TE Vfgh Beschluss 1994/6/21 G45/93

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Veröffentlicht am 21.06.1994
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Index

66 Sozialversicherung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
GSVG §131a Abs1 idF Sozialrechts-ÄnderungsG 1991

Leitsatz

Zurückweisung des Gesetzesprüfungsantrags eines Gerichts mangels Präjudizialität; angefochtene Gesetzesbestimmung des GSVG durch das angeführte Sozialrechts-ÄnderungsG 1991 nicht berührt; keine Umdeutung des Antrags möglich

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

1.1. Anläßlich einer bei ihm anhängigen Berufung stellte das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen mit Beschluß vom 22. Februar 1993, Z31 Rs 2/93, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag,

"1.) im §131 a Abs1 des gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes - GSVG BGBl. 1978/560 i.d.F. des Sozialrechtsänderungsgesetzes 1991 BGBl. 157, die Wortfolge 'nach Vollendung des 60.Lebensjahres, die Versicherte' als verfassungswidrig aufzuheben oder

2.) auszusprechen, daß in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1. April bis 30. November 1991 verfassungswidrig war."

1.2. Diesem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der am 19. August 1991 gestellte Antrag des am 19. April 1932 geborenen Klägers auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension bei Arbeitslosigkeit gemäß §131 a GSVG wurde von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Die in der Folge fristgerecht eingebrachte Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, dem Kläger ab dem Stichtag 1. September 1991 die vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit im gesetzlichen Ausmaß zuzuerkennen, wurde vom Landesgericht St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht abgewiesen.

Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Berufung, in welcher er im wesentlichen verfassungsrechtliche Bedenken gegen §131 a Abs1 GSVG geltend machte.

1.3. Das Oberlandesgericht Wien führt in seinem Antrag aus, daß es über die fristgerecht gegen das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten erhobene Berufung zu entscheiden habe und daß es, weil der Anspruch des Klägers davon abhänge, "ob die im §131 a GSVG festgesetzten Voraussetzungen erfüllt sind", diese Bestimmung anzuwenden habe. Der gemäß §113 Abs2 GSVG für den Anspruch des Klägers maßgebende Stichtag liege jedenfalls nach dem 31. März 1991. Es sei deshalb "§131 a idF des am 1. April 1991 in Kraft getretenen Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl. 157 anzuwenden (ArtV Abs6 dieses Gesetzes)."

Nach Ansicht des Oberlandesgerichtes Wien verstößt die von ihm angefochtene Wortfolge im §131 a Abs1 GSVG gegen das Gleichheitsgebot. Das antragstellende Gericht vertritt die Auffassung, daß die von ihm - im Detail dargelegten - Bedenken "gegen den von ihm anzuwendenden §131 a GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991" dieselben seien, die zur Aufhebung mehrerer vergleichbarer Bestimmungen mit dem Erkenntnis VfSlg. 12568/1990 geführt haben.

3. Die Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

3.1. In das Bundesgesetz vom 11. Oktober 1978 über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG), BGBl. Nr. 560/1978, wurde mit der 10. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 112/1986, ein §131 a eingefügt.

Mit dem Bundesgesetz BGBl. Nr. 616/1987 wurde dem §131 a Abs1 GSVG eine Z6 angefügt.

Mit der 15. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 750/1988, wurde in der Z2 der zitierten Bestimmung der Ausdruck "§227 Z6" durch den Ausdruck "§227 Abs1 Z6" ersetzt. Diese Änderung ist am 1. Jänner 1989 in Kraft getreten (ArtIV der zitierten Novelle).

In der Folgezeit wurde das GSVG bis zum Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 zwar mehrfach geändert (vgl. die Bundesgesetze BGBl. Nr. 643/1989, 295/1990 und 741/1990), §131 a Abs1 leg.cit. blieb davon jedoch unberührt. Auch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991, BGBl. Nr. 157/1991, welches mit Ausnahme seines hier nicht relevanten ArtIX am 1. April 1991 in Kraft trat (ArtXI leg.cit.) und welches das GSVG an mehreren Stellen veränderte, ließ den Wortlaut des §131 a Abs1 GSVG unangetastet.

Die nach diesem Gesetz folgende nächste Änderung des GSVG (und auch von dessen §131 a) erfolgte erst mit der 18. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 677/1991, welche in ihren wesentlichen Teilen mit 1. Jänner 1992 in Kraft trat (ArtI Z84 leg.cit.).

§131 a Abs1 lautet - in seiner durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 unberührt gebliebenen, zuletzt durch BGBl. Nr. 750/1988 geänderten Fassung - wie folgt:

"Vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit

§131 a. (1) Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit hat der Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§120), der (die) Versicherte am Stichtag (§113 Abs2) nicht selbständig erwerbstätig ist, die weitere Voraussetzung des §130 Abs2 erfüllt hat und innerhalb der letzten fünfzehn Monate vor dem Stichtag (113 Abs2) mindestens 52 Wochen wegen Arbeitslosigkeit eine Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung bezogen hat, für die weitere Dauer der Arbeitslosigkeit. Dem Bezug von Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung stehen gleich

1. das Vorliegen einer neutralen Zeit gemäß §234 Abs1 Z2 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes,

2. eine Ersatzzeit gemäß §227 Abs1 Z6 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes,

3. ein Zeitraum von höchstens neun Monaten, für den eine Vergütung aus Anlaß der Beendigung des Dienstverhältnisses (§49 Abs3 Z7 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes) gewährt wird,

4. Zeiten der Arbeitslosigkeit, für die Kündigungsentschädigung gebührt,

5. Zeiten des Bezuges von Überbrückungshilfe nach dem Überbrückungshilfegesetz,

6. Zeiten des Bezuges einer Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes gemäß §20 Abs2 litc in Verbindung mit §25 Abs1 des Arbeitsmarktförderungsgesetzes, BGBl. Nr. 31/1969.

Bei der Feststellung der Voraussetzungen für einen solchen Anspruch haben jedoch Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung für die Erfüllung der Wartezeit außer Ansatz zu bleiben."

3.2. ArtI und ArtIV des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl. Nr. 627/1991, lauten:

"Artikel I

(Verfassungsbestimmung)

Gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, sind zulässig."

"Artikel IV

(1) (Verfassungsbestimmung) ArtI tritt mit 1. Dezember 1991 in Kraft und mit Ablauf des 31. Dezember 1992 außer Kraft.

(2) ArtII und III treten mit 1. Dezember 1991 in Kraft."

4. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie begehrt, den Antrag des Oberlandesgerichtes Wien wegen Fehlens der Prozeßvoraussetzungen zurückzuweisen. Begründend wird dazu ausgeführt:

"Das Oberlandesgericht Wien beantragt die Aufhebung der Wortfolge 'nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte' in §131a Abs1 des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes, BGBl. Nr. 560/1978, in der Fassung des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991, BGBl. Nr. 157/1991. Im Hinblick darauf, daß §131a Abs1 des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 nicht geändert wurde, hätte das antragstellende Gericht in der bei ihm anhängigen Rechtssache offenbar §131a Abs1 des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes in der Fassung der 10. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 112/1986, anzuwenden, dessen Aufhebung aber nicht beantragt ist.

Der Antrag ist daher mangels Vorliegens eines tauglichen Prüfungsgegenstandes nicht zulässig."

Im übrigen nimmt die Bundesregierung im Hinblick "auf die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom 6. Dezember 1990, G223/88 ua., vom 2. Dezember 1992, G172/92 ua., vom 5. Dezember 1992, G169/92 ua. und vom 17. Dezember 1992, G120/92 ua." von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand.

5. Der Antrag ist tatsächlich unzulässig:

5.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iS des Art140 B-VG bzw. des Art139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 7999/1977, 9811/1983, 10296/1984, 11565/1987).

5.2. Dies ist hier der Fall. Es ist ausgeschlossen (denkunmöglich), daß das antragstellende Oberlandesgericht Wien bei der Erledigung der bei ihm anhängigen Berufung §131 a Abs2 GSVG in der Fassung des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 anzuwenden hat, da die angegriffene Gesetzesstelle durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 weder novelliert noch neu erlassen wurde; das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1991 hat §131 a Abs1 GSVG überhaupt nicht berührt. Es ist daher denkunmöglich, daß das antragstellende Gericht die angegriffene Wortfolge des §131 a Abs1 GSVG in der bekämpften Fassung anzuwenden hätte.

Der Anfechtungsantrag kann aber auch nicht dahin umgedeutet werden, daß das Gericht §131 a Abs1 GSVG in der zum Zeitpunkt des (im wesentlichen erfolgten) Inkrafttretens des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 am 1. April 1991 weiter in Geltung stehenden Fassung der 15. Novelle zum Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 750/1988, bekämpfen möchte. Eine solche Umdeutung wird nämlich vom Wortlaut des zweiten Absatzes des Anfechtungsantrages ausgeschlossen, in welchem beantragt wird auszusprechen, daß "in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1. April bis 30. November 1991 verfassungswidrig war". Dieses Begehren würde nämlich - sieht man davon ab, daß es eindeutig zeigt, daß die Anfechtung der angegriffenen Gesetzesstelle in der Fassung des im wesentlichen am 1. April 1991 in Kraft getretenen Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 beabsichtigt war - durch einen Ausspruch, daß die bekämpfte Wortfolge in der Fassung der 15. GSVG-Novelle verfassungswidrig war, überschritten werden.

Ein Ausspruch im Sinne des Begehrens des antragstellenden Gerichtes hätte aber auch zur Folge, daß die - behaupteterweise vorliegende - Verfassungswidrigkeit der bekämpften Wortfolge nur für den Zeitraum vom 1. April 1991 bis zum 30. November 1991 festgestellt würde, obwohl die diese Wortfolge enthaltende Bestimmung in ihrer zuletzt durch BGBl. Nr. 750/1988 geänderten Form bereits seit dem 1. Jänner 1989 in Geltung stand. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung bloß für einen Teilzeitraum ihrer Geltung aber ist, wenn diese Verfassungswidrigkeit nicht erst nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung nur für einen bestimmten Zeitabschnitt ihrer Geltung bewirkt wurde, dem Verfassungsgerichtshof durch Art140 B-VG verwehrt.

5.3. Der Antrag war daher zur Gänze zurückzuweisen.

6. Dieser Beschluß konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung gefaßt werden.

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Auslegung eines Antrages

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:G45.1993

Dokumentnummer

JFT_10059379_93G00045_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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