Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision 1. des M A, 2. der H A, 3. der H A und 4. der M A, alle vertreten durch Dr. Monika Wildner, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Gonzagagasse 11, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag. Nora Huemer-Stolzenburg, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Schüttausstraße 69/46, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. September 2021, 1. L519 2203562-1/11E, 2. L519 2203559-1/17E, 3. L519 2203560-1/12E und 4. L519 2203561-1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind Staatsangehörige des Irak. Der Erstrevisionswerber ist mit der Zweitrevisionswerberin verheiratet und sie sind Eltern der Drittrevisionswerberin und der minderjährigen Viertrevisionswerberin. Die Revisionswerber stellten am 15. September 2015 Anträge auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheiden vom 11. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Revisionswerber ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
7 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das in der Beschwerde enthaltene Vorbringen zur westlichen Orientierung der Dritt- und der Viertrevisionswerberin sei nicht ausreichend beachtet worden. Die Viertrevisionswerberin hätte insbesondere zu ihrer westlichen Orientierung befragt werden müssen.
8 Die Frage, ob auf Basis eines konkret vorliegenden Standes eines Ermittlungsverfahrens ein ausreichend ermittelter Sachverhalt vorliegt oder ob weitere Erhebungen erforderlich sind, stellt regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern eine jeweils einzelfallbezogen vorzunehmende Beurteilung dar (vgl. VwGH 8.6.2021, Ra 2021/19/0156, mwN).
9 Das BVwG befragte die Drittrevisionswerberin im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu ihrem Fluchtvorbringen der westlichen Orientierung und setzte sich im Erkenntnis mit diesem auseinander. Für die Viertrevisionswerberin wurden im gesamten Verfahren keine bzw. nur völlig unsubstantiiert eigene Fluchtgründe vorgebracht. Das BVwG kam nach Auseinandersetzung mit der Lage von Frauen im Irak zu dem Ergebnis, die Revisionswerberinnen seien im Irak aufgrund ihres Lebensstils mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner individuellen Gefährdung ausgesetzt. Die Revision zeigt mit ihrem allgemein gehaltenen Vorbringen nicht auf, dass die unterbliebene Einvernahme der Viertrevisionswerberin zu ihrer westlichen Orientierung einen krassen, die Rechtssicherheit beeinträchtigenden und daher eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfenden Verfahrensfehler darstellen würde.
10 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit des Weiteren vor, das BVwG habe den Beweisantrag der Zweitrevisionswerberin auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zum Beweis ihrer Traumatisierung übergangen und insofern seine Pflicht zur vollständigen Ermittlung des Sachverhaltes verletzt.
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen. Ob eine Beweisaufnahme in diesem Sinn notwendig ist, unterliegt aber der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichts. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. VwGH 20.4.2021, Ra 2021/19/0096, mwN).
12 Die Zweitrevisionswerberin beantragte die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zum Beweis dafür, dass sie an einer Traumatisierung leide und dass diese Traumatisierung relevant für die Glaubhaftmachung einer asylrelevanten Verfolgung sei. Das BVwG lehnte den Beweisantrag der Zweitrevisionswerberin im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass sich aufgrund der übrigen Ergebnisse des Beweisverfahrens bereits ein hinreichend schlüssiges Gesamtbild, insbesondere zur fehlenden Glaubwürdigkeit der Zweitrevisionswerberin ergeben habe und eine Traumatisierung von der Zweitrevisionswerberin selbst zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens thematisiert worden sei. Es seien auch keine fachärztlichen Befunde oder Atteste vorgelegt worden. Die Revision zeigt mit ihrem den Beweisantrag wiederholenden Vorbringen nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, von der Einholung eines psychiatrischen Gutachtens abzusehen, unvertretbar wäre.
13 Im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten stützt sich die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung darauf, dass das BVwG veraltete Länderberichte herangezogen hätte. Außerdem habe das BVwG die erhöhte Vulnerabilität der Familie de facto ohne Entscheidungsgrundlage fälschlicherweise verneint. Den Revisionswerbern stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative in Bagdad zur Verfügung.
14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel aufzuzeigen (vgl. VwGH 9.2.2021, Ra 2020/19/0018, mwN).
15 Soweit sich die Revision gegen die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative richtet, geht sie ins Leere, weil das BVwG, das entgegen dem Vorbringen der Revision von einer besonderen Vulnerabilität der Revisionswerber ausging, die Rückkehrmöglichkeit der Revisionswerber nach Bagdad nicht als innerstaatliche Fluchtalternative, sondern als Rückkehr in deren Herkunftsregion annahm. Soweit die Revision auf zum Teil ältere Länderberichte als jene, welche vom BVwG herangezogen wurden, verweist, macht sie einen Verfahrensmangel geltend, ohne die Relevanz dieses Verfahrensmangels aufzuzeigen.
16 In der Zulässigkeitsbegründung bringt die Revision des Weiteren vor, das BVwG habe bei seiner Interessenabwägung das Kindeswohl nicht hinreichend berücksichtigt. Außerdem habe das BVwG in Bezug auf die Viertrevisionswerberin eine unvertretbare Interessenabwägung vorgenommen, indem es den über sechsjährigen Aufenthalt bei überdurchschnittlich guten schulischen Leistungen und ebensolchen Integrationserfolgen als weniger relevant als das Bewusstsein der Eltern über die Unrechtmäßigkeit ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet bewertet habe. Trotz Beantragung habe das BVwG die Viertrevisionswerberin zu ihrer Integration nicht einvernommen.
17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel vorliegt und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 14.1.2022, Ra 2021/19/0009, mwN).
18 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. erneut VwGH Ra 2021/19/0009, mwN).
19 Das BVwG berücksichtigte - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, im Rahmen derer es die Zweitrevisionswerberin als gesetzliche Vertreterin der Viertrevisionswerberin zu deren Integration in Österreich und zu ihren Befürchtungen für den Fall der Rückkehr der Viertrevisionswerberin in den Irak befragte - bei seiner Interessenabwägung, dass die im Entscheidungszeitpunkt 16-jährige Viertrevisionswerberin nur geringe Bindungen zum Herkunftsstaat aufweise und in Österreich die Schule besuche. Allerdings würden ihr über ihr Umfeld bzw. ihre Eltern die Kultur und Sprache ihres Herkunftsstaates vermittelt, sodass ein Schulbesuch und -abschluss im Irak möglich seien. Der Viertrevisionswerberin würden im Herkunftsmitgliedstaat gemeinsam mit ihrer Familie auch Unterkunftsmöglichkeiten, darunter ein Haus im Familienbesitz, sowie diverse Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, weshalb eine Verletzung des Kindeswohls nicht ersichtlich sei.
20 Die Revision zeigt mit ihrem Verweis auf die schulischen Leistungen und die Aufenthaltsdauer der Viertrevisionswerberin in Österreich nicht auf, dass die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wären.
21 Die Revision bringt schließlich vor, das BVwG habe bei seiner Interessenabwägung den Umstand, dass der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin in Österreich zwei weitere volljährige Kinder hätten, nicht berücksichtigt. Außerdem habe das BVwG trotz der angeführten Integrationsschritte einen ausreichenden Grad an Integration verneint.
22 Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann unter den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0308, mwN).
23 Entgegen dem Vorbringen in der Revision zog das BVwG die zwei erwachsenen Söhne des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin in seine Interessenabwägung mit ein, verneinte jedoch - unter Hinweis auf die Berufstätigkeit der beiden Söhne und das Nichtbestehen von Sorgepflichten der Revisionswerber für diese - ein schützenswertes Familienleben. Das BVwG berücksichtigte bei seiner Interessenabwägung, dass sich der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin seit September 2015 in Österreich aufhielten, über Deutschkenntnissen auf Niveau A1-B1 verfügen würden, beruflich nicht integriert seien, freundschaftliche Beziehungen in Österreich hätten, keine Mitglieder eines Vereins seien sowie nach wie vor Bindungen zum Herkunftsstaat hätten und kam zum Ergebnis, dass die Beziehung zum Herkunftsstaat die Integration in Österreich überwiegen würde. Die Revision zeigt nicht auf, dass die vom BVwG in diesem Punkt vorgenommene Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wäre.
24 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 18. März 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190395.L00Im RIS seit
18.04.2022Zuletzt aktualisiert am
10.05.2022