TE Vwgh Erkenntnis 2022/4/5 Ra 2021/21/0316

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Veröffentlicht am 05.04.2022
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E2D Assoziierung Türkei
E2D E02401013
E2D E05204000
E2D E11401020
E3L E19104000
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ARB1/80 Art7
AsylG 2005 §60
AVG §56
EURallg
FrPolG 2005 §52 Abs4 Z1
FrPolG 2005 §52 Abs4 Z4
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
NAG 2005 §11 Abs1
NAG 2005 §11 Abs2
NAG 2005 §11 Abs2 Z1
NAG 2005 §11 Abs4 Z1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art12 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des C G, vertreten durch Mag. Christian Hirsch, Rechtsanwalt in 2700 Wiener Neustadt, Hauptplatz 28, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. August 2021, L504 2223834-1/39E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der 1995 in Österreich geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, wuchs im Bundesgebiet auf und verfügte durchgehend über Aufenthaltstitel, insbesondere mit Gültigkeit ab 27. Dezember 2010 über den unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EG“ bzw. „Daueraufenthalt - EU“. In Österreich leben seine Eltern, seine Geschwister und seine Freundin, eine österreichische Staatsbürgerin, mit der er im gemeinsamen Haushalt wohnt.

2        Der Revisionswerber wurde beginnend mit dem Urteil vom 12. Jänner 2010 wiederholt wegen als Jugendlicher bzw. dann als junger Erwachsener begangener Straftaten, insbesondere wegen Raubes, schwerer Körperverletzung und gewerbsmäßigen Einbruchsdiebstahls, in insgesamt sieben Fällen zu zur Gänze oder zum Teil bedingt nachgesehenen und dreimal zu unbedingten Freiheitsstrafen verurteilt. Danach verhängte das Landesgericht für Strafsachen Wien über den Revisionswerber noch mit rechtskräftigem Urteil vom 16. März 2017 wegen der Vergehen des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB, der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB, der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB und des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall sowie Abs. 2 SMG eine unbedingte Freiheitsstrafe in der Dauer von sechzehn Monaten. Schließlich sprach das Landesgericht Wiener Neustadt den Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil vom 21. Februar 2018 noch wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster, zweiter, vierter und achter Fall sowie Abs. 2 SMG schuldig, sah jedoch unter Bedachtnahme auf das zuletzt genannte Urteil von der Verhängung einer Zusatzstrafe ab. Der Revisionswerber war zuletzt im Zeitraum von Juni 2017 bis Juli 2019 in Haft.

3        Angesichts dieser Straftaten stellte der Bürgermeister der Stadt Wiener Neustadt mit rechtskräftig gewordenem Bescheid vom 26. Juli 2019 gemäß § 28 Abs. 1 NAG fest, dass der dem Revisionswerber „am 07.01.2011 erteilte unbefristete Aufenthaltstitel ‚Daueraufenthalt - EU‘ zurückgestuft wird.“ Dem Revisionswerber wurde in der Folge (am 4. September 2019) - entsprechend der abschließenden Ankündigung in dem erwähnten Bescheid - der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ mit Gültigkeit bis 3. September 2022 erteilt.

4        Im Hinblick auf die genannten strafgerichtlichen Verurteilungen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 17. August 2019 gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA unter einem fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei, und gewährte ihm gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

5        Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. August 2021 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die Rückkehrentscheidung auf § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG gestützt werde. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

7        Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG - wie die nachstehenden Ausführungen zeigen - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

8        Die Maßgabebestätigung in Bezug auf die Rückkehrentscheidung begründete das BVwG damit, dass der Revisionswerber im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung nicht mehr über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt -EU“, sondern nur mehr über den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“, verfügte, weshalb nicht mehr § 52 Abs. 5 FPG, sondern § 52 Abs. 4 FPG als Rechtsgrundlage für die Rückkehrentscheidung einschlägig sei. Dem ist insofern beizupflichten, als nach dem Wortlaut des § 52 Abs. 5 FPG dessen Anwendung voraussetzt, dass der Drittstaatsangehörige über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfügt.

9        Der somit in erster Linie maßgebliche § 52 Abs. 4 FPG lautet, soweit fallbezogen relevant, wie folgt:

„(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

1.   nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre,

...

4.   der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder

...“

10       Ein Versagungsgrund im Sinne der beiden genannten Bestimmungen liegt insbesondere dann vor, wenn der (weitere) Aufenthalt des Fremden gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden“ würde. Auf diese einfache Gefährdungsannahme hat das BVwG in seiner Begründung allerdings - zu Recht - nicht abgestellt, weil der türkische Revisionswerber die Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 erworben hat und er sich im Zeitraum bis zur Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen und rechtmäßig in Österreich aufhält. Nach der vom BVwG zutreffend zitierten Rechtsprechung (VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 24 und 29 bis 32, mit dem Hinweis auf EuGH 8.12.2011, Ziebell, C-371/08) ist in diesem Fall der Gefährdungsmaßstab des Art. 12 Abs. 1 der Daueraufenthalts-RL, umgesetzt in nationales Recht mit § 52 Abs. 5 FPG, maßgeblich (siehe im Anschluss an die angeführte Judikatur etwa noch VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0363, Rn. 14/15, wo sich der Gerichtshof auch mit der Stellung des § 52 Abs. 5 FPG im „Stufenbau“ der jeweils erforderlichen Gefährdungsprognosen bei Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen befasste). Zu Recht hat das BVwG daher für die Annahme eines Versagungsgrundes nach § 52 Abs. 4 FPG das Vorliegen einer „gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ iSd § 52 Abs. 5 FPG geprüft.

11       Im Hinblick auf die weitere Annahme des BVwG, angesichts der Straftaten des Revisionswerbers sei dieser Gefährdungsmaßstab erfüllt, ging es dann davon aus, die Voraussetzungen der Z 4 des § 52 Abs. 4 FPG für die Erlassung der Rückkehrentscheidung seien erfüllt. Dabei ließ es jedoch außer Acht, dass § 52 Abs. 4 Z 4 FPG nur dann in Betracht kommt, wenn die Gültigkeit des dem Fremden erteilten Aufenthaltstitels abgelaufen und ein Verlängerungsverfahren anhängig ist (vgl. VwGH 18.11.2021, Ra 2021/22/0148, Rn. 17, mit dem Hinweis auf VwGH 19.8.2021, Ra 2021/21/0031, Rn. 19, mwN). Das war vorliegend nicht der Fall, weil der dem Revisionswerber erteilte Aufenthaltstitel bis 3. September 2022 gültig ist.

12       Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung hätte daher nur auf § 52 Abs. 4 Z 1 FPG gestützt werden können, was allerdings vorausgesetzt hätte, dass nachträglich ein Versagungsgrund entweder eingetreten oder bekannt geworden ist, welcher der Erteilung des letzten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre. Nach der genannten Bestimmung ist nämlich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen aufgrund eines gültigen Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen - und damit auch die Erlassung eines mit der Rückkehrentscheidung zu verbindenden Einreiseverbots nach § 53 FPG - aufgrund eines Sachverhaltes, der die Versagung des dem Drittstaatsangehörigen zuletzt erteilten Aufenthaltstitels gerechtfertigt hätte, nur zulässig, wenn dieser Sachverhalt erst nach Erteilung des Titels eingetreten oder zwar zuvor eingetreten, der Niederlassungsbehörde aber erst nachträglich bekannt geworden ist (vgl. dazu VwGH 12.7.2021, Ra 2019/21/0375, Rn. 14, mwN).

13       Wie auch in der Revision geltend gemacht wird, wurde dem Revisionswerber nach seiner letzten, im Februar 2018 erfolgten strafgerichtlichen Verurteilung im September 2019 der Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ erteilt. Der vom Verwaltungsgerichtshof beigeschafften Ausfertigung des dieser Aufenthaltstitelerteilung zugrundeliegenden Rückstufungsbescheides des Bürgermeisters der Stadt Wiener Neustadt vom 26. Juli 2019 lässt sich entnehmen, dass der Niederlassungsbehörde damals alle gegen den Revisionswerber ergangenen, nunmehr als Versagungsgrund angesehenen neun strafgerichtlichen Verurteilungen bekannt waren. Auf einen nachträglich eingetretenen Versagungsgrund hat sich das BVwG aber gar nicht gestützt und dafür bestehen nach der Aktenlage auch keine Anhaltspunkte. Beide Alternativen der Z 1 des § 52 Abs. 4 FPG sind daher nicht erfüllt, weshalb sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und des mit ihr verbundenen Einreiseverbots als rechtswidrig erweist (vgl. VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0230, Rn. 13/14, mwN).

14       Im Übrigen referierte das BVwG zwar in seinem Erkenntnis die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu der mit dem FrÄG 2018 mit Wirkung ab 1. September 2018 aufgehobenen Bestimmung des § 9 Abs. 4 BFA-VG, die davor in der Z 2 ein (absolutes) Verbot der Erlassung von Rückkehrentscheidungen insbesondere gegen in Österreich geborene und hier langjährig niedergelassene, rechtmäßig aufhältige Drittstaatsangehörige vorsah. Nach dieser Rechtsprechung sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA-VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiterhin beachtlich und es seien daher in diesen Fällen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen zulässig (vgl. etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, wo u.a. auch auf entsprechende Judikatur des EGMR Bezug genommen wurde). Mit der demnach auch im vorliegenden Fall maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund (insgesamt) besonders gravierender Straftaten vorliegt, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen eines Drittstaatsangehörigen erlaubt, setzte sich das BVwG allerdings in der weiteren Begründung nicht auseinander.

15       Das angefochtene Erkenntnis war somit aus den dargestellten Gründen (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16       Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. April 2022

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210316.L00

Im RIS seit

02.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

17.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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