TE Vfgh Erkenntnis 2022/3/17 E2379/2021

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Veröffentlicht am 17.03.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
FremdenpolizeiG 2005 §69, §70
NAG §51 Abs3 Z1, §55 Abs3
Richtlinie 2004/38/EG Art6 Abs1, Art15 Abs1
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander betreffend die Gegenstandslosigkeit der Ausweisung eines deutschen Staatsangehörigen; mangelhafte Auseinandersetzung mit der tatsächlichen und wirksamen Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, insoweit damit das Beschwerdeverfahren wegen Gegenstandslosigkeit der Ausweisung eingestellt wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird in diesem Umfang aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist deutscher Staatsbürger, der Ende September 2017 zu Studienzwecken nach Österreich kam und seither über durchgehende Nebenwohnsitzmeldungen in Österreich verfügt.

2. Der Beschwerdeführer stellte am 23. Jänner 2018 bei der örtlich zuständigen Niederlassungsbehörde einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltsbescheinigung gemäß §51 Abs1 Z3 NAG zur Dokumentation seines auf das Recht der Europäischen Union gestützten Aufenthaltsrechtes.

3. In der Folge teilte die Niederlassungsbehörde dem Beschwerdeführer mit, dass sie verpflichtet sei, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß §55 Abs3 NAG hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung zu befassen, weil der Beschwerdeführer trotz Aufforderung keinen Nachweis eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes habe erbringen können.

4. Nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Ausweisung des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 23. August 2019 aus dem österreichischen Bundesgebiet an und erteilte einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit der Entscheidung.

5. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Beschwerdevorentscheidung vom 16. Oktober 2019 als verspätet zurück. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin einen Vorlageantrag.

6. Mit Erkenntnis vom 3. Mai 2021 hob das Bundesverwaltungsgericht die zurückweisende Beschwerdevorentscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl auf und stellte das Beschwerdeverfahren gemäß §69 Abs1 FPG wegen Gegenstandslosigkeit ein.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass gemäß §69 Abs1 FPG eine Ausweisung gegenstandslos werde, wenn ein EWR-Bürger, ein Schweizer Bürger oder ein begünstigter Drittstaatsangehöriger seiner Ausreiseverpflichtung nachgekommen sei. Der Beschwerdeführer sei nach Zustellung des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wiederholt seiner Ausreiseverpflichtung nachgekommen, weshalb die im angefochtenen Bescheid ausgesprochene Ausweisung gegenstandslos geworden sei. Das Beschwerdeverfahren sei deshalb einzustellen. Weiters führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der angefochtenen Ausweisung das mangelnde Rechtschutzbedürfnis des Beschwerdeführers entgegenstehe.

7. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses – hinsichtlich des Spruchpunktes C. – beantragt wird.

8. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

9. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat ebenfalls Verwaltungsakten vorgelegt und eine Äußerung erstattet.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit seiner Entscheidung vom 22. Juni 2021, Rs. C-719/19, FS/Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, aus Anlass eines Vorabentscheidungsersuchens des Staatsrates der Niederlande zu Auslegungsfragen des Art15 Abs1 der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38/EG, ABl 2004 L 158, 77, im Zusammenhang mit der Ausweisungsverfügung eines Mitgliedstaates, Folgendes ausgesprochen:

"Art15 Abs1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass eine auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassene Entscheidung über die Ausweisung eines Unionsbürgers aus dem Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, die mit der Begründung ergangen ist, dass dieser Unionsbürger kein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in diesem Hoheitsgebiet nach dieser Richtlinie mehr genieße, nicht schon allein deshalb, weil dieser Unionsbürger das Hoheitsgebiet physisch innerhalb der in dieser Entscheidung gesetzten Frist für seine freiwillige Ausreise verlassen hat, vollständig vollstreckt ist. Um ein neuerliches Aufenthaltsrecht nach Art6 Abs1 dieser Richtlinie im selben Hoheitsgebiet in Anspruch nehmen zu können, muss der Unionsbürger, gegen den eine solche Ausweisungsverfügung ergangen ist, nicht nur physisch das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verlassen haben, sondern auch seinen Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet tatsächlich und wirksam beendet haben, so dass bei seiner Rückkehr in dieses Hoheitsgebiet nicht davon ausgegangen werden kann, dass sein Aufenthalt in eben diesem Hoheitsgebiet fortbesteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände, die die besondere Situation des betreffenden Unionsbürgers kennzeichnen, der Fall ist. Ergibt eine solche Prüfung, dass der Unionsbürger seinen vorübergehenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nicht tatsächlich und wirksam beendet hat, ist dieser Mitgliedstaat nicht verpflichtet, auf der Grundlage desselben Sachverhalts, der zu der gegen diesen Unionsbürger ergangenen Ausweisungsverfügung geführt hat, eine neuerliche Ausweisungsverfügung zu erlassen, sondern er kann sich auf die bereits ergangene Entscheidung stützen, um ihn zu verpflichten, sein Hoheitsgebiet zu verlassen."

2.2. Vor diesem Hintergrund hätte sich das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall jedenfalls näher mit der Frage auseinanderzusetzen gehabt, ob der Beschwerdeführer seinen Aufenthalt im Bundesgebiet in Anbetracht aller die Situation kennzeichnenden Umstände tatsächlich und wirksam beendet hat. Die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes beschränken sich jedoch nur auf die Feststellung, dass der Beschwerdeführer das Bundesgebiet physisch verlassen habe. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber entgegen der zitierten Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union nicht geprüft, ob §69 Abs1 FPG auf den Beschwerdeführer insofern anwendbar ist, als er seiner Ausreiseverpflichtung im Lichte der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu Art6 Abs1 und Art15 Abs1 der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38/EG, tatsächlich nachgekommen ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass diese Entscheidung zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses noch nicht ergangen war, weil der Verfassungsgerichtshof einen solchen Widerspruch zum Unionsrecht jedenfalls aufzugreifen hat (vgl VfSlg 16.401/2001; VfGH 29.11.2021, E2979/2021). Im Übrigen besteht nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes jedenfalls ein Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers an der Feststellung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung (vgl zB VfGH 11.6.2021, E3737/2020), sodass die Einstellung des Beschwerdeverfahrens nicht zu Recht erfolgt ist.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, insoweit damit das Beschwerdeverfahren wegen Gegenstandslosigkeit der Ausweisung eingestellt wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Die Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Fremdenrecht, VfGH / Gegenstandslosigkeit, Einstellung, EU-Recht Richtlinie, Entscheidungsbegründung, Rückwirkung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E2379.2021

Zuletzt aktualisiert am

05.05.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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