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40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A S, vertreten durch Dr. Ronald Gingold, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Lederergasse 16/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Juli 2020, W256 2176766-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist ein Staatsangehöriger von Somalia muslimischen Glaubens aus der Volksgruppe der Benadiri und stammt aus Mogadischu. Er stellte am 14. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, er sei von Mitgliedern der Al Shabaab aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. Da sein Name auf einer Liste der Al Shabaab gestanden sei, sei er von Regierungssoldaten festgenommen und geschlagen worden.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 16. Oktober 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen gerichtete Beschwerde, in der der Revisionswerber insbesondere vorbrachte aus den Länderberichten ergebe sich die Gefahr für den Revisionswerber, von der Al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden, der Revisionswerber sei an TBC erkrankt und finde in Somalia keine medizinische Versorgung vor, und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte, wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
4 Das BVwG hielt - mit näherer Begründung - fest, es bestehe kein Grund, an der vom BFA angenommenen Unglaubhaftigkeit der behaupteten Verfolgung durch die Regierung zu zweifeln, weshalb kein Asyl zuzuerkennen gewesen sei. Außerdem traf das BVwG Feststellungen zur Lage in Somalia insbesondere auf der Grundlage des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation vom 17. September 2019 sowie der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 11. Mai 2018 „Humanitäre Hilfe, Arbeitsmarkt, Versorgungslage in Mogadischu“ und stellte weiters insbesondere fest, der Revisionswerber sei gesund und arbeitsfähig, weshalb ihm vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen bei einer Rückkehr nach Mogadischu kein reales Risiko einer Verletzung in den durch Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechten drohe. Das Länderinformationsblatt vom 17. September 2019 und die Anfragebeantwortung vom 11. Mai 2018 habe das BVwG dem Revisionswerber zum Parteiengehör übermittelt. Zweimal habe es dem Revisionswerber weiters aufgetragen, „ärztliche Unterlagen“ zu seinem Gesundheitszustand vorzulegen. Der Revisionswerber habe sich jedoch nicht geäußert.
5 Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit insbesondere vor, das BVwG habe gegen die Verhandlungspflicht verstoßen.
6 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. jüngst etwa VwGH 3.12.2021, Ra 2020/18/0028, mwN).
10 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in seiner Judikatur zur Verhandlungspflicht des BVwG in Asylsachen auch, dass die Aktualisierung der Länderfeststellungen durch das Verwaltungsgericht, die eine zusätzliche Beweiswürdigung erfordert, grundsätzlich nur nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfolgen darf (vgl. etwa VwGH 18.11.2021, Ra 2021/18/0286, mwN).
11 Der Revisionswerber hat zum einen in der Beschwerde eine vom BFA nicht festgestellte Erkrankung vorgebracht. Zum anderen hat das BVwG die Länderfeststellungen aufgrund vom BFA noch nicht verwerteter Länderberichte - nämlich des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation vom 17. September 2019 sowie der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 11. Mai 2018 „Humanitäre Hilfe, Arbeitsmarkt, Versorgungslage in Mogadischu“ - aktualisiert. Mit dem Absehen von der Durchführung der - in der Beschwerde beantragten - mündlichen Verhandlung ist das BVwG somit von der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
12 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa VwGH 1.3.2018, Ra 2017/19/0410, mwN).
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das übrige Vorbringen in der Revision einzugehen war.
14 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 24. März 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180327.L00Im RIS seit
18.04.2022Zuletzt aktualisiert am
10.05.2022