TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/24 Ro 2020/10/0030

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Veröffentlicht am 24.03.2022
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Index

L92007 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung Tirol
L92059 Altenheime Pflegeheime Sozialhilfe Wien
L92097 Sonstiges Sozialrecht Tirol
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ASVG §153
MSG Tir 2010
MSG Tir 2010 §1 Abs4
MSG Tir 2010 §1 Abs8
MSG Tir 2010 §7 Abs1
MSG Tir 2010 §7 Abs2
Satzung GKK Tirol §32 Abs1
SHG Wr 1973
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger sowie den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Derfler, über die Revision der B A in I, vertreten durch Dr. Paul Delazer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maximilianstraße 2/1, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom 4. Juni 2020, Zl. LVwG-2020/45/0150-6, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Stadt Innsbruck), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Tirol hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1        1. Die Revisionswerberin ist im Rahmen der Mindestsicherung bei der Österreichischen Gesundheitskasse (vormals Tiroler Gebietskrankenkasse - TGKK) krankenversichert. Sie leidet an einer Zahnfehlstellung (IOTN 4d) und ließ aus diesem Grund eine dreijährige kieferorthopädische Behandlung mittels festsitzender Apparate vornehmen. Die (damals zuständige) TGKK bewilligte der Revisionswerberin einen Kostenzuschuss für zwei Jahre. Mangels Vorhandenseins von Vertragsärzten für diese Behandlung bei Volljährigen nahm die Revisionswerberin im verfahrensgegenständlichen zweiten Behandlungsjahr privatärztliche Leistungen in Anspruch. Mit dem verfahrenseinleitenden Antrag ersuchte die Revisionswerberin um Übernahme der dafür angefallenen, näher aufgeschlüsselten Kosten in Höhe von insgesamt € 1.967,-- aus Mitteln der Mindestsicherung. Dabei handelte es sich um die tatsächlich bezahlten Behandlungskosten abzüglich des von der TGKK geleisteten Zuschusses.

2        2. Mit dem angefochtenen Erkenntnis erkannte das Landesverwaltungsgericht Tirol der Revisionswerberin - im Beschwerdeverfahren - gemäß § 7 Abs. 2 Tiroler Mindestsicherungsgesetz - TMSG einen Betrag von (lediglich) € 276,-- zu, wobei es die Revision an den Verwaltungsgerichtshof zuließ.

3        Begründend führte das Verwaltungsgericht - soweit hier von Interesse - aus, die TGKK habe für die vorliegende Kieferregulierung einen Zuschuss nach Anhang 4 der Satzung der TGKK geleistet, weil es für diese Pflichtleistung in Tirol keinen Vertragsarzt gebe. § 7 Abs. 2 TMSG sehe vor, dass unabhängig vom Bezug von Leistungen nach Abs. 1 leg. cit. allfällige Selbstbehalte und Rezeptgebühren für Pflichtleistungen der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung (aus Mitteln der Mindestsicherung) zu übernehmen seien.

4        Für die konkrete Zuschussleistung sehe Anhang 4 der Satzung der TGKK einen Ersatz von 70 % der mit den Vertragszahnbehandlern jeweils vereinbarten Tarifsätze auf Basis abnehmbarer Geräte vor, somit eine prozentuelle Beteiligung am Tarifsatz. Die verbleibenden 30 % des Tarifsatzes seien demnach jedenfalls von den Versicherten zu tragen und einem Selbstbehalt gleichzusetzen. Im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung seien Selbstbehalte immer auf die Pflichtleistung bzw. den verhandelten Vertragstarif bezogen und würden in der Regel mit einem bestimmten, von den Versicherten zu tragenden Prozentsatz festgelegt. Der Selbstbehalt beziehe sich somit nicht auf den tatsächlich zu zahlenden Behandlungsbeitrag, sondern auf den ausgehandelten Vertragstarif.

5        Das TMSG sehe keine Regelung betreffend die Übernahme von Zuschussleistungen vor, sondern regle ausschließlich die Übernahme von Selbstbehalten. Da in beiden Fällen auf eine prozentuelle Beteiligung am Tarifsatz zurückgegriffen werde, sei die Regelung für Selbstbehalte im TMSG analog für Zuschussleistungen heranzuziehen und könnten nur die restlichen 30 % des Tarifsatzes übernommen werden. Eine über die Vertragstarife hinausgehende Kostenübernahme für die gesamten Kosten der Behandlung, wie von der Revisionswerberin beantragt, könne nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes aus § 7 Abs. 2 TMSG nicht abgeleitet werden.

6        Die Zulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht mit dem Fehlen von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Pflichtleistungen, die als Zuschussleistungen ausgestaltet seien, sowie zur Übernahme der dadurch nicht gedeckten Kosten durch die Mindestsicherung bzw. zur Zulässigkeit des vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Analogieschlusses.

7        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision.

8        Die belangte Behörde hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die kostenpflichtige Zurück-, in eventu Abweisung beantragt.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9        1.1 Die maßgeblichen Bestimmungen des TMSG, LGBl. Nr. 99/2010 idF LGBl. Nr. 52/2017, lauten:

§ 5

Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes

(1) Die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes besteht in der Gewährung pauschalierter, monatlicher Geldleistungen (Mindestsätze).

[...]

§ 6

Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes

(1) Die Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfes erfolgt durch die Gewährung von Geldleistungen für tatsächlich nachgewiesene Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben. Geldleistungen sind jedoch höchstens im Ausmaß der in einer Verordnung nach Abs. 3 festgelegten Sätze zu gewähren.

[...]

§ 7

Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung

(1) Der Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung besteht während der Dauer des Bezuges von Leistungen nach § 5 oder § 6 in der Übernahme der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen für eine Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung in der Übernahme der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung oder in der Übernahme der für eine Krankenbehandlung tatsächlich nachgewiesenen Kosten im nach den Vorschriften über die allgemeine gesetzliche Krankenversicherung vorgesehenen Leistungsumfang.

(2) Unabhängig vom Bezug von Leistungen nach Abs. 1 sind allfällige Selbstbehalte und Rezeptgebühren für Pflichtleistungen der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung zu übernehmen.“

10       1.2 Die maßgeblichen Bestimmungen der Satzung der TGKK, in der Fassung der 3. Änderung der Satzung der TGKK, avsv Nr. 22/2018, lauten:

Kieferregulierungen

[...]

§ 32 (1) Die Kasse erbringt Kieferregulierungen als Sachleistung (Vertragsleistung oder Kostenerstattung) im Umfang des Anhanges 1

[...]

b)   jedenfalls bei nachstehenden Kieferfehlstellungen nach dem Index of Orthodontic Treatment Need (IOTN) nach Anhang 9,

[...]

10.  Fehlbildungen, die in ihrer Bedeutung für die zu Behandelnde/den zu Behandelnden den in Z 1 bis 9 genannten Anomalien entsprechen, insbesondere jegliche Grade von IOTN 4 und 5 sowie die in Z 1 bis 9 genannten Indikationen,

[...]

Dabei sind vom/von der Versicherten (Angehörigen) Zuzahlungen in der im Anhang 4 festgesetzten Höhe zu entrichten. Wenn eine Sachleistung mangels einer Regelung im Vertrag mit den Zahnbehandlern/Zahnbehandlerinnen nicht möglich ist, leistet die Kasse einen Zuschuss nach Maßgabe der Bestimmungen des Anhanges 4.

[...]

1.   Zuzahlungen bzw. Zuschüsse für Kieferregulierungen gemäß § 32 Abs. 1

Anhang 4

[...]

(2) Wird an Stelle der kieferorthopädischen Behandlung auf Basis abnehmbarer Geräte eine Behandlung auf Basis festsitzender Geräte erbracht, beträgt der Zuschuss der Kasse:

pro Behandlungsjahr 70 %

[...]

der mit den Vertragszahnbehandlern/Vertragszahnbehandlerinnen (Vertragseinrichtungen) jeweils vereinbarten Tarifsätze auf Basis der abnehmbaren Geräte.

[...]“

11       2. Die Revisionswerberin schloss sich der Zulassungsbegründung des Verwaltungsgerichtes an und brachte zur Zulässigkeit der Revision zusätzlich vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob die Differenz zwischen einer Zuschussleistung und den tatsächlichen Kosten einer medizinischen Pflichtleistung aus Mitteln der Mindestsicherung zu tragen sei, wenn die Sachleistung von der Versicherung überhaupt nicht angeboten werde.

12       3. Mit Blick darauf erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.

13       3.1. Bei der gegenständlichen kieferorthopädischen Behandlung handelt es sich unstrittig um eine Pflichtleistung der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung, welche in Form einer Zuschussleistung im Sinne des § 32 Abs. 1 letzter Satz der Satzung der TGKK erbracht wurde. Das Verwaltungsgericht führt zutreffend aus, dass § 7 Abs. 2 TMSG nur die Übernahme von „Selbstbehalten“ (und der Rezeptgebühr) aus Mitteln der Mindestsicherung ausdrücklich regelt. Es ist daher zu klären, ob der von der Revisionswerberin geltend gemachte Betrag (Differenz zwischen den bezahlten Behandlungskosten und dem von der TGKK erhaltenen Zuschuss) unter diese Bestimmung zu subsumieren ist.

14       3.2. Das Gesetz nimmt keine Legaldefinition des Begriffes „Selbstbehalt“ vor. Auch die Gesetzesmaterialien zum TMSG enthalten keine Klarstellung des Inhaltes dieses Begriffs.

15       Der Verwaltungsgerichtshof hat zum Wiener Sozialhilfegesetz (WSHG) bereits festgehalten, dass zu den Voraussetzungen für den Anspruch auf Krankenhilfe - wozu auch die Zahnbehandlung zählt - die medizinische Notwendigkeit gehört. Dies gilt sowohl für den Grund als auch für das Ausmaß der Hilfegewährung. Insoweit kann in Ermangelung konkreter Regelungen im WSHG auf sozialversicherungsrechtliche Bestimmungen (vgl. § 153 ASVG) zurückgegriffen werden. Soweit die Satzung eines Trägers der Krankenversicherung nur eine teilweise Kostenübernahme vorsieht, kann es trotz Bestehens der Krankenversicherung dazu kommen, dass der Sozialhilfeträger die Kosten in der Höhe des vom Hilfesuchenden zu tragenden Selbstbehaltes im Rahmen der Krankenhilfe zu übernehmen hat (vgl. etwa VwGH 2.9.2008, 2005/10/0194, mwN, insbes. auf VwGH 26.11.2002, 2001/11/0168, 0169, 0325, VwGH 20.2.2001, 2000/11/0040 = VwSlg. 15.551 A, sowie Pfeil, Österreichisches Sozialversicherungsrecht [1989] 460).

16       Diese Überlegungen sind auch für das TMSG maßgeblich.

17       3.3. In der Literatur wird ausgeführt, dass unter „Selbstbehalten“ in der Krankenversicherung eine Eigenleistung des Versicherten für bestimmte Leistungen der Krankenversicherung verstanden wird. Diese Eigenleistung kann in Form eines Selbstbehaltes im engeren Sinn, in Form von Pflegegebührenersätzen oder als Kostenbeteiligung ausgestaltet sein. Als Beispiel einer solchen Kostenbeteiligung wird unter anderem eine Eigenleistung für Zahnbehandlung und Zahnersatz genannt (vgl. etwa Graf-Schimek [Hrsg] Fachlexikon Sozialversicherungsrecht [2014] 451 sowie Müller, Sozialversicherung von A bis Z² [2002] 506).

Auch vor diesem Hintergrund scheint die Annahme des Verwaltungsgerichtes, der Selbstbehalt in der gesetzlichen Krankenversicherung beziehe sich immer nur auf den ausgehandelten Vertragstarif, zu kurz zu greifen.

18       3.4. Schließlich spricht auch die Zielsetzung des TMSG dafür, dass der dort verwendete Selbstbehaltbegriff nicht im Sinne des vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten engen Verständnisses (vgl. dazu oben Rz 5) auszulegen ist:

19       So ist den Erläuternden Bemerkungen zu § 7 TMSG (Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung) unter anderem zu entnehmen, dass die Einbeziehung nicht krankenversicherter Mindestsicherungsbezieher in die gesetzliche Krankenversicherung in dem „Bewusstsein [erfolgt], dass prekäre Lebenssituationen vielfach krank machen und Erkrankungen es zugleich erschweren, Wege aus der Armut zu finden“. Dem solle „nunmehr entgegengewirkt werden, indem auch diesem Personenkreis ein uneingeschränkter Zugang zur Gesundheitsversorgung eingeräumt wird“ (vgl. ErlRV 498/10, XV. GP TirLT, 21).

20       Zwar beziehen sich diese Ausführungen primär auf die Einbeziehung von Mindestsicherungsbeziehern in die gesetzliche Krankenversicherung nach § 7 Abs. 1 TMSG; sie lassen jedoch unzweifelhaft die Absicht des Gesetzgebers erkennen, uneingeschränkten Zugang dieses Personenkreises zur Gesundheitsversorgung sicherzustellen.

21       3.5. Aus dem Gesagten folgt, dass sich das Ausmaß der der Revisionswerberin zu gewährenden Krankenhilfe letztlich an der - weder vom Verwaltungsgericht noch von der belangten Behörde in Abrede gestellten - medizinischen Notwendigkeit der gegenständlichen kieferorthopädischen Behandlung zu orientieren hat.

22       Aufgrund des im TMSG verankerten Subsidiaritätsprinzips (§ 1 Abs. 4 TMSG; vgl. zum Subsidiaritätsprinzip als tragenden Grundsatz des Mindestsicherungsrechts etwa VwGH 24.2.2016, Ra 2015/10/0047 = VwSlg. 19.307 A, mwN) und der Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit (§ 1 Abs. 8 TMSG) kommt ein Ersatz von Privatarztkosten freilich nur dann in Frage, wenn die medizinisch notwendige Pflichtleistung - wie im vorliegenden Fall - nicht als Vertragsleistung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung angeboten wird und überdies die Kosten das für derartige Leistungen übliche Ausmaß nicht übersteigen.

23       4. Aus diesen Gründen hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

24       Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. März 2022

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RO2020100030.J00

Im RIS seit

29.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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