TE Lvwg Erkenntnis 2022/1/21 LVwG-AV-2102/001-2021

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Veröffentlicht am 21.01.2022
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Entscheidungsdatum

21.01.2022

Norm

BAO §308

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich erkennt durch Hofrat Mag. Röper als Einzelrichter über die Beschwerde von A, B und C, alle vertreten durch D Rechtsanwälte, ***, ***, vom 16. November 2021 gegen den Bescheid des Verbandsvorstandes Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** vom 14. Oktober 2021, ohne Zahl, mit dem die Berufung der Beschwerdeführer gegen den Bescheid des Verbandsobmannes des Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** vom 20. Juli 2021, ohne Zahl, mit dem drei Anträge der Beschwerdeführer auf Wiedereinsetzung abgewiesen worden waren, abgewiesen worden ist, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

1.   Die Beschwerde wird gemäß § 279 Bundesabgabenordnung (BAO) als unbegründet abgewiesen.

2.   Eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B VG) ist nicht zulässig.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

1.       Sachverhalt:

1.1. Verwaltungsbehördliches Verfahren:

1.1.1.

Mit Abgabenbescheiden des Verbandsobmannes des Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** vom 26. Mai 2021 wurden A, B und C (in der Folge: Beschwerdeführer) für die in ihrem Eigentum befindliche Liegenschaft mit der topographischen Anschrift ***, ***, diverse Abgaben (Kanalbenützungsgebühr ab 1. Oktober 2015, Ergänzungsabgabe zur Kanaleinmündungsabgabe und Ergänzungsabgabe zur Wasseranschlußabgabe) vorgeschrieben. Diese Bescheide wurden nachweislich am 4. Juni 2021 zugestellt.

1.1.2.

Durch eine Mitarbeiterin der rechtlichen Vertretung der Beschwerdeführer sollten am 5. Juli 2021 vor 19:00 Uhr die Berufung gegen die vorgenannten drei Abgabenbescheide beim Postamt *** in *** aufgegeben werden, da das üblicherweise benutzte Postamt in der *** bereits geschlossen hatte. Nach (eidesstattlicher) Aussage der Mitarbeiterin hat sie die üblicherweise verwendete Tasche, in der sich rund 5 bis 10 eingeschriebene Schriftstücke und etwa 30 weitere normal zu versendende Kuverts befunden hätten, auf dem Rücksitz ihres PKWs abgestellt. Infolge eines – unverschuldeten - abrupten Bremsmanövers sei die Tasche nach vorne gekippt und wären die Kuverts unter den Beifahrersitz gerutscht. Sie habe zwar alle Kuverts eingesammelt, aber offenbar das Kuvert mit der Berufung gegen die Abgabenbescheide übersehen.

Erst am 7. Juli 2021 sei ihr aufgefallen, dass der Einschreibzettel für den gegenständlichen Berufungsschriftsatz gefehlt habe, zumal sie am 6. Juli 2021 nicht in der Kanzlei gewesen sei.

1.1.3.

Mit Schreiben vom 12. Juli 2021 stellten die Beschwerdeführer durch ihre ausgewiesene Vertretung hinsichtlich der drei genannten Abgabenbescheide einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 308 BAO und begründeten diesen damit, dass diese Bescheide am Freitag, dem 4. Juni 2021, zugestellt worden wären. Aufgrund eines Versehens sei der Berufungsschriftsatz jedoch nicht am 5. Juli 2021 zur Post gegeben worden. Der zuständige Rechtsanwalt habe jene Mitarbeiterin der Kanzlei, deren Aufgabe es am 5. Juli 2021 gewesen sei, die an diesem Tag eingeschrieben zu versendenden Kanzleischriftstücke zur Post zu geben, ausdrücklich angewiesen, dass der genannte Schriftsatz unbedingt am
5. Juli 2021 zur Post gegeben werden müsse, da die Berufungsfrist an diesem Tag ablaufe. Die Einschreibzettel seien jeweils mittels einer Büroklammer an das zur Post zu gebende Kuvert angeheftet, so auch bei diesem Schriftsatz. Am 5. Juli 2021 sei eine Vielzahl von Kanzleischriftstücken zum Postamt zum Zwecke der Postaufgabe zu transportieren gewesen. Alle Schriftstücke hätten sich in der großen Handtasche der Mitarbeiterin befunden. Während der Autofahrt zum Postamt hätte die Mitarbeiterin ein abruptes Bremsmanöver durchführen müssen, um eine Kollision mit einem unvorsichtigen Radfahrer zu vermeiden. In Zuge dessen sei die Aktentasche, welche sie am Rücksitz ihres Autos mitgeführt habe, umgefallen, wobei mehrere vorbereitete Postsendungen und sonstige Inhalte herausgefallen wären. Die Mitarbeiterin habe die Postsendungen wieder eingesammelt, jedoch sei, wie sie später herausgefunden hätte, das Kuvert mit dem maßgeblichen Schriftsatz mitsamt dem Einschreibzettel so unter den Beifahrersitz gerutscht, dass es ihr nicht aufgefallen wäre. Auch auf dem Postamt, wo reger Betrieb geherrscht habe, hätte die Mitarbeiterin - möglicherweise abgelenkt und noch immer aufgewühlt - während der Aufgabe der anderen Poststücke nicht mehr an den gegenständlichen fristgebundenen Schriftsatz gedacht und sei der Meinung gewesen, alles ordnungsgemäß erledigt zu haben. Erst am 7. Juli 2021 sei ihr auf Grund einer Nachfrage des zuständigen Rechtsanwaltes nach dem Einschreibzettel aufgefallen, dass dieser fehle. Sie habe sich an den Vorfall am 5. Juli 2021 erinnert und nochmals genaue Nachschau in ihrem PKW gehalten, wo sie das Kuvert, in dem sich der gegenständliche Schriftsatz befand, und den Einschreibzettel vorgefunden habe. Die Mitarbeiterin sei seit der Gründung der E Rechtsanwälte GmbH im Jahr 2002 bei dieser als Kanzleileiterin tätig. Ein Versehen bei der Postaufgabe wie das in Rede stehende sei in ihrer gesamten Dienstzeit noch nicht vorgekommen. Dessen ungeachtet werde ihre Tätigkeit von den Partnern der E Rechtsanwälte GmbH kontrolliert. Lediglich die Postaufgabe von Schriftstücken werde von ihr ohne nochmalige Kontrolle durch einen Rechtsanwalt abgewickelt. Diesbezüglich ist eine eidesstattliche Erklärung der Mitarbeiterin angefügt, die folgenden Wortlaut aufweist:

„Ich, F, geb. am ***, erkläre Folgendes an Eides statt:

Ich bin seit Gründung der E Rechtsanwälte GmbH im Jahr 2002 als deren Kanzleileiterin tätig. Zu meinen Aufgaben gehören administrative Tätigkeiten, die ich unter Aufsicht der Partner ausübe.

Unter anderem war es am 5.7.2021 meine Aufgabe, Kanzleischriftstücke zur Post zu bringen. Darunter war auch ein Schriftsatz an den Gemeindeverband für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk ***. Diese Aufgabe übernehme vor allem dann ich, wenn die Post am Monatsanfang aufgrund der Honorarnoten besonders umfangreich ist oder wenn sie erst nach Dienstschluss der übrigen Mitarbeiterinnen des Sekretariats fertig wird. Am erwähnten Tag traf beides zu.

RA G hat mich ausdrücklich angewiesen, dass der Schriftsatz an den Gemeindeverband für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** unbedingt am 5.7.2021 zur Post gegeben werden müsse, da die Berufungsfrist an diesem Tag ablaufe. Die Einschreibzettel sind jeweils mittels einer Büroklammer an das zur Post zu gebende Kuvert angeheftet, so auch bei diesem Schriftsatz.

Am 5.7.2021 war eine Vielzahl von Kanzleischriftstücken zur Post zu bringen, darunter auch mehrere Einschreibbriefe. Alle Schriftstücke befanden sich in einer großen Handtasche. Den Weg wollte ich mit dem Auto erledigen, um anschließend nach Hause fahren zu können (als Kanzleileiterin habe ich sehr unregelmäßige, häufig bis weit in den Abend reichende Arbeitszeiten, weshalb ich oft mit dem Auto zur Kanzlei fahre).

Während der Fahrt zur Post musste ich ein abruptes Bremsmanöver durchführen, um eine Kollision mit einem unvorsichtigen Radfahrer zu vermeiden, worüber ich sehr erschrak. Im Zuge dieses Bremsmanövers fiel die Tasche, welche ich am Rücksitz meines Autos mitführte, um. Es fielen mehrere vorbereitete Postsendungen und sonstige Inhalte heraus. Ich sammelte die Postsendungen wieder ein. Wie ich später herausfand, war aber jenes Kuvert, in dem sich der Schriftsatz an den Gemeindeverband für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** mitsamt dem Einschreibzetfel befand, so unter den Beifahrersitz gerutscht, dass es mir nicht auffiel.

Auch in der Postfiliale, wo reger Betrieb herrschte, habe ich – möglicherweise abgelenkt und noch immer aufgewühlt durch den Beinahe-Unfall - während der Aufgabe der anderen Poststücke nicht mehr an den gegenständlichen fristgebundenen Schriftsatz gedacht. Ich war der Meinung, alles ordnungsgemäß erledigt zu haben.

Erst heute fiel mir auf Grund einer Nachfrage von RA G nach dem Einschreibzettel auf, dass dieser fehlt. Ich erinnerte mich an den Vorfall am 5.7.2021 und hielt nochmals genaue Nachschau in meinem Auto, wo ich das Kuvert, in dem sich der gegenständliche Schriftsatz befand, und den Einschreibzettel vorfand.

Ein derartiges Missgeschick bei der Aufgabe eines Poststücks ist mir in meiner gesamten Tätigkeit in dieser Kanzlei noch nicht unterlaufen.“

In rechtlicher Hinsicht sei davon auszugehen, dass die Bescheide des Verbandsobmannes des Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** vom 26. Mai 2021 der Rechtsvertretung der Beschwerdeführer zuzustellen gewesen wären, die seit der Verhandlung am
10. März 2021 amtsbekannt gewesen sei. Die Beschwerdeführer müssten sich zwar ein Versehen, das ihrer Rechtsvertretung unterlaufen sei, zurechnen lassen, es sei jedoch dann ein bloß minderer Grad des Versehens gegeben, wenn sich der einschreitende Rechtsanwalt bei einfachen Hilfstätigkeiten auf verlässliche, entsprechend geschulte Kanzleikräfte verlässt. So könne sich ein Parteienvertreter mit einem ordnungsmäßigen Kanzleibetrieb im Allgemeinen, solange er nicht durch Fälle von Unzuverlässigkeit zu persönlicher Aufsicht und zu Kontrollmaßnahmen genötigt werde, darauf verlassen, dass sein Kanzleipersonal eine ihm aufgetragene Weisung auch befolgt. Daher müsse er eine ausdrücklich angeordnete Postaufgabe nicht auf ihr tatsächliches Stattfinden kontrollieren. Demgemäß werte es der Verwaltungsgerichtshof auch nicht als ein über einen minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden der Partei bzw. ihres Vertreters, wenn die ausdrücklich angewiesene Angestellte das Schriftstück erst am nächsten Tag beim Postamt ihres Wohnsitzes aufgegeben hat oder Schriftstücke versehentlich in der „Posttasche“ liegen geblieben sind. Im vorliegenden Fall sei das „Hindernis“, das sich aus dem Versehen der Mitarbeiterin ergeben habe, am 7. Juli 2021 weggefallen. Bei der versäumten Prozesshandlung handle es sich um die Einbringung der Berufung gegen die Bescheide des Verbandsobmannes des Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** vom 26. Mai 2021. Dieser Schriftsatz werde anbei vorgelegt.

1.1.4.

Mit Bescheid des Verbandsobmannes Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** vom 22. Juli 2021, ohne Zahl, wurden der Antrag der Beschwerdeführer auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen und begründend nach Wiedergabe des bisherigen Verwaltungsgeschehens und der als maßgeblich erachteten Rechtsvorschriften im Wesentlichen ausgeführt, dass die gegenständlichen Bescheide als Abgabepflichtigen die Privatpersonen A, B und C aufwiesen. Dem Gemeindeverband *** sei bis zum Einlagen des vorliegenden Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keine Vollmacht vorgelegen, dass die Kanzlei E Rechtsanwälte GmbH die rechtliche Vertretung der oben genannten Privatpersonen wahrnehme. Auch aus dem bis dahin geführten Schriftverkehr sei eine

Vertretungsbefugnis nicht zu entnehmen. Daher sei die Zustellung ordnungsgemäß an Herrn A, stellvertretend für alle Abgabepflichtigen erfolgt. Das Versehen einer Kanzleibediensteten stelle für den Rechtsanwalt und damit für die von ihm vertretene Partei dann ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis im Sinne des § 308 Abs. 1 BAO dar, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber dem Kanzleibediensteten nachgekommen ist. Der bevollmächtigte Rechtsanwalt müsse die Organisation seines Kanzleibetriebes so einrichten, dass die fristgerechte Setzung einer Handlung - Einbringung einer Berufung - sichergestellt wird. Dabei wird durch entsprechende Kontrollen unter anderem dafür vorzusorgen sein, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Vorsicht nach auszuschließen sind. Gerade bei Rechtsanwälten müsse ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab vorausgesetzt werden können. Bei einem entsprechenden Kontrollsystem für die Aufgabe von fristgebundenen Schriftstücken hätte der Kanzleimitarbeiterin auffallen müssen, dass das gegenständliche Schriftstück nicht am 5. Juli 2021 bei der Postfiliale eingeschrieben wurde. Zum Beispiel hätte mit einer von der Kanzlei zur Verfügung gestellten Postaufgabeliste die Kanzleimitarbeiterin direkt im Postamt bemerken müssen, dass nicht alle eingeschriebenen Schriftstücke vorhanden waren. Das Versehen der Kanzleimitarbeitern hätte verhindert werden können, wenn der Parteienvertreter ein entsprechendes Kontrollsystem für die Aufgabe von fristgebundenen Schriftstücken hätte. Da laut eidesstattlicher Erklärung das Nichtaufgeben des Schriftstückes aufgrund eines mangelhaften Kontrollsystems unbemerkt geblieben sei, gehe dies über einen minderen Grad des Versehens hinaus. Im Übrigen sei bei einem funktionierenden Kontrollsystem die Einbringung einer Berufung so zeitgerecht vorzunehmen, dass möglich auftretende Fehler oder Versäumnisse nicht zu einer Fristversäumung führen und somit zum Schaden eines Mandanten. Komme der Rechtsanwalt einer solchen Aufsichts- oder Kontrollpflicht nicht nach, so handle es sich nicht um einen minderen Grad des Versehens. Ein Rechtsanwalt verstoße auch dann gegen seine Sorgfaltspflicht, wenn er weder im Allgemeinen noch im Besonderen Kontrollsysteme vorgesehen hat, die im Falle des Versagens eines Mitarbeiters Fristversäumung auszuschließen geeignet sind.

1.1.5.

Mit Schreiben vom 19. August 2021 erhoben Beschwerdeführer durch ihre ausgewiesene Vertretung gegen diesen Bescheid der Rechtsmittel der Berufung und führten zunächst aus, dass der Firmenwortlaut der ausgewiesenen Rechtsvertretung auf „D Rechtsanwälte GmbH" geändert worden sei. In inhaltlicher Hinsicht wird im Wesentlichen ausgeführt, dass sich aus § 308 BAO zweiten Satz deutlich das gesetzgeberische Anliegen entnehmen lasse, den Rechtsschutz nicht aus formellen Gründen an Ereignissen scheitern zu lassen, die nach statistischer Wahrscheinlichkeit menschlichen Fehlerkalküls im Drange der Geschäfte auch eines ordnungsgemäßen Kanzleibetriebes eines berufsmäßigen Parteienvertreters fallweise vorkommen könnten und verstehbar seien. Dies gelte etwa bei Kuvertierungspannen und Postaufgabepannen durch verlässliche und im vernünftigen Rahmen überwachte Mitarbeiter berufsmäßiger Parteienvertreter. Demgemäß könne der Rechtsvertreter rein mechanische Vorgänge, wie etwa das Kuvertieren oder die Postaufgabe, der alleinigen Erledigung der Kanzlei überlassen. Der VwGH schränkt freilich ein, dass ein Kontrollsystem bestehen müsse, um Fehler durch zuverlässige Angestellte im rein manipulativen Bereiche zu verhindern. Der Gerichtshof verlange jedoch ausdrücklich nicht, dass der Rechtsvertreter eine erfahrene und zuverlässige Kanzleikraft dahingehend überprüft, ob sie eine ihr aufgetragene manipulative Tätigkeit dieser Art tatsächlich durchführt. Der Rechtsanwalt komme daher seiner Kontrollpflicht etwa auch dadurch nach, dass er - wie im vorliegenden Fall erfolgt - der Kanzleiangestellten ausdrücklich die Wichtigkeit der Postaufgabe eines Schriftstücks am selben Tag eingeschärft. Das Führen einer Postaufgabeliste, deren Fehlen im angefochtenen Bescheid beanstandet wird, verlangt der VwGH nicht. Vom Fehlen eines Kontrollsystems im Betrieb der einschreitenden Rechtsvertretung könne keine Rede sein, da die Kanzleimitarbeiterinnen stets ausdrücklich an die Schriftstücke, die zur Post zu geben sind, erinnert würden, dies anhand der vom zuständigen Rechtsanwalt selbst geführten Fristvormerke. Fristgebundene Schriftstücke würden im Übrigen immer eingeschrieben zur Post gegeben und seien für die damit beauftragte Mitarbeiterin auf den ersten Blick als solche erkennbar, da der Aufgabeschein am Kuvert angebracht werde. Die Rechtsvertreterin habe daher sehr wohl davon ausgehen dürfen, dass die von ihr getroffenen Maßnahmen in Summe bewirken, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind. Vor diesem Hintergrund stelle das ausdrückliche Erinnern daran, dass ein Schriftstück zur Post gegeben werden muss, in der ex-ante-Betrachtung ein geeignetes Kontrollmittel dar.

1.1.6.

Mit dem nunmehr in Beschwerde gezogenen Bescheid des Verbandsvorstandes des Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** vom 14. Oktober 2021, ohne Zahl, wurde die Berufung der Beschwerdeführer als unbegründet abgewiesen. Begründend wird nach Wiedergabe des bisherigen Verwaltungsgeschehens und der als maßgeblich erachteten Rechtsvorschriften ausgeführt, dass die Schilderung der Ereignisse, welche sich am 5. Juli 2021 (dem letzten Tag zur fristgerechten Einbringung des Rechtsmittels) zugetragen haben (sollen), keiner näheren Überprüfung unterzogen werden können.

Grundlage sei ausschließlich eine, von der Kanzleikraft eigenhändig unterschiebene, eidesstattliche Erklärung vom 7. Juli 2021. Andere Beweismittel, wie etwa Zeugenaussagen eines Mitfahrers oder anderer, am Geschehen beteiligter, Personen seien nicht vorgelegt worden. Ein minderer Grad des Versehens sei leichter Fahrlässigkeit nach § 1332 ABGB gleichzusetzen. Leichte Fahrlässigkeit liege vor, wenn ein Fehler unterläuft, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch begeht. Keine leichte Fahrlässigkeit liege vor, wenn jemand auffallend sorglos handelt. Auffallend sorglos handle, wer die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und nach den persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht lässt. An rechtskundige Parteienvertreter sei hierbei ein strengerer Maßstab anzulegen als an rechtsunkundige oder bisher noch nie an gerichtlichen Verfahren beteiligte Personen. Hingegen sei ein Verschulden von Kanzleiangestellten berufsmäßiger Parteienvertreter nicht schädlich. Maßgebend sei diesfalls, ob den Parteienvertreter ein (den minderen Grad des Versehens überwiegendes) Verschulden trifft. Das Verschulden eines Kanzleibediensteten stelle dann einen Wiedereinsetzungsgrund dar, wenn der Vertreter der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber dem Kanzleibediensteten nachgekommen ist. Nach der Erklärung der Kanzleimitarbeiterin sei diese über die Dringlichkeit des gegenständlichen Rechtsmittels vom Parteienvertreter in Kenntnis gesetzt worden. Auch die Tatsache, dass der 5. Juli 2021 der letzte Tag zur rechtzeitigen Einbringung des Rechtsmittels war, sei der Kanzleimitarbeiterin ausdrücklich bekannt gewesen. Weiters habe die Kanzleimitarbeiterin angegeben, dass in der Postfiliale „reger Betrieb geherrscht habe" und sie „möglicherweise abgelenkt" gewesen sei und „nicht mehr an den gegenständlichen fristgebundenen Schriftsatz gedacht" hätte. Der Kanzleimitarbeiterin sei bewusst gewesen, welche Folgen eine nicht rechtzeitige Postaufgabe des gegenständlichen Rechtsmittels zur Folge hatte. Sie hätte sich nach dem Vorfall daher vergewissern müssen, ob das gegenständliche Rechtsmittel auch tatsächlich eingesammelt und der Post übergeben wurde. Dies sei jedoch unterlassen worden bzw. wäre auf Grund des Nichtvorhandenseins einer entsprechenden Postaufgabeliste auch gar nicht möglich gewesen. Aufgrund der persönlichen Fähigkeiten und ihrer langjährigen Tätigkeit sei daher ein enger Sorgfaltsmaßstab heranzuziehen gewesen. Es wäre erforderlich und auch zumutbar gewesen, dass die Kanzleileiterin überprüft, ob sie auch tatsächlich alle fristgebundenen Schriftstücke nach dem Vorfall wieder eingesammelt hat. Dies sei jedoch unterblieben, weshalb ein minderer Grad des Versehens im konkreten Fall nicht vorliege. Das Verschulden der Kanzleileiterin sei dem Rechtsanwalt jedoch nur dann anzulasten, wenn ein grobes Auswahlverschulden eine mangelhafte Überwachung und Kontrolle oder grobe Mängel der Kanzleiorganisation bestehen.

Laut der Erklärung der Kanzleileiterin seien am 5. Juli 2021 „eine Vielzahl" an Schriftstücken zur Post zu bringen gewesen. Darunter auch einige fristgebundene Schriftstücke, wie das gegenständliche Rechtsmittel. Es sei zwar korrekt, dass der Rechtsanwalt nicht überprüfen muss, ob ein Schriftstück nach einer entsprechenden Anweisung auch tatsächlich zur Post gebracht wurde, er habe aber für eine entsprechende Organisation seines Kanzleibetriebes Sorge zu tragen. Wenn also eine Vielzahl an Schriftstücken in einem Vorgang zur Post gebracht werden müssten, müsse der damit beauftragten Person auch die Möglichkeit eingeräumt werden, sich zu vergewissern, ob schlussendlich auch tatsächlich sämtliche ihr anvertrauten Schriftstücke der Post übergeben wurden. Diese Überprüfungsmöglichkeit muss auch bei der Postaufgabe gegeben sein. Eine Kontrolle erst am nächsten Tag könne, wie im gegenständlichen Fall, bereits dazu führen, dass ein Schriftstück nicht fristwahrend eingebracht wurde. Dies umso mehr, wenn fristgebundene Sendungen, wie konkret ein Rechtsmittel, Bestandteil eines Konvolutes von Sendungen sind.

Im konkreten Fall habe es keine Postaufgabeliste oder ähnliches gegeben. Aus diesem Grund habe die Kanzleileiterin nach dem Vorfall („Ausstreuen'" der Sendungen im Fahrzeug) nicht überprüfen können, ob das gegenständliche Rechtsmittel eingesammelt und unter den, der Post übergebenen, Sendungen enthalten war, von dem sie mit Sicherheit wusste, dass dieses noch am 5. Juli 2021 versendet werden musste. Ein derartiges Kontrollsystem (Postaufgabeliste oä.) diene im Wesentlichen der Überwachung und Kontrolle der zu erledigenden Aufgaben durch die Mitarbeiter eines Rechtsanwaltes. Dieses Verschulden der Kanzleileiterin wäre daher durch entsprechende organisatorische Maßnahmen, wie einer Liste mit sämtlichen der Post zu übergebenden Schriftstücken, vermeidbar gewesen. Allein mit dem Wissen der Anzahl der, der Post zu übergebenden, Schriftsätze und dem Vergleich mit der Zahlung für die tatsächlich übergebenen Sendungen, wäre sofort aufgefallen, dass nicht alle Schriftstücke versendet wurden. Die Kanzleileiterin hätte sofort reagieren können und im Bewusstsein des Vorfalls, nochmals im Fahrzeug Nachschau halten können. Die nicht eingesammelte Sendung wäre vorgefunden worden und hätte somit noch rechtzeitig eingebracht werden können. Das Ausstellen einer Postaufgabeliste oä. der an einem bestimmten Tag fristwahrend zu versendenden Schriftsätze, sei kein manipulativer Vorgang und falle klar in den Bereich der Kanzleiorganisation und diene gleichzeitig der Kontrolle der Kanzleikräfte. Einem berufsmäßigen Parteienvertreter sei dies jedenfalls zumutbar, um Fehler wie dem gegenständlichen hintanzuhalten und aller Voraussicht nach auszuschließen. Der Vertreter verstoße demnach auch dann gegen die ihm obliegende Sorgfaltspflicht, wenn er weder im Allgemeinen noch im Besonderen (wirksame) Kontrollsysteme vorgesehen hat, die im Fall des Versagens einer Kanzleikraft Fristversäumungen auszuschließen geeignet sind. An die Organisation und Kontrollsysteme bei berufsmäßigen Parteienvertretern sei jedenfalls ein strenger Maßstab anzuwenden. Im gegenständlichen Fall liege somit ein Verschulden einer Kanzleimitarbeiterin vor, welches auf einen groben Mangel in der Kanzleiorganisation sowie einer mangelhaften Kontrolle durch den Parteienvertreter zurückzuführen sei.

1.2. Beschwerdevorbringen:

Mit Schreiben vom 16. November 2021 erhoben die Beschwerdeführer durch ihre ausgewiesene Vertretung das Rechtsmittel der Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht und begründeten diese im Wesentlichen wie die bisherigen Schriftsätze. Letztlich habe der VwGH Fehler von Kanzleikräften bei der Postaufgabe als Wiedereinsetzungsgrund gewertet. Keiner einzigen dieser Entscheidungen könne entnommen werden, dass es nicht ausreiche, einer verlässlichen Kanzleikraft explizit die Aufgabe eines Poststücks am selben Tag aufzutragen, und dass ihr darüber hinaus eine Postaufgabeliste oder ähnliches übergeben werden müsse. Es mag zwar sein, dass eine Postaufgabeliste - ex post betrachtet - einen Beitrag zur Verhinderung des in der Rede stehenden Versehens der Mitarbeiterin geleistet hätte. Wie bereits in der Berufung ausgeführt, garantiere jedoch auch die Verwendung einer solchen Liste nicht, dass es niemals zu einer „Panne“ bei der Postaufgabe kommen kann. Entscheidend sei in Fällen unterbliebener rechtzeitiger Postaufgabe, ob der Rechtsanwalt im Zeitpunkt der Übergabe des Schriftstücks an die Kanzleikraft objektiv betrachtet das Notwendige und Zumutbare getan habe, um die rechtzeitige Aufgabe zu gewährleisten. Dies sei nach der wiedergegebenen Judikatur des VwGH im Fall des ausdrücklichen mündlichen Auftrags an eine langjährige verlässliche Mitarbeiterin zu bejahen.

1.3. Zum durchgeführten Ermittlungsverfahren:

1.3.1.

Mit Schreiben vom 30. November 2021 legte der Gemeindeverband für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich die Beschwerde und den bezughabenden Verwaltungsakt (samt Einladungskurrende und Sitzungsprotokoll der maßgeblichen Sitzung des Verbandsvorstandes) vor.


1.3.2.

Im Rahmen der für den 12. Jänner 2022 anberaumten mündlichen Verhandlung wurde von der zeugenschaftlich einvernommenen Kanzleileiterin F dargelegt, dass sie die maßgeblichen Schriftstücke damals beim Postamt *** in *** aufgegeben habe, da das übliche Postamt in der *** bereits geschlossen hatte. Sie könne nicht mehr genau erinnern, welche Tasche sie damals verwendet habe. Es dürfte eine Tasche in dieser Art verwendet worden sein, wie sie sie mitgebracht habe. Vom Verhandlungsleiter wurde daraufhin ein Lichtbild der Tasche angefertigt, welches in der Folge zum elektronischen Akt genommen wurde (Bei der Tasche handelt es sich um eine Handtasche, welche keinen Reißverschluss bzw. sonstigen Verschluss aufweist). Diese Tasche habe sie immer genommen, so auch zum Transport von Kanzleischriftstücken. Ihrer Erinnerung nach waren das 5-10 eingeschrieben aufzugebende Schriftstücke sowie ca. 30 weitere Schriftstücke (Kuverts) zur Post zu bringen. Listen über die eingeschrieben aufzugebenden Schriftstücke würden nicht geführt. Beim Postamt sei mir aufgefallen, dass viele Schriftstücke der auf dem Rücksitz positionierten Tasche in Folge des Beinahe-Unfalls unter den Beifahrersitz gerutscht sind. Sie habe dann alle Schriftstücke, die sie gesehen hätte, eingesammelt und sei dann zur Post gegangen. Bei der Post habe sie in der Folge die Einschreibzettel wieder ausgehändigt bekommen. Leider sei erst am 7. Juli 2021 aufgefallen, dass der Einschreibzettel für den gegenständlichen Berufungsschriftsatz gefehlt habe. Am 6. Juli 2021 sei sie ich nicht in der Kanzlei gewesen. G habe am 7. Juli 2021 betreffend des Einschreibzettels nachgefragt. Erst da sei ihr aufgefallen, dass dieser fehlt und habe sie dann ihr Auto nochmals durchsucht. Dort habe sie ihn unter dem Beifahrersitz gefunden. Üblicherweise würden am nächsten Tag die Aufgabescheine von den jeweils zuständigen Sekretärinnen kontrolliert. Wenn nicht diese nachfragten, wenn etwas fehlt, dann sei es üblich, dass der Anwalt nachfragt.

1.3.3.

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat Beweis aufgenommen durch Einsichtnahme in diesen Akt Gemeindeverbandes für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** sowie durch Einsichtnahme in das öffentliche Grundbuch.

1.4. Feststellungen:

1.4.1.

Die Beschwerdeführer sind seit Erhalt der Bescheide vom 16. Mai 2021 durch D Rechtsanwälte, ***, ***, vertreten. Die Bescheide wurden nachweislich am Freitag, dem 4. Juni 2021 zugestellt.

Die Rechtsmittelfrist endete am Montag, dem 5. Juli 2021.

1.4.2.

Am 5. Juli 2021 wurde die Kanzleileiterin F, eine langjährige Mitarbeiterin der Rechtsanwaltskanzlei, nach ihrer Aussage von dem für das beschwerdegegenständliche Verfahren zuständigen RA G darauf hingewiesen, dass dieses Schriftstück noch unbedingt am gleichen Tag zur Post gegeben werden müsse, da die Berufungsfrist an diesem Tag ablaufe. Die Einschreibzettel nach Aussage der Kanzleileiterin sind jeweils mittels einer Büroklammer an das zur Post zu gebende Kuvert angeheftet, so auch bei diesem Schriftsatz.

Am 5. Juli 2021 ist nach Aussage der Kanzleileiterin eine Vielzahl von Kanzleischriftstücken zur Post zu bringen gewesen, darunter auch mehrere Einschreibbriefe. Nach ihrer Erinnerung waren 5 bis 10 eingeschriebene Schriftstücke und ca. 30 weitere Schriftstücke aufzugeben. Alle Schriftstücke befanden sich in einer großen, nicht verschließbaren Handtasche:

[Abweichend vom Original – Bild nicht wiedergegeben]

„…

…“

(Quelle: Lichtbild, welches im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 12. Jänner 2022 angefertigt wurde)

Während der Fahrt zur Post hat die Kanzleileiterin nach ihrer Aussage ein abruptes Bremsmanöver durchführen müssen, um eine Kollision mit einem unvorsichtigen Radfahrer zu vermeiden. Im Zuge dieses Bremsmanövers fiel die Tasche, welche sie am Rücksitz ihres Autos mitführte, um. Es fielen mehrere vorbereitete Postsendungen und sonstige Inhalte heraus. Sie sammelte die Postsendungen wieder ein. Wie sie später herausfand, war aber jenes Kuvert, in dem sich der Schriftsatz an den Gemeindeverband für Abgabeneinhebung und Umweltschutz im Bezirk *** mitsamt dem Einschreibzettel befand, so unter den Beifahrersitz gerutscht, dass es ihr nicht auffiel.

Auch in der Postfiliale, wo reger Betrieb herrschte, hat die Kanzleileiterin während der Aufgabe der anderen Poststücke nicht mehr an den gegenständlichen fristgebundenen Schriftsatz gedacht. Sie war der Meinung, alles ordnungsgemäß erledigt zu haben.

Eine Erfassung der zu versendenden Schriftstücke durch eine Liste oder ein tatsächliches Abzählen der eingeschrieben aufzugebenden Schriftstücke ist durch die Kanzleimitarbeiterin aus eigenem nicht erfolgt.

1.4.3.

Im Rahmen der Rechtsanwaltskanzlei sind keine Vorgaben hinsichtlich der für den Transport von Schriftstücken zu verwendenden Taschen gemacht worden. Insbesondere gibt es keine Vorgaben dahingehend, dass die zu verwendenden Taschen verschließbar sein müssen bzw. während des Transports verschlossen sein müssen.

Im Rahmen der Rechtsanwaltskanzlei gibt es keine Vorgaben betreffend den postalischen Versand von Schriftstücken. Lediglich bei den als eingeschrieben zu versendenden Schriftstücken wird der Rückschein mit einer Büroklammer an dem zu versendenden Schriftstück angebracht. Es gibt keine Vorgaben dahingehend, dass bei der Versendung von einer größeren Zahl von Schriftstücken eine Liste der eingeschrieben zu versendenden Schriftstücke zu erstellen ist. Auch gibt es keine Vorgaben, dass bei einer Versendung von eingeschriebenen und nicht eingeschriebenen Schriftstücken die Anzahl der eingeschriebenen Sendungen zahlenmäßig zu erfassen und unmittelbar nach der erfolgten Aufgabe im Postamt zu vergleichen ist.

1.5. Beweiswürdigung:

Im Wesentlichen ist der Sachverhalt als unstrittig zu beurteilen und ergibt sich dieser aus dem unbedenklichen Akteninhalt in Verbindung mit dem bekämpften Bescheid, sowie aus dem Vorbringen der Rechtsvertreterin und der zeugenschaftlich einvernommenen Kanzleileiterin.

2.       Anzuwendende Rechtsvorschriften:

2.1. Bundesabgabenordnung - BAO:

§ 1. (1) Die Bestimmungen der BAO gelten in Angelegenheiten der öffentlichen Abgaben (mit Ausnahme der Verwaltungsabgaben des Bundes, der Länder und der Gemeinden) sowie der auf Grund unmittelbar wirksamer Rechtsvorschriften der Europäischen Union zu erhebenden öffentlichen Abgaben, in Angelegenheiten der Eingangs- und Ausgangsabgaben jedoch nur insoweit, als in den zollrechtlichen Vorschriften nicht anderes bestimmt ist, soweit diese Abgaben durch Abgabenbehörden des Bundes, der Länder oder der Gemeinden zu erheben sind.

§ 279. (1) Außer in den Fällen des § 278 hat das Verwaltungsgericht immer in der Sache selbst mit Erkenntnis zu entscheiden. Es ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Bescheidbeschwerde als unbegründet abzuweisen.

(2) Durch die Aufhebung des angefochtenen Bescheides tritt das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor Erlassung dieses Bescheides befunden hat.

(3) Im Verfahren betreffend Bescheide, die Erkenntnisse (Abs. 1) abändern, aufheben oder ersetzen, sind die Abgabenbehörden an die für das Erkenntnis maßgebliche, dort dargelegte Rechtsanschauung gebunden. Dies gilt auch dann, wenn das Erkenntnis einen kürzeren Zeitraum als der spätere Bescheid umfasst.

§ 308. (1) Gegen die Versäumung einer Frist (§§ 108 bis 110) oder einer mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

(3) Der Antrag auf Wiedereinsetzung muss binnen einer Frist von drei Monaten nach Aufhören des Hindernisses bei der Behörde (Abgabenbehörde oder Verwaltungsgericht), bei der die Frist wahrzunehmen war bzw. bei der die Verhandlung stattfinden sollte, eingebracht werden. Bei Versäumnis einer Beschwerdefrist (§ 245) oder einer Frist zur Stellung eines Vorlageantrages (§ 264) gilt § 249 Abs. 1 dritter Satz sinngemäß. Im Fall der Versäumung einer Frist hat der Antragsteller spätestens gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag die versäumte Handlung nachzuholen.

2.2. Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985:

§ 25a. (1) Das Verwaltungsgericht hat im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

(2) Eine Revision ist nicht zulässig gegen:

         1.       Beschlüsse gemäß § 30a Abs. 1, 3, 8 und 9;

         2.       Beschlüsse gemäß § 30b Abs. 3;

         3.       Beschlüsse gemäß § 61 Abs. 2.

(3) Gegen verfahrensleitende Beschlüsse ist eine abgesonderte Revision nicht zulässig. Sie können erst in der Revision gegen das die Rechtssache erledigende Erkenntnis angefochten werden. …

(5) Die Revision ist beim Verwaltungsgericht einzubringen.

3.       Würdigung:

3.1. Zu Spruchpunkt 1:

Die Beschwerde ist nicht begründet.

3.1.1.

Grundsätzlich ist auszuführen, dass Gegenstand des Verfahrens vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich nur die Frage ist, ob die von den Beschwerdeführern begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht von den Behörden des mitbeteiligten Gemeindeverbandes abgewiesen wurde.

3.1.2.

Die Behauptungen des Wiedereinsetzungswerbers innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist stecken den Rahmen für die Untersuchung der Frage ab, ob ein Wiedereinsetzungsgrund gegeben ist (vgl. VwGH 2005/15/0083 und VwGH 2003/17/0280, mwN; vgl. auch Ritz, BAO6, § 308 Tz 20).

Ein Ereignis ist dann "unvorhergesehen", wenn die Partei es nicht einberechnet hat und seinen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf die ihr zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte. Es ist "unabwendbar", wenn es die Partei mit den einem Durchschnittsmenschen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht verhindern konnte, auch wenn sie dessen Eintritt voraussah. Der Begriff des minderen Grades des Versehens ist als leichte Fahrlässigkeit im Sinne des § 1332 ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber darf also nicht auffallend sorglos gehandelt, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben (vgl. VwGH 2009/16/0098, sowie Ritz, BAO5, § 308 Tz 9 ff).

Der Begriff des minderen Grads des Versehens wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes als leichte Fahrlässigkeit verstanden. Der Wiedereinsetzungswerber bzw. der Vertreter darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben (vgl. etwa VwGH 99/03/0029, VwGH 2009/03/0089 und VwGH Ra 2019/15/0042).

3.1.3.

An rechtskundige Parteienvertreter ist hierbei ein strengerer Maßstab anzulegen als an am Verfahren beteiligte rechtsunkundige Parteien (vgl. VwGH 95/14/0144 und VwGH 96/14/0072). Die Einhaltung der Rechtsmittelfristen erfordert von der Partei und ihrem Vertreter größtmögliche Sorgfalt (vgl. VwGH 2002/21/0016). Dabei muss sich nach ständiger hg. Rechtsprechung der Vertretene das Verschulden seines Vertreters zurechnen lassen (vgl. VwGH 2010/15/0149).

Wer darüber hinaus einen Wiedereinsetzungsantrag auf das Verschulden einer Hilfsperson stützt, hat schon im Wiedereinsetzungsantrag durch ein substantiiertes Vorbringen darzulegen, aus welchen Gründen ihn selbst kein die Wiedereinsetzung ausschließendes Verschulden trifft, etwa dass und in welcher Weise der Wiedereinsetzungswerber die erforderliche Kontrolle ausgeübt hat (vgl. VwGH 95/08/0259 und VwGH 2010/17/0049).

Der Parteienvertreter (Rechtsanwalt), der die im Rechtsmittelschriftsatz anzuschließenden Beilagen vollständig angeführt, zur Ausfertigung vorbereitet und der Kanzleileiterin hiezu übergeben hat, verletzt seine anwaltliche Sorgfaltspflicht nicht etwa dadurch, dass er die sonst verlässliche, langjährige Kanzleikraft bei der Kuvertierung nicht persönlich überwacht. Auch kann er nicht als ein - unter dem Gesichtspunkt einer rationellen und arbeitsteiligen Besorgung abgegrenzter Aufgabenbereiche delegierender Betriebsführung - zweckmäßige und zumutbare Kontrollmaßnahme angesehen werden, dass sich der Anwalt nach der Übergabe der Poststücke an die Kanzleileiterin in jedem Fall noch von der tatsächlichen Durchführung der Expedierung der Sendung, etwa durch nochmalige Vorlage des Handaktes, überzeugt. Der Rechtsanwalt kann seiner Kontrollpflicht auch dadurch nach, dass er der Kanzleiangestellten ausdrücklich die Wichtigkeit der Postaufgabe eines Schriftstücks am selben Tag eingeschärft (vgl. VwGH 91/13/0254).

Vor diesem Hintergrund ist daher auszuführen, dass der zuständige Rechtsanwalt im vorliegenden Fall offenbar ausdrücklich die Wichtigkeit der Postaufgabe des verfahrensgegenständlichen Schriftstücks am selben Tag hervorgehoben hat und damit augenscheinlich seiner Kontrollpflicht gegenüber der Kanzleileiterin nachgekommen ist.

3.1.4.

Eine Rechtsanwaltskanzlei muss dem Mindesterfordernis einer sorgfältigen Organisation entsprechen. Dazu gehört insbesondere die Vormerkung von Fristen und die Vorsorge durch entsprechende Kontrollen, dass Unzulänglichkeiten infolge menschlichen Versagens voraussichtlich auszuschließen sind (vgl. VwGH 95/16/0307, VwGH 97/16/0037 und VwGH Ra 2019/15/0042).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann ein Rechtsanwalt rein technische Vorgänge beim Abfertigen von Schriftstücken ohne nähere Beaufsichtigung einer verlässlichen Kanzleikraft überlassen. Es ist ihm nicht zuzumuten, sich nach der Übergabe der Poststücke an die Kanzleikraft in jedem Fall noch von der tatsächlichen Durchführung der Expedierung der Sendung zu überzeugen (vgl. VwGH Zl. 2005/02/0030, mwN, und VwGH 2006/06/0334, mwN).

Der bevollmächtigte Rechtsanwalt muss die Organisation seines Kanzleibetriebes so einrichten, dass die fristgerechte Setzung von - mit Präklusion sanktionierten - Prozesshandlungen gesichert erscheint. Liegen Organisationsmängel vor, wodurch die Erreichung des oben genannten Zieles nicht gewährleistet ist, so kann nicht mehr von einem bloß minderen Grad des Versehens gesprochen werden (vgl. VwGH 2006/07/0055, m.w.N.). Beispielsweise spricht der Umstand, dass mehrere aufzugebende Poststücke auf Grund ihrer unterschiedlichen Größe getrennt voneinander zur Post befördert wurden und für einen solchen Fall weder eine Kontrolle der tatsächlichen Durchführung der Postaufgabe durch den Mitarbeiter (etwa durch Anfertigung einer Liste) vom Rechtsanwalt angeordnet noch durch den Mitarbeiter aus eigenem erfolgte, für das Vorliegen eines solchen Organisationsmangels (vgl. VwGH Zl. 96/02/0608). Dies stellt ein den bloß minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden dar.

Eine Information vor dem Gang auf die Post zumindest hinsichtlich der Anzahl der fristgebundenen Eingaben ist geboten, um eine Kontrolle der Vollständigkeit der Postaufgabe zu ermöglichen. Jedenfalls, wenn ein Poststück eine solche fristgebundene Eingabe beinhaltet. In der Regel werden solche Poststücke - zur Absicherung bzw. zum Beweis der rechtzeitigen Postaufgabe - gegen einen Nachweis, dh "eingeschrieben" aufgegeben. Die Aufgabe fristgebundener Schriftstücke bei der Post unterscheidet sich darin in der Regel von der Aufgabe sonstiger Postausgangsstücke. Es wäre dem Vertreter des Antragstellers daher zuzumuten gewesen, sich vor dem Gang zur Post über die genaue Anzahl und den oder die jeweiligen Empfänger der aufzugebenden Poststücke, die fristgebundene Eingaben beinhalten, zu informieren und zumindest deren korrekte Aufgabe zu kontrollieren, gegebenenfalls gegen Nachweise ihrer rechtzeitigen Aufgabe (vgl. VwGH 2006/05/0191).

Im vorliegenden Fall hat es nun in organisationstechnischer Hinsicht keinerlei Vorgaben betreffend eine derartige „gemischte“ Aufgabe von Poststücken (mit und ohne „Einschreiben“) gegeben; auch die zeugenschaftlich einvernommene Kanzleileiterin bezifferte die Anzahl der eingeschrieben aufzugebenden Schriftstücke mit „fünf bis zehn“. Auch gab es keine Listen, anhand derer die Kanzleileiterin hätte feststellen können, ob tatsächlich alle eingeschriebenen Sendungen aufgegeben worden sind. Vielmehr hätte es in organisatorisch-administrativer Hinsicht schon ausgereicht, wenn seitens der Rechtsanwaltskanzlei gegenüber den mit der Postaufgabe betrauten Mitarbeitern der Auftrag erteilt worden wäre, bei einer größeren Zahl von aufzugebenden Poststücken zumindest die Zahl der eingeschrieben aufzugebenden Schriftstücke zu erfassen. Im Postamt könnte der Mitarbeiter dann rasch und sicher feststellen, ob diese Anzahl auch eingeschrieben aufgegeben wurde.

Darüber hinaus wurden seitens der Rechtsanwaltskanzlei auch keinerlei Vorgaben dahingehend getroffen, wie eine Tasche, mit der wichtige – weil fristgebundene – Schriftstücke zu transportieren sind. Vorliegendenfalls wurde eine nicht verschließbare Tasche nach Aussage der Kanzleileiterin in der mündlichen Verhandlung offenbar sehr häufig für den Transport zum Postamt verwendet. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass bei einer derartigen unverschließbaren Tasche Schriftstücke schon bei kleinen Zusammenstößen oder heftigen Bewegungen - etwa wie im gegenständlichen Fall bei einem abrupten Bremsmanöver - umfallen können, sodass der Inhalt der Tasche ausgestreut wird. In organisatorischer Hinsicht hätte dies schon mit der verpflichtenden Verwendung von verschließbaren Taschen - in Verbindung mit der Anordnung, die Tasche auch während des Transports von Schriftstücken verschlossen zu halten - verhindert werden können.

Damit waren im Ergebnis aber die Mindesterfordernisse einer sorgfältigen Organisation nicht erfüllt; die Organisation des Kanzleibetriebes war nicht so eingerichtet, dass die fristgerechte Setzung von - mit Präklusion sanktionierten - Prozesshandlungen gesichert erscheinen. Es liegen daher Organisationsmängel vor, wodurch die Erreichung des oben genannten Zieles nicht gewährleistet ist, sodass nicht mehr von einem bloß minderen Grad des Versehens gesprochen werden kann.

3.1.4.

Es ist auch nicht als rechtswidrig zu erkennen, dass die belangte Behörde diesen Mangel in der Organisation des Kanzleibetriebes dem Parteienvertreter als ein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden iSd § 308 Abs. 1 BAO zugerechnet hat. Auf Verschulden der Hilfskraft des Parteienvertreters kommt es dabei nicht an.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden

3.2.    Zu Spruchpunkt 2 - Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 – VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da der als erwiesen angenommene Sachverhalt und die in diesem Verfahren anzuwendenden Rechtsvorschriften eindeutig sind und im gegenständlichen Verfahren keine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis weder von der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht noch eine solche Rechtsprechung fehlt und die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die unter Punkt 3.1. auch angeführt ist, auch einheitlich beantwortet wird.

Schlagworte

Finanzrecht; Verfahrensrecht; Wiedereinsetzung; Versehen; minderer Grad; Kontrolle; Organisationsmangel;

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGNI:2022:LVwG.AV.2102.001.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.04.2022
Quelle: Landesverwaltungsgericht Niederösterreich LVwg Niederösterreic, http://www.lvwg.noe.gv.at
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