Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R* P*, vertreten durch Mag. Julian Wegerth, Rechtsanwalt in Ebreichsdorf, gegen die beklagten Parteien 1. E* S*, und 2. W*, beide vertreten durch Maraszto Milisits Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 19.135,39 EUR sA und Feststellung (Revisionsinteresse 5.335,50 EUR), über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 8. September 2021, GZ 5 R 83/21v-44, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 21. März 2021, GZ 20 Cg 60/20i-40, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird hinsichtlich des Leistungsbegehrens dahingehend abgeändert, dass es einschließlich der rechtskräftigen Teile folgendermaßen zu lauten hat:
„1. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 5.335,50 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. 10. 2018 binnen 14 Tagen zu bezahlen.
2. Das Mehrbegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei weitere 13.799,89 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. 10. 2018 zu bezahlen, wird abgewiesen.
3. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei an anteiligen Barauslagen in erster Instanz 1.416,30 EUR binnen 14 Tagen zu ersetzen.
4. Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 4.716,19 EUR (darin enthalten 786,03 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.
5. Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 1.431,91 EUR (darin enthalten 133,97 EUR USt und 628,10 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 1.390,06 EUR (darin enthalten 91,98 EUR USt und 838,20 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Am 2. 7. 2018 gegen 7:50 Uhr morgens ereignete sich im Ortsgebiet von Laxenburg auf der Wiener Straße im Kreuzungsbereich mit der Aspangbahnstraße ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker seines Motorrads und die Erstbeklagte als Lenkerin und Halterin eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren.
[2] Die grob von Süden nach Norden gerade verlaufende Wiener Straße weist im Unfallstellenbereich keine Markierungen auf, die die beiden Richtungsfahrstreifen zueinander abgrenzen. An beiden Rändern der aktiven Fahrbahn befinden sich Mehrzweckstreifen. Von Westen kommend mündet die Aspangbahnstraße trichterförmig ein, und zwar mit zwei durch eine Leitlinie voneinander getrennten Fahrstreifen von jeweils rund 3,4 m Breite. In Annäherung zur Wiener Straße kommend befindet sich rechts der aktiven Fahrbahn der Aspangbahnstraße das Vorschriftszeichen „Vorrang geben“. Ungefähr auf gleicher Höhe mündet von Osten kommend die Herbert-Rauch-Gasse ebenfalls trichterförmig in die Wiener Straße ein. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Unfallstellenbereich beträgt 50 km/h, das Wetter im Unfallzeitpunkt war trocken und sonnig.
[3] Zum Unfallzeitpunkt stand eine Fahrzeugkolonne auf dem Fahrstreifen der Wiener Straße in Richtung Wien (Norden), die sich nach der Kreuzung bis zum Bahnschranken der Aspangbahn fortsetzte. Die Kreuzung Wiener Straße – Aspangbahnstraße – Herbert-Rauch-Gasse wurde von der stehenden Kolonne freigehalten. Dieser Kolonne näherte sich der von Süden kommende Kläger und fuhr an ihr links vorbei.
[4] Eine Lenkerin war mit ihrem PKW auf der Aspangbahnstraße unterwegs, sie wollte in die Wiener Straße in Richtung Wien nach links einbiegen. Zum Zeitpunkt der Kollision stand ihr Fahrzeug seit mindestens drei Minuten.
[5] Die Erstbeklagte näherte sich der Kollisionsstelle ebenfalls aus der Aspangbahnstraße kommend. Sie wollte ursprünglich ebenfalls nach links in die Wiener Straße Richtung Wien einbiegen. Da aber der Schranken der Aspangbahn geschlossen war und sie die davor aufgestaute Kolonne wahrnahm, entschloss sie sich, die Kreuzung in gerader Richtung in die Herbert-Rauch-Gasse zu überqueren, um dort den Wagen zu wenden und anschließend nach rechts in die Wiener Straße Richtung Wien einbiegen zu können.
[6] Die Erstbeklagte fuhr, ohne anzuhalten, links an dem in der Aspangbahnstraße angehaltenen PKW vorbei mit einer konstanten Fahrgeschwindigkeit von ca 15 km/h bis zur Kollision mit dem Klagsfahrzeug. Das in der Aspangbahnstraße angehaltene Fahrzeug behinderte die Sicht der Erstbeklagten auf das sich von rechts annähernde Klagsfahrzeug. Hätte die Erstbeklagte ihr Fahrzeug vor dem Einfahren in die Wiener Straße zum Stillstand gebracht, hätte sie das sich von rechts annähernde Klagsfahrzeug wahrnehmen können. Die Erstsicht auf das Klagsfahrzeug war rund 1,2 Sekunden vor der Kollision möglich. Die Erstbeklagte hätte bei einer sofortigen Vollbremsung die Kollision verhindern können.
[7] Im Zeitpunkt der Kollision war die Sitzposition des Klägers rund 3,2 m vom rechten Mehrzweckstreifen entfernt. Er befand sich damit in der westlichen Hälfte der aktiven Fahrbahn, wobei er die Fahrbahnmitte mit rund 0,65 m überschritt. Er hielt eine konstante Fahrlinie ein. Die Fahrt- und Kollisionsgeschwindigkeit des Klägers betrug ca 30 km/h.
[8] Bei der Kollision kippte das Motorrad nach rechts, der Kläger fiel vom Fahrzeug und verletzte sich. Durch den Unfall entstand dem Kläger ein (im Revisionsverfahren der Höhe nach nicht mehr strittiger) Schaden von 10.671 EUR.
[9] Der Kläger begehrt – soweit im Revisionsverfahren noch relevant – von den Beklagten den Ersatz seines Schadens. Die Erstbeklagte treffe das Alleinverschulden am Unfall, weil sie seinen Vorrang missachtet habe.
[10] Die Beklagten wenden ein, den Kläger treffe das Alleinverschulden, jedenfalls aber ein relevantes Mitverschulden, weil er an einer stehenden Kolonne, die die Kreuzung freigehalten habe, mit relativ überhöhter Geschwindigkeit vorbeigefahren sei. Damit habe er gegen § 17 Abs 4 StVO verstoßen.
[11] Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren mit 10.671 EUR sA statt und wies das Mehrbegehren unbekämpft ab. Das Alleinverschulden treffe die Erstbeklagte, weil sie den nach § 19 Abs 4 StVO dem Kläger zukommenden Vorrang verletzt habe. Dem Kläger falle keine relativ überhöhte Geschwindigkeit zur Last. Er habe auch keine Möglichkeit gehabt, den Unfall zu vermeiden.
[12] Das nur von den Beklagten hinsichtlich des halben zugesprochenen Betrags (5.335,50 EUR sA) angerufene Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts. Der Kläger habe zwar gegen § 17 Abs 4 StVO verstoßen, von dessen Schutzzweck auch der Querverkehr erfasst sei. Der Erstbeklagten falle hingegen nicht nur die Vorrangverletzung nach § 19 Abs 4 StVO, sondern auch die festgestellte Reaktionsverspätung sowie der Verstoß gegen § 17 Abs 1 letzter Satz StVO zur Last, weil sie (statt zulässigerweise rechts) links an dem zum Linksabbiegen in der Aspangbahnstraße angehaltenen PKW vorbeigefahren sei, wodurch die beiderseitige Sicht der Unfallbeteiligten aufeinander behindert worden sei. Das Verschulden des Klägers trete gegenüber den mehrfachen Sorgfaltswidrigkeiten der Erstbeklagten derart in den Hintergrund, dass es zu vernachlässigen und somit vom Alleinverschulden der Erstbeklagten auszugehen sei.
[13] Das Berufungsgericht ließ nachträglich die Revision zu, weil Verfahrensfehler der zweiten Instanz von erheblicher Bedeutung der Prüfung durch den Obersten Gerichtshof unterlägen, so hier, ob das Berufungsgericht bei der Verschuldensteilung von unzulässigen und/oder unrichtigen Annahmen ausgegangen sei.
[14] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils dahingehend, nur im Umfang von 5.335,50 EUR sA stattzugeben, das Mehrbegehren hingegen abzuweisen sei; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[15] Der Kläger beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[16] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
[17] Die Revisionswerberinnen machen geltend, die vom Berufungsgericht als weitere Verschuldenselemente der Erstbeklagten angenommene Reaktionsverspätung sowie der Verstoß gegen § 17 Abs 1 letzter Satz StVO seien von keinem erstinstanzlichen Vorbringen des Klägers gedeckt und die diesbezüglichen Feststellungen daher überschießend. Überdies würde deren Berücksichtigung zu einer (von der Vorrangverletzung konsumierten) Doppelverwertung führen. In vergleichbaren Fällen sei der Oberste Gerichtshof stets von einer Verschuldensteilung von 1:1 ausgegangen.
Hierzu wurde erwogen:
1. Zu den überschießenden Feststellungen
[18] 1.1. Die Behauptung der Revision betreffend das fehlende Vorbringen des Klägers zu den über die Vorrangverletzung hinaus vom Berufungsgericht als Verschuldenselemente der Erstbeklagten angenommenen Verstößen trifft zu.
[19] 1.2. Bei Verkehrsunfällen kann nach der Rechtsprechung des Senats oftmals bei der Auslegung des Vorbringens zum Unfallshergang kein allzu engherziger Maßstab angelegt werden, will man nicht die Forderung an die Exaktheit des Vorbringens unangemessen überziehen (RS0122871).
[20] So wurde etwa zu 2 Ob 101/07b festgehalten, die Behauptung, das Fahrzeug sei „plötzlich abgebremst“ worden, impliziere auch den Vorwurf des Verstoßes gegen § 21 Abs 1 StVO („jäh und für den Lenker eines nachfolgenden Fahrzeuges überraschend abbremsen“).
[21] Umgekehrt wurde in der Entscheidung 2 Ob 163/09y ausgesprochen, der Vorwurf der Verletzung des Vorrangs indiziere bei einer ampelgeregelten Kreuzung aber grundsätzlich nur die Tatsachenbehauptung, dass das gegnerische Fahrzeug bei Gelblicht oder bei Rotlicht (§ 38 Abs 2 und 5 StVO) in den Kreuzungsbereich eingefahren sei, nicht aber auch, der Straßenbahnfahrer hätte vor Einfahrt in die Kreuzung erkennen können, dass ihm der abgestellte LKW kein ungehindertes Passieren ermöglichen werde.
[22] 1.3. In diesem Sinn impliziert hier die Behauptung des Klägers, die Erstbeklagte habe seinen Vorrang (hier nach § 19 Abs 4 StVO) verletzt, nicht auch die Behauptung einer Reaktionsverspätung oder eines Verstoßes gegen das in § 17 Abs 1 letzter Satz StVO normierte Gebot, an einem entsprechend eingeordneten Fahrzeug, dessen Lenker die Absicht nach links einzubiegen anzeigt (§ 13 Abs 2 StVO), rechts vorbeizufahren.
[23] 1.4. Dazu kommt, dass der Kläger gar nicht behauptet hat und auch nicht festgestellt wurde, dass die Lenkerin des in der Aspangbahnstraße angehaltenen PKW durch Einordnen zur Mitte hin (§ 13 Abs 2 StVO) und Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers (§ 11 Abs 2 und 3 StVO) ihre Absicht, nach links einzubiegen, angezeigt hat. Auch deshalb kann der Erstbeklagten ein Verstoß gegen § 17 Abs 1 letzter Satz StVO nicht vorgeworfen werden.
[24] 1.5. Soweit also überhaupt Feststellungen zu einem Fehlverhalten der Erstbeklagten, die über die Vorrangverletzung hinausgehen, vorliegen, sind sie überschießend und hätten daher vom Berufungsgericht bei der Verschuldensabwägung nicht berücksichtigt werden dürfen (vgl RS0112213 ua).
2. Zur Verschuldensteilung
[25] 2.1. Somit sind der Erstbeklagten nur die Vorrangverletzung nach § 19 Abs 4 StVO und dem Kläger der Verstoß gegen das in § 17 Abs 4 StVO normierte Verbot des Vorbeifahrens an der nach § 18 Abs 3 StVO gebildeten Kolonne vorzuwerfen. Wie schon das Berufungsgericht insofern zutreffend ausgeführt hat, bezweckt die Norm des § 17 Abs 4 StVO auch den Schutz des Querverkehrs (RS0074465).
[26] 2.2. Der erkennende Fachsenat hat in vergleichbaren Fällen (ohne Hinzutreten weiterer Wertungsgesichtspunkte) stets ein gleichteiliges Verschulden der unfallbeteiligten Lenker angenommen (2 Ob 46/94: gemäß § 53 Abs 1 Z 25 StVO verbotenes Vorbeifahren auf einer Busspur gegen Vorrangverletzung nach § 19 Abs 5 StVO; 2 Ob 54/07s: entgegen § 38 Abs 4 Satz 4 StVO auf ampelgeregelter Kreuzung Linksabbiegender gegen entgegen § 9 Abs 6 StVO auf Rechtsabbiegespur geradeausfahrenden entgegenkommenden Motorradlenker; 2 Ob 83/08g: gegen die Anhaltepflicht vor der Haltelinie vor einer Eisenbahnkreuzung gemäß § 44 Abs 1, § 55 Abs 2 StVO Verstoßender gegen Vorrangverletzung gemäß § 19 Abs 4 und 7 StVO; 2 Ob 94/09a: entgegen § 19 Abs 5 StVO Linksabbiegende gegen entgegenkommenden gegen § 8 Abs 4 StVO verstoßenden, auf einem Mehrzweckstreifen an einer Kolonne vorbeifahrenden Motorradlenker; 2 Ob 54/10w: gegen § 38 Abs 4 Satz 4 StVO verstoßender Linksabbieger gegenüber gegen § 17 Abs 4 StVO verstoßenden Motorradlenker).
[27] 2.3. Im Sinn der zitierten Judikatur ist auch hier von einer Verschuldensteilung von 1:1 auszugehen. Damit hat die Revision Erfolg, was zum spruchgemäßen Ergebnis führt.
3. Kosten
[28] 3.1. Die Kostenentscheidung für das erstinstanzliche Verfahren gründet auf § 43 Abs 1 und 2 ZPO. Auf Basis der sich aus dem (ungekürzten) berechtigten Schmerzengeld ergebenden Bemessungsgrundlage von 21.095,39 EUR ist der Kläger mit rund 25 % durchgedrungen. Ihm steht der Ersatz von 25 % der Pauschalgebühr sowie der von ihm getragenen Sachverständigengebühren zu. Im Übrigen hat er aber an die Beklagten deren halbe Kosten zu zahlen.
[29] 3.2. Für das Berufungs- und das Revisionsverfahren gründet die Kostenentscheidung auf den §§ 41, 50 ZPO. Die beklagten Parteien sind hier voll durchgedrungen.
Textnummer
E134603European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00219.21A.0316.000Im RIS seit
04.05.2022Zuletzt aktualisiert am
04.05.2022