidung unabhängig von der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung (§29 Abs4 VwGVG) rechtlich existent (VwGH 27.6.2016, Ra 2016/11/0059; 14.9.2016, Fr 2016/18/0015; 4.4.2017, Ra 2017/02/0050), wenn sowohl der Inhalt einer Entscheidung als auch die Tatsache ihrer Verkündung in der Niederschrift festgehalten werden (VwGH 13.10.2015, Fr 2015/03/0007; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082). Bereits an die Verkündung einer Entscheidung knüpfen sich daher deren Rechtswirkungen (vgl VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua; VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558). Aus diesem Grund kann die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung mit Beschwerde gemäß Art144 B-VG angefochten werden, sofern mindestens ein hiezu Berechtigter einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung der Entscheidung gemäß §29 Abs4 VwGVG gestellt hat (§82 Abs3b letzter Satz VfGG; siehe VfGH 10.3.2021, E2059/2020; VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082).
2.2. Unabhängig von der Möglichkeit, die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung anzufechten, ist der Rechtsschutzsuchende in der Regel auf die – nähere und ausführliche – Begründung der Entscheidung in der schriftlichen Ausfertigung gemäß §29 Abs4 VwGVG angewiesen, um die Entscheidung auf Grund der maßgebenden Erwägungen gegebenenfalls mit einer Beschwerde gemäß Art144 B-VG bekämpfen zu können. Aus der rechtsstaatlich gebotenen Pflicht zur Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen folgt daher im Zusammenhang mit der Regelungssystematik des §29 VwGVG auch die Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung, weil andernfalls dem Rechtsschutzsuchenden effektiver Rechtsschutz verwehrt sein könnte (zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes siehe zB VfSlg 11.196/1986, 15.218/1998, 17.340/2004, 20.107/2016), was rechtsstaatlichen Anforderungen an die Erlassung gerichtlicher Entscheidungen widerspricht (VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua; VfGH 23.6.2021, E720/2021; 22.9.2021, E2443/2021).
2.3. Die schriftliche Ausfertigung der am 29. Juni 2020 mündlich verkündeten Entscheidung erfolgte vorliegend am 20. Oktober 2021 und somit nahezu 16 Monate nach der mündlichen Verkündung. Eine derart lange Zeitspanne zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung der Entscheidung widerspricht der Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung und somit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen (VfGH 10.3.2021, E2059/2020; 23.6.2021, E720/2021; 22.9.2021, E2443/2021). An diesem Ergebnis vermag auch das Vorbringen des Verwaltungsgerichtes Wien, wonach die vorliegende Verzögerung auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zurückzuführen sei, nichts zu ändern. Auch diese Umstände vermögen eine Zeitspanne von nahezu 16 Monaten zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung der Entscheidung nicht zu rechtfertigen.
III. Ergebnis
1. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch Spruchpunkt 1 ("keine Zutrittskontrolle") des angefochtenen Erkenntnisses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60, ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 218,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
Verhandlung mündliche, Entscheidungsverkündung, Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, Verwaltungsgerichtsverfahren, Glücksspiel, COVID (Corona)European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E4370.2021Zuletzt aktualisiert am
04.05.2022