Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin L*, Spanien, vertreten durch Mag. Britta Schönhart-Loinig, Rechtsanwältin in Wien, wider den Antragsgegner Dr. E*, wegen Rückführung der Minderjährigen O*, geboren am * 2014, nach dem Haager Kindesentführungs-
übereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 3. Februar 2022, GZ 21 R 14/22p-56, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] 1. Die Antragstellerin und Mutter zeigt in ihrem Revisionsrekurs gegen die Bestätigung der Abweisung ihres Antrags, das Kind nach Spanien rückzuführen, durch das Rekursgericht keine Rechtsfrage der von § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Qualität auf. Wie dieses schon zutreffend ausführte, ist nach ständiger, die Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) berücksichtigender Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs unter einem gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes iSd Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen (RS0126369). Die in hohem Maße von den Umständen des Einzelfalls abhängige Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts stellt regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG dar (RS0126369 [T9]).
[2] 2. Wenn das Rekursgericht ausgehend von der mehrmonatigen Aufenthaltsdauer des Kindes in Italien, wo es gemeinsam mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten lebte, und dort auch sein erstes Schuljahr (2020/2021) absolvierte, sowie dem Umstand, dass es sich binnen kurzer Zeit in der neuen Schule zurechtgefunden und zu einzelnen Mitschülerinnen engere Freundschaften geknüpft hatte, die Auffassung vertrat, es habe das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Italien gehabt, so überschreitet diese Beurteilung den dem Rekursgericht eingeräumten Beurteilungsspielraum nicht.
[3] 3. Daran vermag die Kritik der Mutter, es sei trotz ihres Vorbringens nicht festgestellt worden, dass sie bloß vorübergehend und nur wegen der Coronapandemie nach Italien gezogen sei, ab 6. 9. 2021 wieder in Spanien berufstätig hätte sein und das Kind dort in die Schule hätte gehen sollen, nichts zu ändern. Sie hält zwar einerseits daran fest, dass der (letzte) gewöhnliche Aufenthalt des Kindes vor der Verbringung – trotz der festgestellten Aufenthalte in Ungarn (von Februar bis Juni 2020) und in Italien (ab November 2020 bis Juni 2021) – in Spanien gelegen sei. Andererseits räumt sie aber selbst ein, dass der gewöhnliche Aufenthalt nach faktischen Gesichtspunkten zu ermitteln ist und sich eine (beabsichtigte) Befristung eines Aufenthalts (bloß) dahin auswirken könne, dass die Integration nicht so schnell eintritt wie bei einem Aufenthalt, der von vornherein auf Dauer angelegt war. Damit kann aber auch eine (gleich aufgrund welcher Motivation) von der Mutter von vornherein vorgesehene Befristung des Auslandsaufenthalts (in Italien) für sich genommen nicht verhindern, dass ihr siebenjähriges Kind nach längerer Aufenthaltszeit in der neuen Heimat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im zuvor dargelegten Sinn faktisch erlangt hat (s Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht Art 3 HKÜ Rz 21; vgl auch Weber, Der gewöhnliche Aufenthalt in der Rechtsprechung von EuGH und OGH, EF-Z 2019, 196 ff [198] zur bloßen Indizfunktion einer Absicht). Im vorliegenden Fall fielen der schulische und der familiäre Lebensmittelpunkt des Kindes nicht auseinander. Zudem ist das erste Schuljahr ein wesentlicher Entwicklungsschritt, mit dem typischerweise ein Sich-Zurechtfinden-Müssen in neuen Strukturen und das Kennenlernen von Lehrern und neuen Mitschülern verbunden ist. Ein – von der Mutter behauptetes – Aufrechtbleiben der familiären und sonstigen Beziehungen des Kindes (mit seinen bisherigen Freunden aus dem Kindergarten) lässt sich demgegenüber aus den Feststellungen nicht ableiten.
[4] Es kann also – entgegen der Argumentation der Mutter, weil sie (die Mutter) aus Spanien stamme und nur vorübergehend in Italien gewesen sei – nicht zugrundegelegt werden, die Rückführung nach Italien würde nicht zu einer solchen „in die gewohnte Umgebung“ führen, kommt es doch auf die gewohnte Umgebung des Kindes an.
[5] 4. Das HKÜ bezweckt die schnellstmögliche Rückführung des Kindes in den Staat, in dem es vor der Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Nademleinsky aaO Art 12 HKÜ Rz 23; vgl zur Sicherstellung der Sorgerechtsentscheidung am früheren gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes 2 Ob 103/09z; s auch 6 Ob 204/21z mwN). Die Rückführung des Kindes nach Italien oder an die Antragstellerin anzuordnen hat die Mutter im erstinstanzlichen Verfahren (wie auch im Rekursverfahren) nicht beantragt. Eine Änderung ihres Antrags (auf Rückführung nach Spanien) ist im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof nicht mehr möglich (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 11 Rz 78; Schneider in Schneider/Verweijen, AußStrG § 11 Rz 47).
[6] 5. Darauf, dass nach ihrem erstmaligen Vorbringen im Revisionsrekurs die von ihr „bislang“ bewohnte Liegenschaft in Italien am 25. 2. 2022 verkauft worden und sie (nun) wieder dauerhaft nach Spanien umgezogen sein soll, ist nicht einzugehen.
[7] Auch im Außerstreitverfahren gilt in dritter Instanz das Neuerungsverbot (RS0119918); der Entscheidung sind die Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz zugrunde zu legen (RS0006928). Ungeachtet des Neuerungsverbots ist der Maxime des Kindeswohls im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren zwar dadurch zu entsprechen, dass neue Tatsachen auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0122192; vgl RS0048056). Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände (RS0048056 [T7]), nicht aber auf Umstände, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären wären (s 6 Ob 204/21z mwN). Die von der Mutter behaupteten neuen Tatsachen sind weder unstrittig noch aktenkundig.
Textnummer
E134216European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0060OB00047.22P.0318.000Im RIS seit
24.04.2022Zuletzt aktualisiert am
24.04.2022