TE Vfgh Erkenntnis 2022/3/16 E273/2022

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Veröffentlicht am 16.03.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art2
EMRK Art3
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
RechtsanwaltstarifG §23
ZPO §64 Abs1 Z1 lita
VfGG §7 Abs1, §88

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; extrem volatile Sicherheitslage auf Grund aktueller Länderinformationen des EASO vom Dezember 2021 weiterhin gegeben; mangelhafte Auseinandersetzung mit der Sicherheits- und Versorgungslage

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie im Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird stattgegeben.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der 23-jährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gesund, arbeitsfähig, ledig und kinderlos, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und stammt aus der Provinz Parwan. Am 30. August 2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16. März 2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt. Zudem wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan festgestellt und eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Mit angefochtener Entscheidung vom 21. Dezember 2021 wies es die Beschwerde ab und führt in der rechtlichen Beurteilung wie folgt aus (ohne die Hervorhebungen im Original):

"[…] Es ist daher zunächst die Sicherheitslage in der Heimatregion des BF zu prüfen. Seit Mitte August 2021 haben die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen. Seitdem sind, wie die Länderfeststellungen zeigen, die Zahl der Anschläge wie auch die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen. Es gibt auch keine Berichte über größere Auseinandersetzungen in Afghanistan, auch wenn der ISKP vereinzelt terroristische Anschläge verübt. Diese richten sich aber jedenfalls derzeit hauptsächlich gegen die Taliban oder allenfalls gegen Schiiten. Der BF ist daher in dieser Hinsicht keiner Gefahr ausgesetzt. Überdies ist der Aktionsradius des ISKP in Afghanistan durchaus beschränkt und es sind keine Berichte über größere Anschläge in der Heimatregion des BF bekannt.

Die Herrschaft der Taliban hat zwar für einige Gruppen insbesondere etwa die der Frauen oder der Menschenrechtsverteidiger die Sicherheitslage verschlechtert. Der BF ist allerdings selbst gläubiger Sunnit und ist auch nie gegen die Taliban in irgendeiner Weise aufgetreten oder wird das bei einer Rückkehr tun. Vielmehr wird der BF bei einer Rückkehr entsprechend den ihm bestens bekannten religiösen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten leben, die Moschee besuchen und etwa auch fasten. Der BF gehört der Religion an, der auch die Taliban in überwiegender Mehrheit angehören. Der BF gehört damit aber keiner Gruppe an, die von den Taliban gezielte Repressionen zu befürchten hätte, wie auch bereits in der Beweiswürdigung dargelegt wurde. Der BF ist zwar Tadschike und gehört im Gegensatz zum Großteil der Taliban damit nicht der Volksgruppe der Paschtunen an, allerdings gibt es keine Berichte dazu, dass Tadschiken in Afghanistan diskriminiert würden oder besonderen Sicherheitsrisiken ausgesetzt wären. Auch das EASO nennt die Tadschiken nicht als bedrohte ethnische Minderheit. Die Sicherheitslage steht daher im konkreten Fall einer Rückkehr nicht entgegen (siehe dazu auch EASO November 2021, S. 102). Der BF kann darüber hinaus durch den Kontakt mit seiner Familie auch bereits vor seiner Rückkehr über die aktuelle Sicherheitslage und die bestehenden Vorschriften informiert werden und seine Anreise dementsprechend planen und vorbereiten. Die Region ist auch sicher erreichbar, zumal der Flughafen Kabul wieder international angeflogen wird. Auch die Weiterreise in das benachbarte Parwan und seine Heimatregion ist über den Landweg problemlos möglich. Vom Flughafen kann der BF von seiner Familie auch abgeholt werden. Nicht zuletzt hat er ja auch Verwandte, die in Kabul leben, und ist sein Vater als Händler regelmäßig in Kabul. Die Sicherheitslage steht daher einer Rückkehr nicht entgegen.

Auch die Versorgungslage begründet keine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK (siehe dazu auch EASO November 2021, S. 104f). Dabei verkennt das Bundesverwaltungsgericht nicht, dass die wirtschaftliche Situation in Afghanistan, wie sich aus den Länderberichten ergibt, aufgrund verschiedener Umstände (Dürre, Lebensmittelunsicherheit, Stopp der ausländischen Hilfsgelder) höchst angespannt ist. Wie aber ebenfalls bereits in der Beweiswürdigung dargelegt, ist aus den Berichten im Fall des BF nicht davon auszugehen, dass er seine Grundversorgung nicht mehr bestreiten wird können. Vielmehr kann der BF auch in Afghanistan seine notwendigsten Lebensbedürfnisse decken. In seinem Elternhaus lebt nach wie vor seine Familie. Sein Vater und seine volljährigen Brüder arbeiten. Der BF kann, wie festgestellt, zu seiner Familie zurückkehren. Aufgrund der – vor allem für afghanische Verhältnisse – sehr guten finanziellen Situation der Familie kann diese trotz aller nicht verkannten Herausforderungen in Afghanistan auch die Versorgung des BF sicherstellen. Dadurch ist die Befriedigung der existenziellen Grundbedürfnisse jedenfalls gesichert. Der BF hat auch bereits seinen Vater bei dessen Arbeit unterstützt und in der Landwirtschaft geholfen. Er verfügt daher auch über rudimentäre Berufserfahrungen. Dadurch sowie durch die Kontakte seiner Verwandten zum Arbeitsmarkt kann der BF jedenfalls auch selbst wieder Fuß am afghanischen Arbeitsmarkt fassen. Bis dahin ist seine Versorgung, wie bereits ausgeführt, durch seine Familie sichergestellt, zumal ihn auch der Bruder aus dem Bundesgebiet unterstützen kann.

In der Provinz Parwan ist es zudem durchaus nicht unüblich, dort zu wohnen, aber in Kabul zu arbeiten, wie es etwa auch sein Vater tut. Auch der BF könnte daher, wenn er in Parwan wohnt, sowohl in Parwan als auch in Kabul arbeiten. In Kabul kommen ihm am Arbeitsmarkt auch die Kontakte seines Vaters und seiner weiteren Verwandten, die dort arbeiten, zugute. Der BF wird sich daher in absehbarer Zeit am Arbeitsmarkt integrieren können. Dadurch wird er auch in der Lage sein, selbstständig seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Der BF verfügt damit über eine sofortige gesicherte Unterkunft und Versorgung. Er wird innerhalb kurzer Zeit wieder einen Arbeitsplatz finden und damit selbst ein Einkommen beziehen, womit er seinen Lebensunterhalt selbst sichern kann. Der BF kann sich aufgrund der Unterstützung durch die Familie voll und ganz darauf konzentrieren, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden. Es ist daher nicht zu sehen, dass der BF keine Lebensgrundlage vorfinden würde, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden könnten.

[…]

Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass dem Bundesverwaltungsgericht bewusst ist, dass es der UNHCR noch im August 2021 – aufgrund der damaligen volatilen Lage in Afghanistan – als nicht angemessen erachtete, internationalen Schutz auf Grundlage einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verweigern. Ebenso verkennt es die jüngst ergangenen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, in denen Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes im Hinblick auf die Nichtgewährung des subsidiären Schutzes aus dem Grund aufgehoben wurden, dass zum Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes von einer 'extremen Volatilität' der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorlag, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK ausgesetzt hätte (vgl VfGH 24.09.2021, E3047/2021 und VfGH 30.09.2021, E3445/2021). Jedoch sind sowohl die Stellungnahme des UNHCR als auch die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes in den zitierten Erkenntnissen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Kampfhandlungen vom Juli beziehungsweise August 2021 ergangen und daher im gegenwärtigen Zeitpunkt schon wieder als 'überholt' zu betrachten, zumal sich die Sicherheitslage jedenfalls insofern beruhigt hat, als keine Kampfhandlungen mehr stattfinden und selbst die Führer der Hazara in Gespräche mit den Taliban eingetreten sind. In gleicher Weise nicht mehr aktuell ist auch die Entscheidung des EGMR vom 02.08.2021 zu qualifizieren, in der der EGMR im Fall R.A. gegen Österreich mittels vorläufiger Maßnahme die Abschiebung eines afghanischen Asylwerbers bis 31.08.2021 aussetzte. Die Lage ist nicht mehr derart volatil, wie sie die Gerichte noch vor Augen hatten. Die Abweisung des internationalen Schutzes gründet zudem auch nicht auf der Verweisung auf eine innerstaatliche Fluchtalternative, sodass die Empfehlung des UNCHR auch nicht unmittelbar anwendbar ist.

Auch die Country Guidance des EASO aus November 2021 steht der gegenständlichen Entscheidung nicht entgegen. Dort wird zwar ausgeführt, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan derzeit nicht verfügbar sei (S. 36), eine solche zieht das Bundesverwaltungsgericht hier allerdings auch keineswegs in Betracht. Vielmehr prüft es eine Rückkehr in die Heimatregion des BF, für die aber andere rechtliche Vorgaben gelten, wie oben bereits festgehalten wurde (siehe auch EASO November 2021, S. 118), insbesondere weil der BF dort auf das bestehende familiäre und soziale Netzwerk vertrauen kann. Das EASO legt auch dar, dass die Situation in Afghanistan zum Zeitpunkt des Verfassens des Berichts nach wie vor volatil sei, was eine abschließende Bewertung schwierig mache. Das wird auch vom Bundesverwaltungsgericht keineswegs verkannt, dennoch liegt nicht mehr eine derartige Volatilität vor, wie sie der Verfassungsgerichtshof bei seinen Entscheidungen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Vormarsch der Taliban und der Übernahme ganz Afghanistans vor Augen hatte. Die Situation in Afghanistan ist zwar daher durchaus nach wie vor volatil, allerdings nicht mehr in dieser Intensität. Aufgrund der Volatilität und wirtschaftlich unsicheren Lage wird der BF auch gerade nicht auf Fluchtalternativen verwiesen, sondern es wurde ausschließlich geprüft, ob er zu seiner Familie heimkehren kann, welche Situation er dort vorfinden wird und ob seine Grundbedürfnisse dort gestillt werden können.

Das EASO führt auch aus, dass folgende Punkte bei den Entscheidungen berücksichtigt werden sollten: Die begrenzte Verfügbarkeit von verlässlichen Informationen beziehungsweise deren Widersprüchlichkeit und die Unterberichterstattung aus verschiedenen Landesteilen Afghanistans; die Ungewissheit der Vorhersehbarkeit des Handelns der Taliban und die verbesserten Fähigkeiten der Taliban in Bezug auf eine Verfolgung; die Berücksichtigung des künftigen Risikos willkürlicher Gewalt im in Betracht kommenden Teil des Landes, aber auch im gesamten Land unter Berücksichtigung der aktuellsten Informationen (S. 43). Das EASO berücksichtigt dabei nur die Berichtslage bis Ende August 2021 (S. 106). Die gegenständliche Entscheidung berücksichtigt dagegen entsprechend der höchstgerichtlichen Vorgaben Berichte bis zum Tag der Entscheidung. Das EASO hält auch fest, dass bei Personen, die nicht unter die Personengruppe fallen, die Asyl benötigt, eine individuelle Einzelfallprüfung nötig ist (S. 118). Das EASO geht daher offensichtlich nicht davon aus, dass geradezu jedem Afghanen subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Es legt dann dar, dass dabei das Alter, das Geschlecht, die gesundheitliche Situation des BF, die ökonomische Situation, das Wissen über das Gebiet und der Beruf (S. 119) zu berücksichtigen sind. Eine umfassende Beurteilung dieser Umstände zeigt, wie oben näher dargelegt, beim BF, dass für ihn keine Vulnerabilitäten vorliegen und er in den sicheren Kreis seiner Familie zurückkehren kann, deren Versorgung gesichert ist und die für ihn ohne Risiko gut erreichbar ist, weshalb eine reale Gefahr einer Verletzung der in §8 AsylG genannten Rechte nicht vorliegt.

Eine Berücksichtigung dieser Punkte führt daher beim BF nicht zum Ergebnis, dass ihm subsidiärer Schutz zu erteilen wäre. Es ist richtig, dass nur begrenzt Berichte verfügbar sind und von einer Unterberichterstattung aus verschiedenen Landesteilen Afghanistans auszugehen ist. Parwan ist allerdings die Nachbarprovinz Kabuls und steht daher durchaus auch im Blickpunkt der 'westlichen' Medien, sodass von einer ausreichenden Berichtslage ausgegangen werden kann. Wie oben bereits des Näheren dargelegt, ergibt sich aus diesen Berichten in Zusammenschau mit der persönlichen Situation des BF keine Gefährdung des BF. Dabei wurde selbstverständlich auch die Unvorhersehbarkeit des weiteren Handelns der Taliban beachtet. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass die Taliban gegenüber der gläubigen sunnitischen Mehrheitsbevölkerung, die auch nicht gegen die Taliban auftritt, irgendwelche Repressionshandlungen setzen würden. Ansonsten müssten sie gegen die gesamte Zivilbevölkerung Afghanistans vorgehen, was aber nicht nur nicht in ihrem Interesse liegen kann, sondern auch organisatorisch von ihnen nicht zu bewältigen und schlicht nicht annähernd plausibel ist. Für die normale Zivilbevölkerung, die den Sunniten angehört und die nicht gegen die Taliban protestieren oder sonst in irgendeiner Weise gegen sie auftreten, wie etwa beim BF, ist daher die Vorhersehbarkeit (gerade noch) verlässlich gegeben. Es ist daher auch nicht von einer zukünftigen willkürlichen Gewalt auszugehen. Auch sind keine Hinweise in diese Richtung ersichtlich, dass sich dort bewaffneter Widerstand etablieren würde."

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses sowie die Gewährung von Verfahrenshilfe in vollem Umfang und – allenfalls – die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet:

2. Das gemäß Art2 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben wird durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn es auf einer Art2 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage oder auf einer diesem Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht sowie auch bei groben Verfahrensfehlern. In gleicher Weise verletzt ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes das gemäß Art3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wenn eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn sie auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn dem Verwaltungsgericht grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005).

3. Der Verfassungsgerichtshof geht – in Zusammenhang mit Art3 EMRK – in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ 1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ 1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ 2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.314/1992, 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997). Nichts anderes ist im Hinblick auf Art2 EMRK anzunehmen, wenn dem Fremden im Zielland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung droht (s etwa EGMR 8.11.2005, Fall Bader ua, NLMR 2005/6, 273 [274]; 23.3.2016 [GK], Fall F.G., NLMR 2016/2, 105 [105 f.]).

Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Erkenntnisses könnte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer in den gemäß Art2 und 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten unter anderem verletzen, wenn das Erkenntnis auf einer den genannten Grundrechten widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eine Art2 und 3 EMRK zuwiderlaufende Anwendung des §8 Abs1 AsylG 2005 vorgenommen:

4.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

4.2. Das Bundesverwaltungsgericht stellt in seinem Erkenntnis vom 21. Dezember 2021 fest, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seine Heimatprovinz Parwan bzw in die Stadt Kabul kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Diese Feststellung versucht das Bundesverwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst damit zu begründen, dass sich die Sicherheitslage im Herkunftsstaat "jedenfalls insofern beruhigt hat, als keine Kampfhandlungen mehr stattfinden und selbst die Führer der Hazara in Gespräche mit den Taliban eingetreten sind." Zudem könnte der Beschwerdeführer finanziell und organisatorisch durch Familienangehörige unterstützt werden. Trotz einer nicht auszuschließenden Verschlechterung der allgemeinen Versorgungslage, lasse sich daraus nicht der "Schluss […] ziehen, dass durch die Machtübernahme der Taliban die Grund- und Versorgungslage in ganz Afghanistan von heute auf morgen jedenfalls 'einbrechen'" werde. Insgesamt betrachtet sei "die Lage ist nicht mehr derart volatil, wie sie die Gerichte noch vor Augen hatten".

4.3. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes war insbesondere auf Grund der – im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren – Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, in der Rückkehrer nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK ausgesetzt wären (vgl VfGH 30.9.2021, E3445/2021). Angesichts der aktuellen Berichtslage, wonach die Lage in Afghanistan (nach wie vor) volatil bleibe [vgl zB das Update der EASO Country Guidance Afghanistan aus November 2021, den "Report on recent developments (governance and law enforcement; armed non-state actors; security situation and living conditions; targeted individuals; situation at the internationael borders) oder "Query response on Afghanistan: Humanitarian situation", beides vom Dezember 2021], sieht sich der Verfassungsgerichtshof nicht veranlasst, von dieser Auffassung abzugehen.

Überdies erschöpft sich die Auseinandersetzung des Bundesverwaltungsgerichtes mit der Sicherheitslage in Afghanistan in der Bezugnahme auf Medienberichte zu einzelnen Sicherheitsaspekten (insbesondere, wonach keine Kampfhandlungen mehr stattfänden und Führer der Hazara bereits in Gespräche mit den Taliban getreten wären); Hinweise auf willkürliche Kontrollen und Bestrafungen bis hin zu gezielten Hinrichtungen werden beispielsweise nicht thematisiert, obwohl sie sich in den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichten finden.

Auch die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes in Bezug auf die Versorgungslage in Afghanistan ist für den Verfassungsgerichtshof mit Blick auf die aktuelle Berichtslage nicht nachvollziehbar (vgl zB das Update von UNHCR "Afghanistan Situation – Emergency Update" vom 15. Dezember 2021, wonach sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Afghanistan weiter verschlechtert habe).

4.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht unzutreffend von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran knüpfend – die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK, ferner darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (Art3 EMRK), und ist insoweit aufzuheben.

5. Die Behandlung der Beschwerde wird im Übrigen, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben sowie darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Das darüber hinaus gehende Mehrbegehren war nicht zuzusprechen, weil der Pauschalsatz die regelmäßig anfallenden Kosten abdeckt und ein Einheitssatz für Nebenleistungen iSd §23 RATG im Verfahren nach Art144 B-VG nicht vorgesehen ist (vgl auch VfGH 27.4.2009, U660/2008; zu den ebenfalls verzeichneten "ERV-Kosten" siehe ferner zB VfGH 9.12.2014, B751/2013; 13.12.2017, E3939/2017). Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt (vgl zB VfGH 26.11.2018, E4221/2017).

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung, VfGH / Kosten, Rechtsverkehr elektronischer, VfGH / Verfahrenshilfe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E273.2022

Zuletzt aktualisiert am

29.04.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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