TE Vwgh Erkenntnis 1996/6/5 95/20/0333

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Veröffentlicht am 05.06.1996
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des S in L, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 20. April 1995, Zl. 4.333.531/14-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.830,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, der am 23. Dezember 1991 in Begleitung seiner Mutter, einer Schwester und zweier Brüder bei der unerlaubten Ausreise nach Deutschland von den Grenzorganen aufgegriffen und nach Österreich zurückgestellt wurde, stellte am 30. Dezember 1991 hier den Antrag, ihm Asyl zu gewähren. Im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich gab er in bezug auf seine Fluchtgründe an, er sei Katholik und sei in seinem Heimatland von den Moslems schikaniert und benachteiligt worden. Sein Onkel und dessen Sohn seien bei den Behörden als Sympathisanten der Kurden bekannt gewesen. Sie seien deshalb im Jahr 1982 festgenommen worden, und der Beschwerdeführer habe seither nichts mehr von ihnen gehört. Er habe von 1980 bis 1984 an der Universität in Bagdad studiert. Trotz Aufforderung sei er der Baath-Partei und der Volksmiliz nicht beigetreten. Als er eines Tages zufällig auf der Universität eine Zigarettenkippe vor die Füße von zwei Sicherheitsbeamten geworfen habe, sei er vorerst für eine Woche von der Universität suspendiert worden. In der Folge sei er von der Universität verwiesen worden. Als Begründung sei angeführt worden, daß er zweimal durchgefallen sei, was jedoch nicht gestimmt habe. Er habe keine Möglichkeit für eine Berufung gehabt. In der Folge sei er dann zum Militär einberufen worden, wobei er vorerst an der iranischen und später an der kuwaitischen Front gekämpft habe. Als Angehöriger einer Minderheit sei er an der Front stets als "Kanonenfutter" eingesetzt worden. Vorerst habe er jedoch nicht flüchten können, da im Hinterland ein Hinrichtungskommando aufhältig gewesen sei, das alle Deserteure sofort erschossen habe. Am 10. Februar 1991 sei er nach den ersten Angriffen der Amerikaner - wie viele andere auch - in den Norden des Irak zu seinen Familienangehörigen geflüchtet. Er sei weiter in die Türkei geflüchtet, weil er mit dem Tode habe rechnen müssen. Er könne keinesfalls in den Irak zurück, weil er mit Sicherheit "in Stücke geschnitten würde".

Mit Bescheid vom 25. März 1992 stellte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich fest, daß der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für die Zuerkennung seiner Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle.

Fristgerecht erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid Berufung, verwies auf seine Angaben anläßlich des Erstinterviews und ergänzte sein Vorbringen dahingehend, er sei seit der Flucht seines ältesten Bruders oftmals festgenommen und nach dem Versteck oder dem Aufenthaltsort seines Bruders gefragt worden. Dabei sei er jedesmal geschlagen und getreten worden. Auch alle anderen Familienangehörigen seien zu Verhören geholt und mißhandelt worden. Sein Vater habe dabei einen Herzanfall erlitten und sei in der Zeit, in der sich der Beschwerdeführer mit seiner Mutter und seinen Geschwistern auf der Flucht befand, gestorben. Der Beschwerdeführer sei, nachdem er aus der Armee in den Norden des Irak geflüchtet sei, zehn Tage lang eingesperrt worden. Man habe behauptet, daß er die Kurden im Kampf gegen das System Saddam Husseins unterstütze. Er sei geschlagen, beleidigt und erniedrigt worden. Zuletzt sei er freigelassen worden, wobei ihm gesagt worden sei, daß man ihn gemeinsam mit seinem Bruder wieder holen wolle.

In einer (ersten) Berufungsergänzung von 30. November 1992 ergänzte er die Angaben zu seinen Fluchtgründen dahingehend, seit der Flucht seines Bruders Sabah 1982 aus dem Irak sei er ständigen Repressalien ausgesetzt gewesen. Dieser Bruder sei 1985 in Schweden als Konventionsflüchtling anerkannt worden und seitdem in Schweden ansässig. Nun habe er einen Antrag auf Verleihung der schwedischen Staatsbürgerschaft gestellt. Im übrigen detaillierte der Beschwerdeführer, seine Flucht vor der irakischen Armee in Kuwait sei am 10. Februar 1992 (richtig: 1991) mit Hilfe eines gefälschten Urlaubscheins gelungen, den er durch Bestechung habe erwerben können. Dank des allgemeinen Chaos und der zusammengebrochenen Verbindung der Kommandozentralen untereinander sei der Schwindel während seiner zehntägigen Untersuchungshaft nicht aufgedeckt worden. Er sei aber sicher, daß sein Name mittlerweile längst auf den Listen der Deserteure verzeichnet sei, weshalb er im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit sofortiger Hinrichtung zu rechnen hätte. In einer (zweiten) Berufungsergänzung vom 21. Jänner 1993 vertrat der Beschwerdeführer die Ansicht, auch wenn die Wehrdienstverweigerung alleine für die Anerkennung als Flüchtling nicht genüge, müsse in Betracht gezogen werden, daß dennoch im Falle der Wehrdienstentziehung Asylrelevanz vorliegen könne, wenn die außergewöhnliche Härte einer drohenden Strafe wegen Wehrdienstentziehung, insbesondere in einem totalitäten Staat, gegeben sei und ein geordnetes und berechenbares Gerichtsverfahren fehle und derartige Strafen auch und gerade während eines Krieges willkürlich verhängt würden. Im übrigen verwies der Beschwerdeführer auf die nach wie vor in Geltung stehende Resolution 1370 des irakischen Revolutionskommandorates vom 2. Jänner 1984.

Mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 22. Mai 1993 wurde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 66 Abs. 4 AVG abgewiesen.

Infolge der dagegen erhobenen Verwaltungsgerichtshofbeschwerde hob der Verwaltungsgerichtshof den bekämpften Bescheid infolge Rechtswidrigkeit seines Inhaltes (Aufhebung des Wortes "offenkundig" in § 20 Abs. 2 AsylG 1991 durch den Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 1. Juli 1994, G 92,93/94) auf, sodaß das Berufungsverfahren neuerlich bei der belangten Behörde anhängig wurde.

Im Rahmen der von der belangten Behörde daraufhin eingeräumten Möglichkeit, einfache Verfahrensmängel und daraus etwa folgende Sachverhaltsfeststellungen der Behörde erster Instanz in einer Ergänzung zur Berufung zu relevieren und zu vorgehaltenen Ergebnissen der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen, gab der Beschwerdeführer ergänzend an, daß er immer wieder bedroht und körperlich mißhandelt worden sei, nachdem er sich geweigert habe, der Baath-Partei beizutreten. Aufgrund seiner Desertion habe er mit der Hinrichtung zu rechnen, da sein Name mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einer dementsprechenden Liste eingetragen sei. Ein Zeuge, geboren etwa 1961, vermutlich zu seinem irgendwo in den USA wohnhaften Bruder geflüchtet, könne Auskunft über die Mißhandlungen und die Verweisung des Beschwerdeführers von der Universität geben.

Mit dem nunmehr angefochtenen Ersatzbescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers neuerlich gemäß § 66 Abs. 4 ab. Nach Wiedergabe der Ergebnisse des erstinstanzlichen Verfahrens und Zitierung der in Anwendung gebrachten gesetzlichen Bestimmungen führte die belangte Behörde rechtlich aus, Benachteiligungen bzw. Schwierigkeiten allgemeiner Art seien keine Verfolgung im Sinne der Konvention. Im übrigen machten Christen verschiedener Konfessionen ca. 3,5 % der Bevölkerung des Irak aus, Religionsfreiheit sei verfassungsmäßig toleriert. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Minderheit bzw. die allgemeinen Benachteiligungen von Personen, die nicht Mitglieder der herrschenden Partei seien, stellten ebenfalls noch keinen Grund für die Anerkennung als Flüchtling dar. Die behaupteten Vorfälle gegen Verwandte des Beschwerdeführers könnten ebenfalls keine Berücksichtigung finden, da asylrelevant lediglich Ereignisse seien, die die Person des Asylwerbers unmittelbar beträfen, sodaß Ereignisse gegen Familienmitglieder oder andere Personen nicht den gewünschten Verfahrensausgang bewirken könnten. Zudem lägen diese Vorfälle gegen die Verwandten des Beschwerdeführers und die Umstände der behaupteten Universitätsverweisung bereits aus den Jahren 1982 bzw. 1984 lange Zeit vor der Ausreise des Beschwerdeführers aus dem Irak zurück und seien daher nicht mehr beachtlich. Bezüglich der vom Beschwerdeführer behaupteten Desertion führte die belangte Behörde lediglich aus, diese sowie Wehrdienstverweigerung sei auch in klassisch-demokratischen rechtsstaatlichen Ländern mit Strafe bedroht, die Strenge der angedrohten Strafe sei nicht maßgeblich, und bezog sich hiezu auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes. Im übrigen komme es auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht im Irak nicht zur zielgerichteten Auswahl von Personen mit bestimmten Eigenschaften oder Überzeugungen. Die Rekrutierung und damit auch die Bestrafung wegen Entziehung oder Verweigerung habe somit nicht erkennbar den Zweck, die Wehrpflichtigen in schutzwürdigen persönlichen Merkmalen zu treffen. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers sei nicht glaubwürdig ableitbar gewesen, daß ihm im Falle der Aufgreifung und Verurteilung eine differenzierte Bestrafung im Sinne des hg. Erkenntnisses 93/01/0377 gedroht habe.

Daß der Beschwerdeführer erst nach dem Versuch, von Österreich illegal nach Deutschland zu gelangen, wobei er aufgegriffen worden sei, einen Asylantrag gestellt habe, trage nicht zur Glaubhaftmachung seiner behaupteten Furcht vor Verfolgung bei. Dies lasse schließen, daß der Beschwerdeführer kein ernstzunehmendes Schutzbedürfnis gehabt habe. Zu dem angebotenen Zeugen führte die belangte Behörde aus, daß dieser lediglich die Richtigkeit von nicht asylrelevanten Vorkommnissen hätte erklären können, zudem sei weder Geburtsdatum noch Anschrift genannt worden, sodaß es der belangten Behörde von vornherein unmöglich wäre, diesen Zeugen um eine entsprechende Stellungnahme zu ersuchen.

Im übrigen nahm die belangte Behörde an, der Beschwerdeführer sei bereits im Nordirak vor bloß fiktiv angenommener Verfolgung sicher gewesen (gemeint: "inländische Fluchtalternative"), weil er asylrelevante Verfolgung im Zeitraum seines dortigen Aufenthaltes nicht einmal behauptet habe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Der belangten Behörde ist zuzugestehen, daß allgemeine Benachteiligungen und Schwierigkeiten auf Grund der Zugehörigkeit zu einer (hier religiösen) Minderheit bzw. auch die Zugehörigkeit zu dieser Minderheit allein und auch bloße Verhöre, sofern sie keine weiteren Nachteile nach sich gezogen haben, noch keine tauglichen Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft darstellen. Auch der Hinweis auf Schicksale von Familienangehörigen kann - insofern ist der belangten Behörde ebenfalls beizupflichten - lediglich als zusätzliche Illustration für die eigene Verfolgungssituation im Rahmen der Gesamtbetrachtung Berücksichtigung finden, nicht jedoch als ausschließlicher Asylgrund.

Dennoch hat die belangte Behörde ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit belastet. Im Sinn des auch von der belangten Behörde zitierten Erkenntnisses eines verstärkten Senates vom 29. Juni 1994, Zl. 93/01/0377, kann nicht nur die im Falle der Wehrdienstverweigerung oder Desertion zu erwartende differenzierte Bestrafung von Asylrelevanz sein, sondern auch die Einberufung selbst bzw. Umstände der Ableistung des Militärdienstes. Im Sinne dieses Erkenntnisses hätte daher die belangte Behörde auf die Angaben des Beschwerdeführers anläßlich seiner Einvernahme einzugehen gehabt, besonders Angehörige einer Minderheit seien an der Front stets als "Kanonenfutter" eingesetzt worden - eine Aussage, aus der sich zumindest ergeben könnte, daß Angehörige der christlichen Minderheit im Vergleich zu anderen bei kriegerischen Einsätzen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würden. Dazu aber hat die belangte Behörde keine Feststellungen getroffen.

Die Annahme einer "inländischen Fluchtalternative" entbehrt ebenfalls einer detaillierteren Feststellung. Insbesondere sind aus den erstinstanzlichen Angaben des Beschwerdeführers nicht die näheren Umstände feststellbar, wo und unter welchen Bedingungen er sich im "Nordirak" bis zu seiner Flucht aufgehalten hat. Jedenfalls hätte die belangte Behörde abzuklären gehabt, an welchem Ort und unter welchen Umständen der Beschwerdeführer in der Zeit zwischen seiner Desertion (10. Februar 1991) und der Ausreise aus seinem Heimatland (angeblich 23. Dezember 1991, sohin in einem Zeitraum von rund 10 Monaten) im Nordirak gelebt hat. Die Feststellung dieser Umstände ist insbesondere schon deshalb notwendig, weil nicht das gesamte Gebiet nördlich des 36. Breitengrades Sicherheitszone der Kurden ist, sondern nur ein Teilbereich im Norden dieses Gebietes. Andere Gebiete stehen hingegen unter irakischer Verwaltung (vgl. den Bericht des UNHCR über die "Situation im Nordirak und innerstaatliche Fluchtalternative" vom Oktober 1994; Anm.: Mossul liegt zwar nördlich des 36. Breitengrades, aber in dem vom Irak kontrollierten Gebiet).

Des weiteren hat die belangte Behörde außer acht gelassen, daß es sich beim Beschwerdeführer um einen KATHOLIKEN handelt, welcher selbst in der Sicherheitszone der Kurden nicht selbstverständlich sicher wäre. Ohne nähere Ermittlungen und Ausführungen der belangten Behörde stellt sich ihre Schlußfolgerung, der Beschwerdeführer wäre im Nordirak sicher vor Verfolgung gewesen, als nicht schlüssig dar. Berücksichtigt man überdies, daß der Beschwerdeführer in seiner Berufung angegeben hat, im "Nordirak" inhaftiert worden zu sein, so ist die Begründung der belangten Behörde, der Beschwerdeführer habe individuelle Verfolgungshandlungen im Bereich des Nordirak "nicht einmal behauptet", ohne Ausführungen der belangten Behörde, sie habe auf die erstmalig in der Berufung erfolgte Behauptung der Inhaftierung etwa aus Gründen des § 20 Abs. 1 AsylG 1991 nicht einzugehen gehabt, aktenwidrig. Eine solche Aktenwidrigkeit ist jedoch vom Verwaltungsgerichtshof von Amts wegen wahrzunehmen, ohne daß es der Darstellung der Relevanz durch den Beschwerdeführer bedarf (vgl. Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 174).

Aus diesen Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Parteiengehör Verletzung des Parteiengehörs Verfahrensmangel Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Materielle Wahrheit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1995200333.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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