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E000 EU- Recht allgemeinNorm
ARB1/80Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofrätin Mag.a Merl, die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des A K, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen das am 23. Juli 2020 mündlich verkündete und mit 20. Oktober 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, VGW-151/090/16098/2019-10, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
1 Dem Revisionswerber, einem türkischen Staatsangehörigen, wurde erstmals im Jahr 2010 eine Aufenthaltsbewilligung „Studierender“ erteilt, die in der Folge mehrmals, zuletzt bis zum 11. Juni 2018, verlängert wurde.
2 Im Zuge eines weiteren Verlängerungsverfahrens stellte der Revisionswerber am 22. August 2019 - unter Berufung auf ein von ihm direkt aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) abgeleitetes Aufenthaltsrecht - einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
3 Mit Bescheid vom 25. Oktober 2019 wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) sowohl den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ als auch den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung „Student“ ab.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Verwaltungsgericht Wien mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit einer hier nicht näher darzustellenden Maßgabe als unbegründet ab.
Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für zulässig.
5 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung im Wesentlichen folgende Feststellungen zugrunde: Der Revisionswerber habe über eine Aufenthaltsbewilligung „Studierender“, zuletzt verlängert bis zum 11. Juni 2018, verfügt. Von 24. Februar 2013 bis 14. März 2016 und [bei einem weiteren Arbeitgeber] von 15. Juli 2013 bis 20. November 2013 sei er geringfügig beschäftigt gewesen. Dem [zweiten] Arbeitgeber sei (sodann) eine Beschäftigungsbewilligung für den Revisionswerber mit dem Gültigkeitszeitraum 17. November 2016 bis 16. November 2017 erteilt worden, die zweimal, zuletzt bis zum 16. November 2019, verlängert worden sei. Seit dem 5. Dezember 2019 verfüge der Revisionswerber über einen Befreiungsschein gemäß § 4c Abs. 2 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG).
6 In seinen rechtlichen Erwägungen führte das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Nichterteilung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ aus, der Revisionswerber arbeite seit 17. November 2016 ununterbrochen beim selben Arbeitgeber und erfülle damit noch nicht die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80, sondern nur diejenigen des zweiten Spiegelstrichs dieser Bestimmung. Daran ändere auch der Befreiungsschein des Revisionswerbers nichts.
Nach der (näher zitierten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes würde ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ eine weitergehende Berechtigung verschaffen, als sie türkischen Staatsangehörigen zukomme, die lediglich die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster oder zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllten, weil ein türkischer Staatsangehöriger aus diesen Bestimmungen noch kein Recht auf uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt ableiten könne. Ein türkischer Staatsangehöriger, dem ein Befreiungsschein ausgestellt worden sei, obwohl er nicht die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erfülle, könne daraus kein Aufenthaltsrecht ableiten. Ausgehend davon seien die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ nicht erfüllt.
Da der Revisionswerber im insoweit maßgeblichen Studienjahr 2018/2019 keinen ausreichenden Studienerfolg nachgewiesen habe, sei auch der Verlängerungsantrag abzuweisen gewesen.
Die Zulassung der Revision begründete das Verwaltungsgericht wie folgt: Aufgrund der - zusätzlich zu seiner durchgehenden Erwerbstätigkeit seit dem 17. November 2016 - von 24. Februar 2013 bis 14. März 2016 sowie von 15. Juli 2013 bis 20. November 2013 erfolgten geringfügigen Beschäftigung des Revisionswerbers sei nicht ersichtlich, dass der ihm ausgestellte Befreiungsschein eine fehlerhaft ausgestellte Bewilligung nach dem AuslBG darstelle. Die (mit dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 72/2013 erfolgte) Aufhebung der Regelung über den Befreiungsschein gemäß § 15 AuslBG, der zufolge der Antragsteller habe nachweisen müssen, während einer Dauer von fünf Jahren innerhalb der letzten acht Jahre erlaubt beschäftigt gewesen zu sein, sei nämlich als eine „neue Beschränkung“ im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 zu betrachten, die für türkische Staatsangehörige keine Wirkung habe. Es sei daher offen, ob der vorliegende Sachverhalt anders zu beurteilen sei als jener, der der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes VwGH 22.5.2020, Ro 2020/22/0001, zugrunde gelegen sei, in welcher dieser ausgesprochen habe, dass eine fehlerhaft ausgestellte Bewilligung oder Bestätigung nach dem AuslBG keinen Einfluss auf das Bestehen oder die Art eines Aufenthaltsrechts habe.
7 Gegen dieses Erkenntnis, soweit damit der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ abgewiesen wurde, richtet sich die vorliegende ordentliche Revision.
In der Zulässigkeitsbegründung wird vorgebracht, das Verwaltungsgericht sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil der Revisionswerber aufgrund des ihm ausgestellten Befreiungsscheins nach § 4c AuslBG die Voraussetzungen des dritten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfülle und damit als niedergelassen anzusehen sei.
8 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Die Revision erweist sich als zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
10 Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 ARB 1/80 lauten:
„Artikel 6
(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
[...]
Artikel 13
Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“
11 § 45 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, lautet auszugsweise:
„Aufenthaltstitel ,Daueraufenthalt - EU‘
§ 45. (1) Drittstaatsangehörigen, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen tatsächlich niedergelassen waren, kann ein Aufenthaltstitel ,Daueraufenthalt - EU‘ erteilt werden, wenn sie
1. die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
2. das Modul 2 der Integrationsvereinbarung (§ 10 IntG) erfüllt haben.
(2) Zur Niederlassung berechtigten Drittstaatsangehörigen ist die Zeit eines unmittelbar vorangehenden rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung (§ 8 Abs. 1 Z 12) oder eines Aufenthaltstitels ,Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ (§ 57 AsylG 2005) zur Hälfte auf die Fünfjahresfrist gemäß Abs. 1 anzurechnen. Zur Niederlassung berechtigten Drittstaatsangehörigen ist die Zeit eines unmittelbar vorangehenden rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet aufgrund einer ,Aufenthaltsberechtigung plus‘ (§ 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005) oder einer ,Aufenthaltsberechtigung‘ (§ 54 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005) zur Gänze auf die Fünfjahresfrist anzurechnen.
[...]“
12 § 4c AuslBG, BGBl. Nr. 218/1975 in der Fassung BGBl. I Nr. 72/2013, lautet auszugsweise:
„Türkische Staatsangehörige
§ 4c. (1) Für türkische Staatsangehörige ist eine Beschäftigungsbewilligung von Amts wegen zu erteilen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Unterabsatz oder nach Art. 7 erster Unterabsatz oder nach Art. 7 letzter Satz oder nach Artikel 9 des Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei - ARB - Nr. 1/1980 erfüllen.
(2) Türkischen Staatsangehörigen ist von Amts wegen ein Befreiungsschein auszustellen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 dritter Unterabsatz oder nach Art. 7 zweiter Unterabsatz des ARB Nr. 1/1980 erfüllen. Der Befreiungsschein berechtigt zur Aufnahme einer Beschäftigung im gesamten Bundesgebiet und ist jeweils für fünf Jahre auszustellen. Der Befreiungsschein ist zu widerrufen, wenn der Ausländer im Antrag über wesentliche Tatsachen wissentlich falsche Angaben gemacht oder solche Tatsachen verschwiegen hat.
[...]“
13 § 15 AuslBG in der Fassung BGBl. I Nr. 126/2002 (im Folgenden: „§ 15 AuslBG aF“) lautete auszugsweise:
„Befreiungsschein
Voraussetzungen
§ 15. (1) Einem Ausländer ist, sofern er noch keinen Niederlassungsnachweis hat, auf Antrag ein Befreiungsschein auszustellen, wenn er
1. während der letzten acht Jahre mindestens fünf Jahre im Bundesgebiet mit einer dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes unterliegenden Tätigkeit erlaubt beschäftigt war oder
[...]“
14 Der Revisionswerber bringt zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung vor, die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 seien auch dann erfüllt, wenn ein türkischer Staatsangehöriger, dem ein Befreiungsschein gemäß § 4c AuslBG ausgestellt worden sei, zwar nicht zuletzt vier Jahre ununterbrochen beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei, er aber - entsprechend der günstigeren Rechtslage des § 15 AuslBG aF - innerhalb der letzten acht Jahre fünf Jahre erlaubt beschäftigt gewesen sei. Da dem Revisionswerber ein Befreiungsschein ausgestellt worden sei, sei er auch niedergelassen. Es handle sich in seinem Fall auch nicht um eine fehlerhaft ausgestellte Bewilligung, weil er die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG aF erfüllt habe, der aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 weiterhin anzuwenden sei. Es könne für die Frage, ob eine „Niederlassung“ vorliege, keine Rolle spielen, nach welcher Bestimmung der Befreiungsschein ausgestellt worden sei, weil beide Befreiungsscheine gleich zu behandeln seien. Da der Revisionswerber zudem bereits seit dem Jahr 2010 über eine Aufenthaltsbewilligung als Student verfüge und somit auch die zeitlichen Voraussetzungen erfülle, habe er Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“.
Zu diesem Vorbringen des Revisionswerbers ist Folgendes festzuhalten:
15 Nach § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG aF war einem Ausländer ein Befreiungsschein auf Antrag auszustellen, wenn dieser während der letzten acht Jahre mindestens fünf Jahre im Bundesgebiet mit einer dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes unterliegenden Tätigkeit erlaubt beschäftigt war. Mit dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 101/2005 wurde § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG aF zunächst dahingehend geändert, dass das Erfordernis der rechtmäßigen Niederlassung des Ausländers hinzugefügt wurde. Mit dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 72/2013 wurde schließlich der Befreiungsschein nach § 15 AuslBG aF aus dem AuslBG entfernt. Die Regelungen für die Erteilung eines Befreiungsscheins für türkische Staatsangehörige bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 waren in § 4c AuslBG bereits vor den dargestellten Änderungen enthalten und blieben im Hinblick auf die Stillhalteklausel bestehen (vgl. RV 2163 BlgNR 24. GP 3).
16 Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgesprochen, dass sowohl die mit BGBl. I Nr. 101/2005 erfolgte Einfügung des Erfordernisses einer rechtmäßigen Niederlassung als auch die mit BGBl. I Nr. 72/2013 bewirkte Entfernung des Befreiungsscheines nach § 15 AuslBG aF als „neue Beschränkungen“ zu betrachten sind, die auf Grund der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 für türkische Staatsangehörige keine Wirkung haben (vgl. VwGH 24.3.2015, Ro 2014/09/0057). Einem türkischen Staatsangehörigen steht daher die Möglichkeit offen, einen Antrag auf Ausstellung eines Befreiungsscheines nach § 15 AuslBG aF zu stellen, der ihm bei Erfüllung der darin normierten Voraussetzungen zu erteilen ist. Daraus lässt sich für den Revisionswerber im vorliegenden Fall aber nichts gewinnen.
17 Zunächst ist der Sichtweise des Revisionswerbers, wonach „beide Befreiungsscheine“ gleich zu behandeln seien und es daher keinen Unterschied machen könne, ob ein Befreiungsschein aufgrund von § 4c AuslBG oder aufgrund von § 15 AuslBG aF ausgestellt werde, Folgendes entgegenzuhalten:
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat zu § 15 AuslBG aF festgehalten, dass ein Befreiungsschein nach dieser Bestimmung zur Aufnahme einer Beschäftigung im gesamten Bundesgebiet berechtigt und das Recht des Zugangs zum gesamten Arbeitsmarkt bescheinigt (vgl. erneut VwGH Ro 2014/09/0057). Der mit einem Befreiungsschein nach § 15 AuslBG aF erteilten Berechtigung kommt konstitutive Wirkung zu (vgl. VwGH 18.10.2000, 98/09/0145; 19.9.2001, 99/09/0227).
19 Demgegenüber verschafft die Erteilung eines Befreiungsscheins nach § 4c AuslBG kein Beschäftigungs- oder Aufenthaltsrecht, sondern hat für die Anerkennung der unmittelbar aus dem ARB 1/80 gewährten Rechte nur deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion (vgl. dazu etwa VwGH 17.6.2019, Ro 2019/22/0001, Rn. 9, mwN).
20 Der Verwaltungsgerichtshof hat weiters ausgesprochen, dass durch die Ausstellung eines Befreiungsscheines nach § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG aF nicht in bindender Weise über die Frage abgesprochen wird, ob ein türkischer Arbeitnehmer Rechte nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genießt, sondern türkischen Arbeitnehmern, die Rechte nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genießen, vielmehr Befreiungsscheine gemäß § 4c AuslBG und nicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG aF auszustellen sind (vgl. VwGH 1.6.2001, 2001/19/0035). Die Prüfung der Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Z 1 AuslBG aF in einem Verfahren über einen Antrag nach § 4c AuslBG würde die „Sache“ des das Verwaltungsverfahren einleitenden Antrages überschreiten (vgl. VwGH 31.1.2001, 99/09/0131).
21 Ob es sich beim - dem Revisionswerber ausgestellten - Befreiungsschein (wie darin vermerkt) um einen solchen gemäß § 4c AuslBG oder (der Sache nach) um einen solchen gemäß § 15 AuslBG aF handelt, kann im vorliegenden Zusammenhang aber dahinstehen.
22 Zum Befreiungsschein gemäß § 4c AuslBG kann auf nachstehende Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes in VwGH Ro 2019/22/0001, Rn. 9, verwiesen werden:
„Das Beschäftigungs- oder Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen wird nicht durch die Erteilung einer Arbeits- bzw. Aufenthaltserlaubnis begründet; vielmehr stehen ihm diese Rechte [...] unmittelbar aufgrund des ARB 1/80 unabhängig davon zu, ob die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats diese Papiere ausstellen; für die Anerkennung dieser Rechte haben sie nur deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion; alle nationalen Behörden müssen diese Rechte, die unmittelbar durch Gemeinschaftsrecht gewährt werden, anerkennen (vgl. etwa EuGH 22.6.2000, Eyüp, C-65/98, Rn. 45 bis 47, mit Hinweis auf weitere EuGH-Judikatur; VwGH Ro 2017/22/0015, Rn. 25). Umgekehrt kann jedoch ein türkischer Staatsangehöriger, dem ein Befreiungsschein ausgestellt wurde, obwohl er nicht die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt, daraus kein Aufenthaltsrecht ableiten (vgl. VwGH 28.8.2008, 2008/22/0271, mwN).“
23 Der fallbezogen (im Hinblick darauf, dass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht vorliegen) fehlerhaft ausgestellte Befreiungsschein gemäß § 4c Abs. 2 AuslBG hat demnach keinen Einfluss auf das Bestehen oder die Art eines Aufenthaltsrechts (vgl. VwGH 23.1.2020, Ra 2019/22/0154 und 0155, Rn. 8) und konnte dem Revisionswerber somit nicht die für die Erteilung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ erforderliche rechtmäßige Niederlassung vermitteln.
24 Selbst wenn man den Verweis auf § 4c Abs. 2 AuslBG im Befreiungsschein des Revisionswerbers aber als ein Vergreifen im Ausdruck und den Befreiungsschein der Sache nach als auf § 15 AuslBG aF gestützt ansehen sollte, würde dies zu keinem anderen Ergebnis führen. § 25 AuslBG (in der im Hinblick auf § 15 AuslBG aF maßgeblichen Fassung vor BGBl. I Nr. 72/2013) sah nämlich vor, dass (ua.) der Befreiungsschein den Ausländer nicht von der Verpflichtung enthebt, den jeweils geltenden Vorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern nachzukommen (vgl. auch VwGH 13.9.2006, 2003/18/0327, wonach ein Befreiungsschein weder einen rechtmäßigen Aufenthalt noch die Anwendbarkeit der Ausnahmebestimmung des § 14 Abs. 2 Fremdengesetz 1997 [betreffend die Zulässigkeit der Inlandsantragstellung] begründen könne). Insoweit beeinflusst ein Befreiungsschein nach § 15 AuslBG aF die aufenthaltsrechtliche Stellung des Revisionswerbers nicht.
25 Der dem Revisionswerber ausgestellte Befreiungsschein hat somit in keinem Fall zur Folge, dass er als niedergelassen anzusehen gewesen wäre und einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gehabt hätte.
26 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am 24. März 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 61998CJ0065 Eyüp VORABSchlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Beschränkungen der Abänderungsbefugnis Beschränkung durch die Sache Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang, partielle Nichtanwendung von innerstaatlichem Recht EURallg1 Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RO2021220002.J00Im RIS seit
28.04.2022Zuletzt aktualisiert am
02.05.2022