TE OGH 2022/3/23 12Os92/21b

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Veröffentlicht am 23.03.2022
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Der Oberste Gerichtshof hat am 23. März 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher LL.M., Dr. Schwab und Prof. Dr. Lässig, die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl, Hon.-Prof. Dr. Oshidari, Dr. Michel-Kwapinski, Dr. Brenner und Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Wagner in der Strafsache gegen * S* und andere wegen des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB, AZ 16 St 138/20y der Staatsanwaltschaft Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 27. Oktober 2020, AZ 21 Bl 172/20g, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Erster Generalanwalt Mag. Bauer, sowie des Privatbeteiligtenvertreters Dr. Rössner LL.M. zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 27. Oktober 2020, AZ 21 Bl 172/20g (ON 16), verletzt das Gesetz in § 91 Abs 2 StPO.

Text

Gründe:

[1]       Bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck langte am 18. Juni 2020 zu AZ 16 St 138/20y eine gegen mehrere Personen gerichtete Sachverhaltsdarstellung der S* LLC ein, in der um „Überprüfung [des Anzeigesachverhalts] hinsichtlich eines strafrechtlich relevanten Tatbestands (etwa auf Grundlage des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes bzw wegen §§ 146, 147, 156, 158, 159 StGB)“ ersucht wurde.

[2]       Die Staatsanwaltschaft verfügte daraufhin, die Akten AZ * Cg 68/* und AZ * Cg 77/* des Landesgerichts Innsbruck sowie in der Sachverhaltsdarstellung angeführte – offenbar zunächst aufgrund eines Versehens beim Landesgericht Innsbruck eingelangte und dann von diesem an die Staatsanwaltschaft weitergeleitete (vgl Eingangsstampiglie auf Beilage ./A [in Mappe „Beilagen zu ON 2“]; ON 2a; ON 3) – Beilagen „einzuholen“ (ON 1 S 1). In der Folge wurde der Akt AZ * Cg 68/* im Original an die Staatsanwaltschaft übermittelt, der Akt AZ * Cg 77/* hingegen aus der Verfahrensautomation Justiz (VJ) ausgedruckt (ON 5).

[3]       Nach Einsichtnahme in die zivilgerichtlichen Akten – und ohne weitere Schritte zur Aufklärung des Tatverdachts zu setzen – verfügte die Staatsanwaltschaft am 29. Juni 2020 die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen * S*, * O*, * W*, * U* und * D* jeweils wegen des Verdachts nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB gemäß § 190 Z 2 StPO, weil (zusammengefasst) ein „Betrugsvorsatz“ nicht erweislich sei (vgl ON 7; ON 10 S 14), und verständigte hievon gemäß § 194 Abs 1 StPO den Opfervertreter (ON 1 S 3).

[4]       Nach antragsgemäßer Übermittlung einer Einstellungsbegründung (§ 194 Abs 2 zweiter Satz StPO; ON 7) brachte die S* LLC einen Fortführungsantrag ein (ON 9), den die Staatsanwaltschaft mit einer Stellungnahme (ON 10) an das Gericht weiterleitete (§ 195 Abs 3 zweiter Satz StPO; ON 1 S 7).

[5]       Mit Beschluss vom 27. Oktober 2020, AZ 21 Bl 172/20g (ON 16), wies das Landesgericht Innsbruck den Fortführungsantrag als unzulässig zurück.

[6]       Begründend führte das Landesgericht aus, fallbezogen habe die Staatsanwaltschaft die Sachverhaltsdarstellung nicht zum Anlass für Ermittlungen genommen, sondern lediglich von der Anzeigerin jene Beilagen, welche diese laut Punkt 7. ihrer Sachverhaltsdarstellung „vorgelegt“ habe, erbeten. Dies stelle eine bloße Erkundigung zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliege, dar. In der Einholung der gerichtlichen Akten liege hinwieder (bloß) eine Nutzung behördeninterner Informationsquellen iSd § 91 Abs 2 letzter Satz StPO. Solcherart beziehe sich der Fortführungsantrag auf ein gar nicht in Gang gekommenes Ermittlungsverfahren und sei daher als unzulässig zurückzuweisen (BS 6 f).

Rechtliche Beurteilung

[7]       Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 27. Oktober 2020, AZ 21 Bl 172/20g, aufgrund der – in seiner Begründung vertretenen und zur Antragszurückweisung führenden – Rechtsansicht, wonach die Staatsanwaltschaft „dadurch, dass sie gerichtliche Akten einholte, schlicht behördeninterne Informationsquellen iSd § 91 Abs 2 letzter Satz StPO benutzt“ hat (BS 6 f) – bezogen auf die Beischaffung des Aktes AZ * Cg 68/* des Landesgerichts Innsbruck (BS 2) – mit § 91 Abs 2 StPO nicht im Einklang.

[8]       Gemäß § 1 Abs 2 erster Satz StPO beginnt das Strafverfahren, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts ermitteln. Ein Anfangsverdacht (§ 1 Abs 3 StPO) liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen, demnach ein Verhalten gesetzt worden ist, das Gegenstand eines Ausspruchs gemäß § 260 Abs 1 Z 2 StPO sein kann, das also tatbestandsmäßig, rechtswidrig und (von § 21 Abs 1 StGB abgesehen) schuldhaft ist und auch den zusätzlichen Voraussetzungen (wie insbesondere dem Fehlen von Strafausschließungsgründen) genügt (17 Os 3/18x; vgl auch Ratz in WK² StGB Vor §§ 28–31 Rz 1). Liegen keine Anhaltspunkte vor, die annehmen lassen, dass eine Straftat begangen wurde, sieht das Gesetz Ermittlungen im Sinn des § 91 Abs 2 erster und zweiter Satz StPO – demnach Tätigkeiten, die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat dienen und in Form von Erkundigungen (§§ 151 f StPO) oder Beweisaufnahmen (gemäß dem 8. Hauptstück der StPO) erfolgen – überhaupt nicht vor. In einem solchen Fall hat die Staatsanwaltschaft vielmehr – mangels Anfangsverdachts – von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen und den Anzeiger hievon mit dem Hinweis in Kenntnis zu setzen, dass ein Antrag auf Fortführung gemäß § 195 StPO nicht zusteht (§ 35c StAG).

[9]       Bestehen auf Basis einer Anzeige insofern jedoch Zweifel, ermöglicht § 91 Abs 2 letzter Satz StPO zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, die Nutzung von allgemein zugänglichen oder behördeninternen Informationsquellen und Erkundigungen. Sobald aber Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) ermitteln, beginnt das Strafverfahren (Vogl, WK-StPO § 91 Rz 9 f; vgl auch Markel, WK-StPO § 1 Rz 26).

[10]     Eine „Erkundigung“ ist definitionsgemäß nur das Verlangen von freiwilliger Auskunft und das Entgegennehmen einer Mitteilung von einer Person (§ 151 Z 1 StPO; zur Abgrenzung einer Erkundigung von einer Vernehmung vgl Kirchbacher/Keglevic, WK-StPO § 151 Rz 1 ff). Bei der bloßen Nutzung von Informationsquellen unterscheidet das Gesetz zwischen allgemein (also jedermann) zugänglichen Informationsquellen (wie etwa Internet, Telefonbuch, Grundbuch, Firmenbuch und andere öffentlich zugängliche Register; vgl Erlass des BMJ vom 12. Dezember 2014, BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014, S 6 f; Vogl, WK-StPO § 91 Rz 11/1) und „behördeninternen“ Informationsquellen.

[11]     Ausschließlich das Tätigwerden der Kriminalpolizei oder der Staatsanwaltschaft in bestimmter Weise ist also für den Beginn des Strafverfahrens entscheidend (vgl Ratz, WK-StPO Vor §§ 280–296a Rz 8/4; Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren, ÖJZ 2020, 353 [356], der betont, dass bei Informationsbeschaffung, die über das nach § 91 Abs 2 letzter Satz StPO Zulässige hinausgeht, unwiderlegbar die Annahme [zumindest] eines Anfangsverdachts durch Kriminalpolizei oder auch Staatsanwaltschaft, somit ein nach § 1 Abs 2 StPO geführtes Ermittlungsverfahren vorliegt).

[12]     Durch § 91 Abs 2 letzter Satz StPO soll – wie die Gesetzesmaterialien hervorheben – die Führung eines Strafverfahrens bei leicht durchführbarem Ausschluss eines Anfangsverdachts vermieden werden (ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 3). Zweck des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO ist insbesondere der Schutz einer angezeigten Person davor, ohne Anlass Objekt eines Strafverfahrens zu werden, Schutz vor öffentlicher Brandmarkung, obwohl gar kein konkreter Tatverdacht vorliegt (ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 2; 15 Os 20/19h = JSt-Slg 2019/64, 562 [Birklbauer]).

[13]     Mit Blick auf die Zielsetzung des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO, bei leicht ausschließbarem Anfangsverdacht kein Strafverfahren einzuleiten, sind (nur) jene Informationsquellen als behördeninterne im Sinn dieser Bestimmung anzusehen, welche die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft durch bloße Einsichtnahme ohne Inanspruchnahme Dritter nutzen kann und darf (12 Os 23/20d = EvBl 2020/150 [Ratz]; vgl auch 15 Os 20/19h = JSt-Slg 2019/64, 562 [Birklbauer], wonach solche Informationsquellen „jedenfalls“ als behördeninterne im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO anzusehen sind; diesem Verständnis folgend Erlass des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz vom 26. August 2019, BMVRDJ-S578.028/0005-IV 3/2019, S 8; zustimmend Reindl-Krauskopf, Das reformierte strafprozessuale Ermittlungsverfahren, ÖJZ 2020, 593 [596 f]; vgl auch Stricker, Aktuelle Probleme im Strafprozess, in Schriftenreihe des BMVRDJ, Band 165, 5 [12], der die Abfrage des Strafregisters durch die Staatsanwaltschaft für zulässig hält; vgl jedoch Haslinger/McAllister in LiK-StPO § 91 Rz 13; Nimmervoll, Strafverfahren2 Kap I Rz 209, nach denen nur Einsichtnahmen in Informationsquellen der eigenen Behörde [Dienststelle] § 91 Abs 2 letzter Satz StPO zu unterstellen sind).

[14]     Demgegenüber sind nach 14 Os 21/19y (EvBl 2019/116, 779 [Ratz] = JSt-Slg 2019/51, 458 [krit Birklbauer]) und 14 Os 29/20a (EvBl 2020/142, 991) alle Aufzeichnungen oder Speicherungen von Informationen, die bereits Gegenstand der Datenverarbeitung irgendeiner Behörde waren, Informationsquellen im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO (RIS-Justiz RS0132639; in diesem Sinn auch Fuchs, Beginn des Strafverfahrens und Beschuldigtenstellung, in Lewisch/Nordmeyer [Hrsg], Liber Amicorum Eckart Ratz, 31 [38]).

[15]           Gegen dieses Begriffsverständnis spricht – neben dem bereits erläuterten Gesetzeszweck – schon der vom Gesetzgeber gewählte semantisch engere Wortlaut „behördeninterne Informationsquellen“ anstelle einer allgemeineren Formulierung wie etwa „Informationsquellen einer Behörde“ (Sadoghi, Anfangsverdachtsermittlung, ÖJZ 2021/49, 363 [369]).

[16]     Demgemäß ist die Beischaffung eines Gerichtsaktes durch die Staatsanwaltschaft zur Einsichtnahme – anders als die Einsichtnahme in die (gesamte) VJ oder die Abfrage des Strafregisters – nicht mehr als Nutzung einer behördeninternen Informationsquelle im Sinn dieser Bestimmung anzusehen (12 Os 23/20d, EvBl 2020/150, 1033 = RIS-Justiz RS0133399; jeweils zustimmend Divjak, Nutzung behördeninterner Informationsquellen und Amtshilfe, JBl 2021, 339; Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 12 § 1 Rz 7; Sadoghi, Anfangsverdachtsermittlung, ÖJZ 2021/49, 363; vgl auch Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.4 f).

[17]     Die aufgezeigte Gesetzesverletzung wirkt nicht zum Nachteil der Angezeigten, sodass es mit ihrer Feststellung sein Bewenden haben kann (§ 292 fünfter und sechster Satz StPO).

Textnummer

E134505

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0120OS00092.21B.0323.000

Im RIS seit

22.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

22.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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