TE Vwgh Beschluss 2022/3/31 Ra 2019/22/0099

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Veröffentlicht am 31.03.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
NAG 2005 §45
NAG 2005 §46 Abs1 Z2
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des Landeshauptmanns von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 28. Februar 2019, VGW-151/011/556/2019/E-2, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: N E, vertreten durch Dr. Wolfgang Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 12/1/27), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1.1. Die Mitbeteiligte, eine im September 2003 geborene serbische Staatsangehörige, brachte am 12. Juni 2017 beim Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Behörde) einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrer in Österreich über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfügenden und jedenfalls seit Februar 2016 allein obsorgeberechtigten Mutter (ebenfalls eine serbische Staatsangehörige) ein.

Laut dem unstrittigen Antragsvorbringen lebte die Mitbeteiligte bereits früher mit ihrer Mutter in Österreich (und verfügte über Aufenthaltstitel von Februar 2008 bis Jänner 2012). In der Folge zog sie mit der Mutter nach Serbien, wo diese die kranke Großmutter pflegte. Später kehrte die Mutter nach Österreich zurück, die Mitbeteiligte blieb bei der Großmutter im Heimatstaat. Als sich deren Zustand verschlechterte, konnte sie sich nicht mehr um die Mitbeteiligte kümmern. Diese wohnt jedenfalls seit 31. März 2017 wieder bei ihrer Mutter in Österreich, wo sie auch die Schule besucht. Die Mutter erwartete im August 2017 (mit ihrem Ehemann, Stiefvater der Mitbeteiligten) ein weiteres Kind, wobei eine Risikoschwangerschaft vorlag, sodass die Mutter nicht reisen durfte und der gegenständliche Antrag daher im Inland gestellt wurde.

Am 5. September 2017 stellte die Mitbeteiligte einen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 Z 2 NAG. Sie brachte dazu vor, ihrer Mutter als gesetzlicher Vertreterin sei eine Antragstellung in Serbien aus gesundheitlichen Gründen (wegen eines ärztlich erteilten Reiseverbots) nicht möglich bzw. nicht zumutbar (gewesen).

1.2. Mit Bescheid vom 7. September 2017 wies die Behörde den gegenständlichen Antrag wegen unzulässiger Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 1 NAG ab. Die Behörde führte aus, die Mitbeteiligte (selbst) habe die Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthalts überschritten und sei gemäß § 21 Abs. 2 NAG zur Inlandsantragstellung nicht berechtigt gewesen. Sie hätte den Erstantrag in Serbien einbringen und die Entscheidung dort abwarten müssen. Der Versagung des Aufenthaltstitels stehe auch Art. 8 EMRK mangels eines schützenswerten Privat- und Familienlebens der Mitbeteiligten in Österreich nicht entgegen.

1.3. Der dagegen erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht Wien mit (am 19. Dezember 2017 verkündetem und mit 8. Mai 2018 ausgefertigtem) Erkenntnis gemäß § 28 Abs. 3 und 4 VwGVG statt, hob den bekämpften Bescheid auf und verwies die Sache an die Behörde zurück; weiters sprach es aus, dass der Zusatzantrag nach Art. 8 EMRK „zum Wohle des Kindes [...] genehmigt“ werde.

Das Verwaltungsgericht führte dazu im Wesentlichen aus, es herrsche Unklarheit in einigen Punkten; der Bescheid sei daher aufzuheben und die Sache an die Behörde zurückzuverweisen gewesen. Ferner habe die Behörde über den Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG nicht abgesprochen. Diesem Antrag sei daher (unter anderem) nach Art. 8 EMRK mit Blick auf das (näher erörterte) Kindeswohl stattzugeben gewesen.

1.4. Der gegen diese Entscheidung erhobenen Revision der Behörde gab der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 13. Dezember 2018, Ra 2018/22/0186, statt und hob die Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts mit (im Wesentlichen) folgender Begründung auf:

Was den vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Abspruch über den Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG betreffe, so müsse ein solcher nicht (ausdrücklich) erfolgen, sondern es könne - wie hier von der Behörde (fallbezogen wegen Überwiegen der öffentlichen Interessen) - sogleich (nur) der Hauptantrag abgewiesen werden. Folglich sei kein Zusatzantrag mehr vorgelegen, der einer Erledigung bedurft hätte. Darüber hinaus sei der Abspruch über den Zusatzantrag auch deshalb rechtswidrig, weil nicht nachvollziehbar sei, ob überhaupt ein zulässiger Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG vorgelegen sei. Gemessen an dem von der Behörde festgestellten Zeitpunkt der Aufnahme eines Wohnsitzes der Mitbeteiligten im Inland (31. März 2017) - Feststellungen des Verwaltungsgerichts zum Datum der Einreise und zur Dauer des Aufenthalts der Mitbeteiligten würden fehlen - wäre die Antragstellung nämlich noch innerhalb des erlaubten visumfreien Aufenthalts erfolgt. Es läge daher kein Anwendungsfall des § 21 Abs. 1 und 3 NAG vor, vielmehr wäre der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG verwirklicht.

Zur Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK wies der Verwaltungsgerichtshof für das fortzusetzende Verfahren darauf hin, dass dem Verwaltungsgericht anzulasten sei, lediglich das Vorbringen der Mitbeteiligten dargestellt zu haben, ohne eigene Feststellungen zu treffen und ohne die Interessenabwägung näher zu begründen. Der Auffassung der Behörde, es wäre der Mitbeteiligten zumutbar gewesen, auszureisen und den Antrag im Ausland zu stellen, könne - im Hinblick auf die Feststellungen im behördlichen Bescheid, wonach sich die Großmutter im Heimatstaat nicht mehr um die minderjährige Mitbeteiligte kümmern könne und die zusammenführende Mutter aus gesundheitlichen Gründen nicht reisefähig sei - nicht gefolgt werden. Der Revisionswerber vermöge insofern daher keine Relevanz der von ihm aufgezeigten Verfahrensmängel darzutun.

Was die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Sache gemäß § 28 Abs. 3 und 4 VwGVG betreffe, so wäre aufgrund der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs eine meritorische Entscheidung zu treffen gewesen, seien doch die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG für eine Sachentscheidung vorgelegen. Auch eine mangelhafte Begründung des Bescheids rechtfertige keine Aufhebung und Zurückverweisung, wenn - wie hier - brauchbare Ermittlungsergebnisse vorlägen, die allenfalls in einer Verhandlung zu vervollständigen seien.

2. Mit dem - im zweiten Rechtsgang gefällten - nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 28. Februar 2019 gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde (erneut) statt und erteilte der Mitbeteiligten „aus Gründen des Kindeswohles gemäß Art. 8 EMRK, der UN Kinderrechtskonvention und des Bundesverfassungsgesetzes zum Schutz des Kindes“ den beantragten Aufenthaltstitel „für den Zweck Familienangehöriger“ für die Dauer eines Jahres. Die ordentliche Revision erklärte es für nicht zulässig.

2.1. Das Verwaltungsgericht stellte nach Darlegung des Verfahrensgangs fest, dass der Aufenthaltstitel der minderjährigen Mitbeteiligten von der im Bundesgebiet rechtmäßig aufhältigen Mutter gemäß § 46 NAG abgeleitet werden könne. Die Erteilungsvoraussetzungen betreffend den Wohnraum, die Krankenversicherung, den Obsorgenachweis und den Nachweis eines gültigen Aufenthaltstitels der Zusammenführenden seien erfüllt. Das unzureichende Haushaltseinkommen sei gemäß § 11 Abs. 3 NAG zugunsten des Kindeswohls und der familiären Gemeinschaft abzuwägen. Die der Mitbeteiligten vorgeworfene und vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte Überschreitung der Dauer des sichtvermerkfreien Aufenthalts werde ebenfalls gemäß Art. 8 EMRK zugunsten des Kindeswohls kompensiert.

2.2. Im Zusammenhang mit der Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG verwies das Verwaltungsgericht auf die Bedeutung der Berücksichtigung des Kindeswohls sowie auf den Anspruch auf Schutz und Fürsorge, die für das Wohlergehen notwendig seien. Im Hinblick darauf sei der minderjährigen Mitbeteiligten der Aufenthalt bei ihrer Mutter und dem mittlerweile geborenen Geschwisterkind zu bewilligen, weil diese ansonsten ihrer „familiären Rechte verlustig“ gehen würden. Eine Verweigerung des Aufenthaltstitels für die Mitbeteiligte würde den Schutz des Kernbestands der Familien- bzw. Kinderrechte verkennen. Der fremdenrechtliche Verstoß durch die Überschreitung der sichtvermerksfreien Aufenthaltsdauer habe gegenüber dem Schutz des Kindeswohls in den Hintergrund zu treten. Auch die Unterschreitung der gebotenen Unterhaltsmittel könne den aus der Verfassung entspringenden Vorrang des Kindeswohls nicht unterlaufen, zumal davon auszugehen sei, dass die Mitversorgung der Mitbeteiligten durch die Zusammenführende gewährleistet sei.

3.1. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Amtsrevision.

3.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

4. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

5.1. Die Behörde bringt zunächst vor, dem angefochtenen Erkenntnis lasse sich nicht entnehmen, auf welche Rechtsgrundlage sich das Verwaltungsgericht bei der Erteilung des Aufenthaltstitels gestützt habe. Gehe man von der Bezeichnung im Spruch aus, komme die Bestimmung des § 47 Abs. 2 NAG in Betracht. Ein derartiger Aufenthaltstitel hätte aber nicht erteilt werden dürfen, weil es sich bei der Zusammenführenden um eine serbische Staatsangehörige handle, die über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in Österreich verfüge, und gegenständlich ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ nach § 46 Abs. 1 Z 2 NAG beantragt worden sei.

5.2. Der Behörde ist zuzugestehen, dass der Wortlaut des Spruchs der angefochtenen Entscheidung für sich allein betrachtet nicht völlig klar erscheint. Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings in einem ähnlich gelagerten Fall (siehe VwGH 25.7.2019, Ra 2019/22/0090, Rn. 7, wobei auf die Begründung gemäß § 43 Abs. 2 und 9 VwGG verwiesen wird), zur Auslegung des Spruchs eines Erkenntnisses Folgendes ausgeführt:

„Gemäß § 59 Abs. 1 AVG, der nach § 17 VwGVG im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten sinngemäß anzuwenden ist, hat der Spruch (eines Erkenntnisses) die in Verhandlung stehende Angelegenheit in möglichst gedrängter deutlicher Fassung zu erledigen. Die Entscheidung muss dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit entsprechen. Das Gebot der ausreichenden Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit des Spruchs ist auch bei der Erteilung eines Aufenthaltstitels bei sonstiger Rechtswidrigkeit der Entscheidung zu beachten (siehe zu allem VwGH 21.9.2017, Ra 2016/22/0068, Pkt. 8.1, mwN).

Die Anforderungen an die Bestimmtheit des Spruchs dürfen aber nicht überspannt werden. So darf etwa neben dem in erster Linie maßgeblichen Wortlaut des Spruchs auch die Begründung der Entscheidung als Auslegungshilfe herangezogen werden, wenn der Spruch als individuelle Norm einer Auslegung bedarf. Dabei genügt es, wenn sich aus der Einbeziehung der Begründung in die Auslegung des Spruchs der Inhalt der Entscheidung mit ausreichender Deutlichkeit ergibt. Auch das Unterbleiben der Anführung von Gesetzesbestimmungen (im Spruch wie ebenso in der Begründung) führt nicht zur Aufhebung einer Entscheidung, wenn mit Rücksicht auf die Eindeutigkeit des Gegenstands kein Zweifel darüber bestehen kann, welche Vorschriften ihre Grundlage gebildet haben. Nicht zuletzt hängen die Anforderungen an das Maß der Bestimmtheit stets von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. zu allem erneut VwGH 2016/22/0068, Pkt. 8.2, mwN).“

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist vorliegend eine vom Verwaltungsgerichtshof als Abweichung von seiner Rechtsprechung aufzugreifende unzureichende Bestimmtheit des angefochtenen Erkenntnisses nicht ersichtlich.

Zwar ist im Spruch des angefochtenen Erkenntnisses vom Zweck „Familienangehöriger“ die Rede, allerdings wird zuvor ausdrücklich auf den „beantragten Aufenthaltstitel“ abgestellt und im Kopf der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich auf den Antrag der Mitbeteiligten auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Rot-Weiß-Rot - Karte Plus“ (gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG) Bezug genommen. Auch in der Begründung der angefochtenen Entscheidung wird wiederholt auf (den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte Plus“ gemäß) § 46 Abs. 1 Z 2 NAG verwiesen. Ein Hinweis auf § 47 NAG findet sich in der Begründung ebensowenig wie ein sonstiger Hinweis dahingehend, dass das Verwaltungsgericht einen anderen Aufenthaltstitel als den beantragten erteilen wollte. Dass im Spruch vom Zweck „Familienangehöriger“ die Rede ist, führt vor diesem Hintergrund zu keinem anderen Ergebnis, zumal der beantragte Aufenthaltstitel nach § 46 NAG auch der Familienzusammenführung (wenn auch mit einem Drittstaatsangehörigen) dient. Somit ergibt sich im vorliegenden Fall mit ausreichender Deutlichkeit, dass der Mitbeteiligten der von ihr beantragte Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte Plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG erteilt wurde (vgl. zu ähnlichen Konstellationen VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0094, Rn. 12; 8.10.2019, Ra 2019/22/0130, Rn. 10).

6.1. Die Behörde moniert weiter, das Verwaltungsgericht habe auf Basis der im ersten Verfahrensgang aufgenommenen Beweise (und somit nicht auf Grund der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sachlage) entschieden. Hinsichtlich des Einkommens (der Zusammenführenden bzw. deren Ehemannes) sowie hinsichtlich der Wohnsituation erweise sich der ermittelte Sachverhalt als mangelhaft.

6.2. Ein Verfahrensmangel kann nur dann zur Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung führen, wenn er sich auf diese auswirken konnte und daher wesentlich war. Voraussetzung ist somit, dass das Verwaltungsgericht bei Vermeidung des Verfahrensmangels zu einer anderen für den Rechtsmittelwerber günstigeren Entscheidung hätte gelangen können. Die Mängelrüge bedarf deshalb einer Darstellung der Relevanz des Verfahrensmangels im soeben aufgezeigten Sinn. Diese stellt auch eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision dar (vgl. zu allem VwGH 8.2.2021, Ra 2020/22/0251, Pkt. 4.1.).

Gegenständlich ist das Verwaltungsgericht erkennbar vom Fehlen (unter anderem) der Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG ausgegangen und hat dementsprechend eine Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG durchgeführt (vgl. zu dieser unten Pkt. 8.2.). Der beantragte Aufenthaltstitel wurde daher nicht auf Grund des Vorliegens der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, sondern auf Grund des Überwiegens der privaten und familiären Interessen der Mitbeteiligten erteilt. Inwieweit fehlende Feststellungen zur Höhe der zur Verfügung stehenden Unterhaltsmittel oder auch zum (Nicht)Vorliegen einer ortsüblichen Unterkunft - und damit allenfalls das Fehlen einer weiteren Erteilungsvoraussetzung - für die Interessenabwägung fallbezogen von Bedeutung gewesen wären, wird in der Revision aber nicht konkret aufgezeigt. Somit fehlt es dem Vorbringen zum insoweit aufgezeigten Verfahrensmangel an der gebotenen Relevanzdarstellung.

7.1. Die Behörde bringt überdies vor, das Verwaltungsgericht sei im fortgesetzten Verfahren an die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung gebunden. Im nunmehr angefochtenen Erkenntnis würden Feststellungen dazu fehlen, ob der Antrag der Mitbeteiligten während des rechtmäßigen Aufenthalts gestellt worden sei. Wäre dies zu bejahen und im Anschluss die Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthalts überschritten worden, so wäre - auch mit Blick auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs im bereits genannten hg. Erkenntnis Ra 2018/22/0186 - der Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 1 Z 5 NAG verwirklicht. Ausführungen dazu seien dem angefochtenen Erkenntnis freilich nicht zu entnehmen.

7.2. Damit verkennt die Behörde jedoch den Inhalt der Ausführungen im hg. Erkenntnis Ra 2018/22/0186. In diesem Erkenntnis hatte der Verwaltungsgerichtshof zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht zu Recht über einen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG abgesprochen hatte. Dies wurde vom Verwaltungsgerichtshof aus mehreren Gründen verneint und (als einer der Gründe) ausgeführt, dass anhand der getroffenen Feststellungen nicht nachvollziehbar sei, ob überhaupt ein einem Abspruch in der Sache zugänglicher Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG vorgelegen sei. Demgegenüber ist im zweiten Rechtsgang kein Abspruch über einen Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG erfolgt, vielmehr hat das Verwaltungsgericht - auch, aber nicht nur (vgl. bereits oben Pkt. 6.2.) - im Hinblick auf das Fehlen der Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG (wie sie auch nach § 21 Abs. 3 Z 2 NAG erforderlich wäre) durchgeführt, weshalb den zum Vorliegen eines Zusatzantrags gemäß § 21 Abs. 3 NAG ergangenen Ausführungen im Erkenntnis Ra 2018/22/0186 nicht ohne weiteres Maßgeblichkeit zukommt. Soweit die Behörde mit den diesbezüglichen Ausführungen der Sache nach einen Feststellungs- bzw. Begründungsmangel im Hinblick auf die Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG geltend machen sollte, fehlt es wiederum an der gebotenen Relevanzdarstellung (siehe erneut oben Pkt. 6.2.).

8.1. Die Behörde macht dann noch geltend, das Verwaltungsgericht habe keine Feststellungen zu den konkreten Lebensumständen der Mitbeteiligten als notwendige Grundlage für die vorzunehmende Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG getroffen und auch nicht näher begründet, inwiefern das daraus ableitbare persönliche Interesse an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens die gegenläufigen öffentlichen Interessen überwiege.

8.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. VwGH 25.7.2019, Ra 2018/22/0219, Rn. 9).

8.3. Vorliegend ist der Behörde zwar zuzugestehen, dass die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zu den Lebensumständen der Mitbeteiligten und ihrer Familie sowie die Ausführungen zur Interessenabwägung sehr kursorisch ausgefallen sind. Daraus resultiert aber noch keine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung.

Unstrittig ist, dass die zusammenführende Mutter der Mitbeteiligten über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ und somit über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügt. Ebenso nicht bestritten wurde die alleinige Obsorge der Mutter über die im Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts fünfzehnjährige Mitbeteiligte. Der Verwaltungsgerichtshof hat (vorallem zu § 9 Abs. 3 BFA-VG) bereits wiederholt ausgesprochen, dass sich eine Interessenabwägung zu Gunsten des Fremden insbesondere dann ergeben kann, wenn ein Familienleben mit einer Person besteht, die über ein unbefristetes Niederlassungsrecht (etwa) in Form eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 NAG verfügt (vgl. etwa VwGH 11.11.2021, Ra 2019/21/0383, Rn. 10, mwN).

Mehrfach wurde in der Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass dem Zusammenleben mit einem dauerhaft niedergelassenen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt. Nichts Anderes kann aber im hier zu beurteilenden Fall für das Zusammenleben der minderjährigen Mitbeteiligten mit ihrer dauerhaft niedergelassenen Mutter gelten. In dem Zusammenhang muss auch berücksichtigt werden, dass die Mutter ein weiteres Kind im Säuglingsalter hat, dessen Kindeswohl ebenfalls zu beachten ist.

8.4. Vor diesem Hintergrund vermag die Behörde mit ihrem insoweit auch nicht näher substanziierten Vorbringen eine Unvertretbarkeit der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung (auch im Hinblick auf die weiteren Aspekte wie den Schulbesuch und den bereits früheren Inlandsaufenthalt der Mitbeteiligten) nicht aufzuzeigen. Es ist somit nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen des Erteilungshindernisses nach § 11 Abs. 1 Z 5 NAG sowie das Fehlen der Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG fallbezogen als durch die familiären Interessen der Mitbeteiligten kompensiert ansah.

9. In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 31. März 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2019220099.L00

Im RIS seit

28.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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