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E000 EU- Recht allgemeinNorm
ABGB §21 Abs2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der B J, vertreten durch Mag. Peter Pacher, LL.M., Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rathausstraße 5/3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 15. Juli 2020, VGW-151/004/8077/2020-1, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1.1. Die - im Oktober 2001 geborene und ledige - Revisionswerberin, eine serbische Staatsangehörige, stellte vertreten durch ihren Vater als gesetzlichen Vertreter am 27. August 2018 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zur Familienzusammenführung mit ihrem in Österreich lebenden, über einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ verfügenden Vater.
1.2. Mit Bescheid vom 2. April 2020 wies der Landeshauptmann von Wien diesen Antrag gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Z 2 NAG ab. Begründend führte die Behörde aus, die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG umfasse lediglich unverheiratete minderjährige Kinder. Die Revisionswerberin habe am 19. Oktober 2019 - während des laufenden Verfahrens - das 18. Lebensjahr vollendet, weshalb sie keine Familienangehörige ihres Vaters im Sinn der genannten Bestimmung mehr sei. Ausgehend davon sei die Durchführung einer Interessenabwägung im Sinn von § 11 Abs. 3 NAG nicht geboten.
2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. Juli 2020 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen gerichtete Beschwerde der Revisionswerberin gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG als unbegründet ab.
Das Verwaltungsgericht führte begründend im Wesentlichen aus, die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG müsse im Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts vorliegen. Ein Abstellen auf das Vorliegen der Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Antragstellung sei nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht geboten. Folglich könne die Revisionswerberin angesichts der zwischenzeitlich erlangten Volljährigkeit nicht mehr als Familienangehörige im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG angesehen werden. Der beantragte Aufenthaltstitel sei daher mangels Vorliegen der besonderen Erteilungsvoraussetzung „Familienangehöriger“ zu verwehren.
2.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
3.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die Revisionswerberin führt zur Zulässigkeit der Revision aus, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu der Frage der Auslegung des Begriffs der Minderjährigkeit gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG, wenn die Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Antragstellung zwar gegeben sei, jedoch im Lauf eines von der Behörde geführten längeren Verfahrens wegfalle. Im Licht von näher zitierter Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sei davon auszugehen, dass die Bestimmung des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG unionsrechtskonform dahingehend auszulegen sei, dass für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen sei. Die Revisionswerberin sei demnach trotz des zwischenzeitigen Erreichens der Volljährigkeit weiterhin als Familienangehörige im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zu erachten.
3.2. Die belangte Behörde nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
4.1. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
Die Revision ist zulässig und auch begründet.
5.1. Gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG ist Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teils erfüllen, ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ (ausgenommen einen solchen gemäß § 41a Abs. 1, 4 oder 7a) innehat.
5.2. Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG ist Familienangehöriger, wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie). Die Minderjährigkeit richtet sich dabei gemäß § 2 Abs. 4 Z 1 NAG nach den Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB). Gemäß § 21 Abs. 2 ABGB sind minderjährige Personen jene, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
5.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 9. September 2020, Ra 2017/22/0021, Pkt. 7, auf dessen Erwägungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, ausgesprochen, dass er seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Minderjährigkeit eines Kindes für die Bejahung der Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG auch im Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts vorliegen muss, vor dem Hintergrund des Urteils des EuGH vom 16. Juli 2020, B.M.M. et al., C-133/19, C-136/19 und C-137/19, nicht mehr aufrecht erhält. Vielmehr ist bei der Beurteilung der Minderjährigkeit eines Kindes auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen (siehe diesbezüglich auch VwGH 9.9.2020, Ra 2019/22/0070, Rn. 9).
5.4. Nach den vom Verwaltungsgericht getroffenen unstrittigen Feststellungen war die Revisionswerberin zum - nach dem oben Gesagten nunmehr maßgeblichen - Antragszeitpunkt minderjährig. Folglich hat das Verwaltungsgericht - in Verkennung der Rechtslage - das Vorliegen der besonderen Erteilungsvoraussetzung des § 46 Abs. 1 Z 2 NAG (Eigenschaft als Familienangehöriger) zu Unrecht - gestützt auf die inzwischen eingetretene Volljährigkeit - verneint.
6. Aus den dargelegten Erwägungen ist das angefochtene Erkenntnis daher mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Die Entscheidung war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 bis 6 VwGG abgesehen werden.
7. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. April 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 62019CJ0133 Belgischer Staat VORABSchlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Rechtsgrundsätze Allgemein Anwendbarkeit zivilrechtlicher Bestimmungen Verträge und Vereinbarungen im öffentlichen Recht VwRallg6/1European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020220169.L00Im RIS seit
29.04.2022Zuletzt aktualisiert am
01.06.2022