TE OGH 2022/2/2 6Ob162/21y

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Veröffentlicht am 02.02.2022
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen E*, geboren am * 2018, *, über den Revisionsrekurs der Mutter B*, vertreten durch Sluka Hammerer Tevini Rechtsanwälte GmbH in Salzburg gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 29. Juli 2021, GZ 21 R 160/21g-26, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 4. Mai 2021, GZ 41 Ps 42/20a-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

[1]       Gegenstand des Pflegschaftsverfahrens ist der Antrag des Vaters der Minderjährigen auf Einräumung der gemeinsamen Obsorge sowie eines Kontaktrechts. Im Zuge des Verfahrens wurde die Familien- und Jugendgerichtshilfe Salzburg (in der Folge FGH) beauftragt, als Besuchsmittler iSd § 106b AußStrG tätig zu werden und dem Gericht über die Wahrnehmungen bei der Durchführung der persönlichen Kontakte schriftlich zu berichten.

[2]       Die FGH erstattete auftragsgemäß einen Besuchsmittlungsbericht. Im Anhang dieses Berichts wurden sämtliche Aktivitäten der FGH im Zusammenhang mit der Besuchsmittlung (ua Schriftverkehr, Telefonate und Gespräche) übersichtsartig erfasst.

[3]       Am 29. 4. 2021 stellte die Mutter beim Erstgericht den Antrag auf Einsichtnahme „in den gesamten Akt der Familiengerichtshilfe (FGH) betreffend E*, insbesondere hinsichtlich all jener Aktivitäten, die im Besuchsmittlungsbericht vom 14. 4. 2021 angeführt sind (Schriftverkehr und Gesprächsprotokolle)“.

[4]       Das Erstgericht wies den Antrag zurück. Bei den Aufzeichnungen der FGH, die über den von ihr übersendeten und den Parteien zugestellten Bericht hinausgehen, handle es sich nicht um Protokolle bzw Aktenbestandteile iSd § 22 AußStrG iVm §§ 207 ff, 218 ff ZPO. Allein das übermittelte Ergebnis der Tätigkeit (der übersendete Bericht) sei Aktenbestandteil und nur insoweit bestehe ein Recht auf Akteneinsicht.

[5]       Gegen diesen Beschluss rekurrierte die Mutter. Der Vater schloss sich in seiner Rekursbeantwortung dem Rekurs der Mutter vollinhaltlich an.

[6]       Das Rekursgericht gab dem Rekurs keine Folge und führte dazu aus, dass die über den übersendeten Bericht hinausgehenden Aufzeichnungen von der FGH in einem Handakt zu verwahren seien. Dieser Handakt sei aber nicht Teil des Prozessakts und somit keiner Akteneinsicht zugänglich. Auch stehe einer Akteneinsicht die Verschwiegenheitspflicht der FGH entgegen, von welcher sie nur im Rahmen einer „amtlichen Mitteilung“ bei Berichten an das Gericht entbunden sei. Die Mutter sei durch diese Entscheidung nicht in ihrem Recht auf Akteneinsicht nach Art 6 EMRK verletzt, weil (auch) nach dieser Bestimmung nur ein Recht auf Einsicht „in die in das Verfahren eingeführten Akten“ bestehe.

[7]       Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zu, weil eine Entscheidung des Höchstgerichts zum Umfang des Rechts auf Akteneinsicht in Bezug auf Unterlagen der Familiengerichtshilfe, die nicht Bestandteil des Gerichtsakts geworden sind, fehle.

Rechtliche Beurteilung

[8]       Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

[9]       1.1. Der FGH kommt im Gerichtsverfahren eine Hilfsfunktion zu. Sie unterstützt das Gericht auf dessen Auftrag bei der Sammlung der Entscheidungsgrundlagen, der Anbahnung einer gütlichen Einigung und der Information der Parteien in Verfahren über die Obsorge oder die persönlichen Kontakte (§ 106a AußStrG). Der FGH kommt somit im Gerichtsverfahren eine Stellung als Beweismittel „sui generis“ zu (BMVRDJ-Pr319.00/0026-III 4/2018, S 24).

[10]     Im konsolidierten Erlass zur Familiengerichtshilfe vom 11. 5. 2018 des BMVRDJ werden die internen Standards der FGH festgelegt: Die Berichte, insbesondere die fachliche Stellungnahme, sollen in sich schlüssig sein, sodass sämtliche Schlussfolgerungen, die getroffen werden, aus der Dokumentation im Bericht nachvollzogen werden können. Die Nachvollziehbarkeit ist jedoch auch dann gewährleistet, wenn im Detail auf den Akteninhalt bzw auf das „Aktenstudium“ bei der fachlichen Stellungnahme verwiesen wird. Darüber hinausgehende Aufzeichnungen (zB Gesprächsprotokolle, Ladungen, psychologische, pädagogische und sozialarbeiterische Untersuchungsergebnisse und deren Auswertungen, Telefonprotokolle, fallweise Aktenstudium, Stammdatenblatt, E-Mail Korrespondenz, Anfragen, Mitschriften aus den Erhebungen etc) sind daher entweder physisch in Form eines Handakts oder elektronisch aufzubewahren. Davon ausgenommen sind Aufzeichnungen und Notizen, die lediglich einen subjektiven Eindruck festhalten, der aber nicht Eingang in die Stellungnahme findet (BMVRDJ-Pr319.00/0026-III 4/2018, S 40).

[11]           1.2. Die bei der FGH tätigen Personen sind, außer im Fall einer „amtlichen Mitteilung“, gegenüber jedermann zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Verschwiegenheitspflicht betrifft alle bei der Ausübung ihrer Tätigkeit gemachten, im Interesse eines Beteiligten geheim zu haltenden Wahrnehmungen (§ 106a Abs 3 AußStrG). Diese Bestimmung ist § 50 Abs 3 Satz 2 JGG nachgebildet, weswegen auf die Literatur dazu verwiesen werden kann. Als „amtliche Mitteilung“ wird ein schriftlicher Bericht an die Staatsanwaltschaft oder das Gericht oder eine Zeugenaussage über ihre Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen verstanden (Schroll in Höpfel/Ratz, WK2 JGG § 50 [Stand 21. 10. 2020, rdb.at]). Auch im Fall einer amtlichen Mitteilung an das Gericht, erhält dieses den Handakt nicht (Toyooka, Neue Instrumente in Pflegschafsverfahren: Wer?, Wie?, Wann?, Warum? [Teil II], iFamZ 2017, 136).

[12]           2.1. Das Akteneinsichtsrecht der Parteien eines Verfahrens gehört zu jenen Parteienrechten, die die effektive Ausübung des rechtlichen Gehörs sowie die Waffengleichheit garantieren sollen (Rassi in Fasching/Konecny³ II/3 § 219 ZPO Rz 9 [Stand 1. 10. 2015, rdb.at]). Die Akteneinsicht ist die Informationsaufnahme aus dem Gerichtsakt (5 Ob 53/14a; vgl Danzl, Geo9 § 170 [Stand 10. 1. 2021, rdb.at] Anm 7, § 371 Anm 8).

[13]           2.2. Die Akteneinsicht nach § 219 ZPO (§ 22 AußStrG) umfasst sämtliche die Rechtssache der Parteien betreffende bei Gericht befindliche Prozessakten. Gemäß § 81 Abs 2 GOG sind alle Schriftstücke, welche dieselbe Rechtssache betreffen, in einem Aktenheft (Aktenbund) zu sammeln und unter einer und derselben gemeinsamen Bezeichnung zu vereinigen (Akten). Der Prozessakt besteht aus allen bei Gericht bleibenden schriftlichen Unterlagen über den Rechtsstreit. Er umfasst die Urschriften der Eingaben der Parteien und der anderen Verfahrensbeteiligten, die gerichtlichen Protokolle und Aktenvermerke, die Beweisaufnahmeprotokolle eines beauftragten oder ersuchten Richters und die Beilagen (Urkunden, Beweisstücke, Niederschriften, allenfalls Vollmachten) sowie die Urschriften der Entscheidungen und Verfügungen des Gerichts und auch den allein das Verfahren betreffenden Schriftwechsel mit anderen Behörden, soweit darüber nicht eigene Akten zu bilden sind. Aktenbestandteil werden auch Zustellausweise und Fehlberichte (Iby in Fasching/Konecny3 II/3 § 218 ZPO Rz 1 [Stand 1. 10. 2015, rdb.at]). Nach dem sogenannten materiellen Aktenbegriff ist der behördliche Akt die eine bestimmte Rechtssache betreffende Sammlung von Aufzeichnungen behördeninterner und -externer Vorgänge einschließlich der diese Vorgänge belegenden körperlichen Sachen (wie zB Bild- und Ton- sowie elektronische Datenträger; Danzl, Geo9 § 170 Anm 7 [Stand 10. 1. 2021, rdb.at] mwN).

[14]     2.3. Kein Recht auf Akteneinsicht besteht zunächst einmal bei den in § 219 ZPO angeführten Ausnahmen, die, soweit nicht sondergesetzliche Regelungen bestehen, als taxativ aufgezählt zu verstehen sind (RS0110043; Rassi in Fasching/Konecny3 § 219 ZPO Rz 23).

[15]           § 219 ZPO (§ 22 AußStrG) bezieht sich außerdem nur auf jene Unterlagen, die bereits Bestandteil der Prozessakten wurden. Deshalb sind etwa Urkunden, die zwar im Akt erliegen, deren Annahme und Verwertung im Beweisverfahren („Verlesung“) jedoch vom Gericht abgelehnt wurde, von der Einsicht auszunehmen (Rassi in Fasching/Konecny3 § 219 ZPO Rz 60).

[16]           Gleichermaßen sind nicht alle Beilagen, die im Akt erliegen, von der Einsichtnahme erfasst. Wurde etwa die Verlesung in einer mündlichen Verhandlung aus datenschutzrechtlichen Gründen abgelehnt, darf in die Beilagen nicht eingesehen werden. Das Gericht hat dabei eine Abwägung der Interessen der Akteneinsicht begehrenden Person einerseits und dem Interesse dessen, von dem die Beilagen stammen, andererseits vorzunehmen. Vor einer mündlichen Verhandlung bzw wenn eine solche nicht stattfindet, hat das Gericht bei Gewährung der Akteneinsicht die Zulässigkeit im Einzelfall zu prüfen (Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 22 Rz 49).

[17]     3. Der nicht bei Gericht erliegende Handakt (bzw der elektronisch geführte Akt) der FGH erfüllt demnach nicht den Begriff des Prozessakts des § 219 ZPO (§ 22 AußStrG) und § 170 Geo und ist schon aus diesem Grund vom Recht der Parteien auf Akteneinsicht nicht umfasst. Eine Übersendung des Handakts der FGH an das Gericht ist nicht vorgesehen. Da selbst Unterlagen, die zwar im Akt erliegen, aber nicht im Verfahren verwertet wurden, nicht der Akteneinsicht unterliegen, muss dies umso mehr für Dokumente gelten, die gar nicht bei Gericht erliegen und dort auch nicht vorgesehen sind. Dass die Aufzeichnungen der Gespräche (bzw Telefonate) nicht in Vollschrift im Bericht enthalten sind, ändert außerdem nichts an dessen Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit.

[18]     4.1. Die Mutter moniert, durch die Entscheidung des Rekursgerichts werde ihr Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 EMRK verletzt.

[19]           Zur Chancengleichheit und damit zu den Garantien des Art 6 Abs 1 EMRK gehören die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs sowie das zur wirksamen Rechtsdurchsetzung notwendige Recht auf Aktensicht (vgl RS0110043). Die Wahrung des rechtlichen Gehörs ist in § 15 AußStrG geregelt, wonach den Parteien Gelegenheit zu geben ist, von den Anträgen und Vorbringen der anderen Parteien und dem Inhalt der Erhebungen Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen. Das rechtliche Gehör im Sinn der Bestimmung wird nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wird, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (RS0074920; RS0005915). Das Gericht hat daher den Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekanntzugeben und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs begründet auch im außerstreitigen Verfahren Nichtigkeit (vgl RS0005915 [T15]). Als wesentliche Verfahrensergebnisse sind somit auch Berichte und Expertisen der Familiengerichtshilfe den Parteien zur Äußerung zu übermitteltn (Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 106a [Stand 1. 6. 2019, rdb.at]).

[20]     4.2. Eine Verpflichtung, die Parteien von jedem einzelnen Beweisergebnis in Kenntnis zu setzen, besteht allerdings nicht (RS0006002 [T4]). Ebenso ist es nicht erforderlich, dass einer Partei der Inhalt aller Erhebungen im Einzelnen zur Kenntnis gebracht wird oder diese im Detail erörtert werden, dies unter Bedachtnahme auf die Grundsätze der Konzentration und Beschleunigung des Verfahrens (vgl 1 Ob 88/08k).

[21]     4.3. Der Besuchsmittlerbericht der FGH wurde den Parteien zur Äußerung zugestellt; der Umstand, dass ihnen die Einsichtnahme in den Handakt der FGH verwehrt blieb, begründet sohin keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil eine Äußerung zu den wesentlichen Verfahrensergebnissen unbehindert möglich war.

[22]     4.4. Daran ändert auch die vom Revisionsrekurs zitierte Entscheidung des EGMR (24. 2. 1995, McMichael gg das Vereinigte Königreich, ÖJZ 1995, 704), nichts, weil der dort behandelte Fall anders gelagert war. Dort wurde der Mutter im Zuge eines „children´s hearings“ ein grundlegendes Schriftstück, nämlich ein vom Fürsorgeamt über das Kind erstellter Bericht, überhaupt nicht vorgelegt. Der Vorsitzende des children´s hearings informierte die Mutter lediglich über den Inhalt. Der EGMR beurteilte die Unterlassung der Offenlegung solcher elementarer Schriftstücke als eine Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK, weil ein faires – kontradiktorisches – Verfahren auch das Recht der Parteien beinhalte, die vorgebrachten Bemerkungen oder die beigebrachten Beweise kennenzulernen und dazu Stellung zu nehmen.

[23]     Im konkreten Fall war die Mutter in die Erstellung des Besuchmittlerberichts eingebunden, und ihr wurde vom Gericht – nach Zustellung des Berichts – Gelegenheit eingeräumt, dazu Stellung zu beziehen. Das rechtliche Gehör der Mutter wurde damit gewahrt, weswegen eine bloße Verweigerung der Einsichtnahme in die internen Aufzeichnungen der FGH keine Verletzung des Art 6 EMRK darstellt.

[24]     4.5. Auch die behauptete Verletzung des Art 8 EMRK liegt nicht vor. Eine Verwehrung der Akteneinsicht kann zwar grundsätzlich eine Verletzung des Art 8 EMRK darstellen (vgl EGMR 24. 9. 2002, Bsw 39393/98 M. G. gegen das Vereinigte Königreich). Ein Grundrechtseingriff ist hier jedoch zu verneinen, weil das Recht auf Akteneinsicht eben nicht verletzt wurde.

[25]     4.6. Lediglich der Vollständigkeit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass gemäß § 106b AußStrG ein Bericht über die Wahrnehmungen der FGH bei der Durchführung der persönlichen Kontakte auf Antrag des Gerichts in einer mündlichen Verhandlung möglich ist. Die Verschwiegenheitspflicht der FGH gilt nicht gegenüber dem Pflegschaftsgericht, wenn die FGH schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung Bericht über die Ergebnisse ihres Auftrags erstattet (§ 106a Abs 4 AußStrG; vgl Standards der Familiengerichtshilfe, iFamZ 2016, 50). Gleiches gilt auch für die – hier verfahrensgegenständlichen – Besuchsmittlerberichte nach § 106b AußStrG (iFamZ 2016, 57).

[26]     Im Verfahren außer Streitsachen kommt dem Gericht Beweisaufnahmeermessen zu (6 Ob 149/06; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG I2 § 31 Rz 11). Hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme ist der Richter also nicht streng an die Anträge der Parteien gebunden; er kann darüber hinausgehen, aber auch nach seinem Ermessen im Interesse einer zügigen Verfahrensführung von der Aufnahme einzelner Beweismittel Abstand nehmen, wenn auch auf andere Weise eine (ausreichend) verlässliche Klärung möglich ist 6 Ob 149/06i; Höllwerth aaO, 6 Ob 217/18g). In der Literatur wird allerdings im Zusammenhang mit dem ähnlich gelagerten Fall der Berichterstattung des Kinder- und Jugendhilfeträgers (§ 106 AußStrG) die Auffassung vertreten, dass den Beteiligten ein Recht auf die Erörterung der Beweisergebnisse in einer mündlichen Verhandlung zusteht (Lachmann, Parteienrechte und die Rolle des Jugendwohlfahrtsträgers in Pflegschaftsverfahren, AnwBl 199, 16, in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 106 Rz 13; Frohner in Schneider/Verweijen, AußStrG § 106 Rz 16; Beck, Kindschaftsrecht3 Rz 1069; aA zur FGH allerdings Höllwerth in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013, 308 f). Dem ist zu folgen:

[27]     Dass den Parteien das Recht zusteht, zu Berichten und Expertisen der FGH Stellung zu nehmen, wurde bereits ausgeführt (vgl ErwGr 4.1.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Berichte weder als Zeugenaussagen noch als Sachverständigengutachten zu qualifizieren sind (9 Ob 20/17g; Frohner in Schneider/Verweijen, AußStrG § 106c Rz 28; Höllwerth in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013, 301), sondern als Beweismittel eigener Art und daher der freien Beweiswürdigung des Gerichts unterliegen (7 Ob 129/15v; Frohner aaO). Als solche Beweismittel sui generis sind die Ausführungen der FGH widerlegbar (LG Innsbruck EFSlg 148.167). Wenngleich das Entkräften oder Falsifizieren des Berichts der FGH vor allem durch ein Sachverständigengutachten gelingen wird können, darf den Beteiligten doch nicht das Recht genommen werden, Widersprüche oder Fehler auch in einer mündlichen Verhandlung aufzuzeigen und das Berichtssubstrat zu hinterfragen, um die Beweiskraft des Berichts in Zweifel zu stellen. Auch wenn der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Außerstreitverfahren im Allgemeinen nicht gilt (RS0006370; RS0006319), weswegen eine mündliche Erörterung der Beweisergebnisse grundsätzlich nicht zwingend erforderlich ist, widerspräche eine solch strenge Handhabung dem Grundsatz der materiellen Wahrheitsfindung, dem insbesondere durch eine lebensnahe Beweiswürdigung entsprochen werden kann (Höllwerth in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013, 307).

[28]     Der Mutter wäre es somit freigestanden, die Berichterstattung der FGH im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zum Zwecke der Erörterung des Berichtssubstrats zu beantragen.

[29]     5. Zusammenfassend erweisen sich die Entscheidungen der Vorinstanzen somit als frei von Rechtsirrtum, sodass dem unbegründeten Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen war.

Textnummer

E134531

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0060OB00162.21Y.0202.000

Im RIS seit

04.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

04.05.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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