Index
E3R E19104000Norm
AsylG 2005 §5Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der S A, vertreten durch MMag. Reinhard Uhl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kupferschmiedgasse 2/14-15, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Dr. Erich Gemeiner, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Apostelgasse 36/10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. September 2021, W212 2245735-1/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine somalische Staatsangehörige, stellte am 20. März 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Rumänien. Am 1. April 2021 stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Im Zuge der Erstbefragung gab sie an, am 9. September 2005 geboren zu sein.
2 Am 31. Mai 2021 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an Rumänien.
3 Mit Schreiben vom 10. Juni 2021 beantwortete die rumänische Dublinbehörde das Wiederaufnahmegesuch dahingehend, dass das Verfahren der Revisionswerberin am 11. Mai 2021 geschlossen worden sei, da sie sich aus der Flüchtlingsunterkunft entfernt habe. Des Weiteren lehnte Rumänien die Aufnahme der Revisionswerberin im Hinblick auf Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO ab.
4 Nach einem vom BFA in Auftrag gegebenen rechtsmedizinischen Sachverständigengutachten vom 9. Juni 2021 zum Lebensalter der Revisionswerberin, das das spätestmögliche fiktive Geburtsdatum mit 6. Jänner 2002 festsetzte und der Übermittlung dieses Ergebnisses an die rumänische Behörde mit Remonstrationsschreiben vom 22. Juni 2021, stimmte diese der Wiederaufnahme der Revisionswerberin mit Schreiben vom 6. Juli 2021 gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin III-VO zu.
5 Am 10. August 2021 langte beim BFA ein vorläufiger Entlassungsbrief des Klinikums Klagenfurt ein, aus dem hervorging, dass sich die Revisionswerberin nach einem Suizidversuch durch Strangulation seit 4. August 2021 in stationärer Behandlung befunden habe. Sie leide an Anpassungsstörungen sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung.
6 Mit Bescheid des BFA vom 11. August 2021, wurde der Antrag der Revisionswerberin auf internationalen Schutz - ohne in die Sache einzutreten - gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin III-VO Rumänien für die Prüfung des Antrags zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zugleich wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung der Revisionswerberin angeordnet und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Rumänien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).
7 Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der sie unter Heranziehung aktueller Informationsquellen die unzureichende Aktualität der Länderberichte zum rumänischen Gesundheitssystem beanstandete und unter Vorlage von medizinischen Befunden auf ihre Vulnerabilität aufgrund suizidaler Tendenzen hinwies. Sie machte auch geltend, bei Zulassung des Verfahrens in Österreich bei ihrer Schwester leben zu können, welche sie unterstützen würde.
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - ohne eine Verhandlung durchzuführen - die Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG als nicht zulässig.
9 Begründend führte das BVwG aus, die volljährige Revisionswerberin würde bei einer Rücküberstellung nach Rumänien keiner Art. 2 oder Art. 3 EMRK-widrigen Behandlung ausgesetzt werden. Sie habe einen Suizidversuch unternommen und sich zwischen 12. und 18. August 2021 ein weiteres Mal in stationärer Behandlung befunden. Es seien eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Anpassungsstörung diagnostiziert und ihr Medikamente verschrieben worden. Neben einer Weiterbehandlung durch einen Facharzt sowie einer Psychotherapie seien keine weiteren akuten Behandlungen gesetzt worden. Die Gesundheitsversorgung in Rumänien sei laut den Länderberichten gesichert. Bei der Revisionswerberin handle es sich aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen zwar um eine vulnerable Person, in Rumänien gebe es jedoch Unterkunft und Versorgung für psychisch Kranke. Mit der in Wien lebenden Schwester bestehe weder ein gemeinsamer Haushalt noch eine finanzielle Abhängigkeit.
10 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die unter anderem rügt, das BVwG habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die vom BFA getroffenen Länderfeststellungen zur medizinischen Versorgung in Rumänien seien nicht ausreichend aktuell gewesen und das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sei am 18. August 2021 aktualisiert worden. Die Revisionswerberin habe zudem einen über das behördliche Ermittlungsverfahren hinausgehenden Sachverhalt behauptet, indem sie in der Beschwerde unter Bezugnahme auf konkrete Länderberichte auf die Versorgungs- und Behandlungsmöglichkeiten psychisch Kranker hingewiesen und ausgeführt habe, ihre einzige in Europa lebende Bezugsperson sei ihre Schwester.
11 Das BFA hat im eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung erstattet.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13 Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.
14 Die Verhandlungspflicht (bzw. Beschwerdestattgebung) folgt im Zulassungsverfahren besonderen Verfahrensvorschriften (§ 21 Abs. 3 und Abs. 6a BFA-Verfahrensgesetz; vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072).
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits klargestellt, dass die in § 21 Abs. 6a BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) enthaltene Wendung „unbeschadet des Abs. 7“ nur so verstanden werden kann, dass damit zum Ausdruck gebracht wird, dass eine Verhandlung jedenfalls immer dann zu unterbleiben hat, wenn die Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG vorliegen. In einem solchen Fall stellt sich die Frage, ob nach § 21 Abs. 6a BFA-VG im Rahmen der Ermessensübung von der Durchführung der Verhandlung Abstand genommen werden kann, nicht mehr (vgl. grundlegend abermals VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 14.7.2021, Ra 2021/14/0129, mwN).
16 Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen und fallbezogen maßgeblichen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind: Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, Pkt 5.12.; aus der ständigen Rechtsprechung etwa zuletzt VwGH 7.12.2021, Ra 2021/19/0136, mwN).
17 Diese Voraussetzungen für die Abstandnahme von der mündlichen Verhandlung lagen im gegenständlichen Fall nicht vor.
18 Zunächst trifft das in der Revision erstattete Vorbringen zu, wonach zwischen dem Bescheid des BFA und dem Erkenntnis des BVwG ein neues Länderinformationsblatt zu Rumänien erschienen ist, welches die in der Revision aufgezeigten Änderungen in Bezug auf die - im gegenständlichen Verfahren relevante - medizinische Versorgung von Asylwerber:innen enthält. Zur Versorgungslage in Rumänien weist das aktuelle Länderinformationsblatt etwa aus, dass es in Rumänien zwei Unterkunftszentren für vulnerable Personen mit insgesamt 33 Plätzen gebe - eines in Bukarest und eines in Timisoara. Laut demselben Bericht verfüge aber lediglich das Aufnahmezentrum in Bukarest über einen Psychologen, wobei die Untersuchungen ohne Dolmetscher stattfänden.
19 Dass die im BFA-Bescheid enthaltenen Länderfeststellungen veraltet seien, wurde zudem bereits in der Beschwerde substantiiert beanstandet, in der auch auf die besondere Vulnerabilität der Revisionswerberin aufgrund ihrer psychischen Erkrankung hingewiesen und vorgebracht wurde, dass sie bei Zulassung des Verfahrens bei ihrer in Österreich aufenthaltsberechtigten Schwester leben könnte, von welcher sie auch unterstützt werden würde, während sie in Rumänien über keinerlei soziales Netzwerk verfüge. Mit der Beschwerde wurde überdies ein weiterer Kurzarztbrief vorgelegt, wonach sich die Revisionswerberin nach Erlassung des Bescheides und nach ihrem Suizidversuch ein weiteres Mal in stationärer Behandlung in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Klagenfurt befunden habe.
20 Das BVwG geht auch - zwar disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung - umfassend beweiswürdigend auf das Beschwerdevorbringen und die angebotenen Beweise ein. Ausgehend davon zieht das BVwG in wesentlicher Abkehr von der tragenden Beurteilung des BFA, dass erkennbar von keiner besonderen Schutzbedürftigkeit der Revisionswerberin ausging, den Schluss, dass es sich bei der Revisionswerberin um eine vulnerable Person handle.
21 Folglich lagen die Voraussetzungen für eine Abstandnahme von der Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, die auch im Zulassungsverfahren keine Verhandlung notwendig gemacht hätten, nicht vor. Das Vorbringen der Revisionswerberin zu ihrer psychischen Erkrankung, zur mangelnden Aktualität der Länderfeststellungen im verwaltungsbehördlichen Bescheid und zur einzigen Bezugsperson in Österreich hätten vielmehr weitere Ermittlungen erforderlich gemacht, die entweder unter Anwendung des § 21 Abs. 3 BFA-VG oder des § 21 Abs. 6a BFA-VG vorzunehmen gewesen wären.
22 In diesem Zusammenhang geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass immer dann, wenn der Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes durch die Verwaltungsbehörde Ermittlungsmängel anhaften, die nicht vom BVwG in der für die Erledigung des - im Rahmen des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens abzuwickelnden - Beschwerdeverfahrens gebotenen Eile beseitigt werden können, der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattzugeben ist. Eine Verhandlung hat diesfalls zu unterbleiben. Ist hingegen davon auszugehen, dass das BVwG die Ermittlungsmängel rasch und ohne größeren Aufwand selbst beseitigen kann, hat es von einer Beschwerdestattgebung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG Abstand zu nehmen und die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens (samt der Feststellung allfällig fehlenden Sachverhaltes) selbst vorzunehmen. Dabei hat es sich bei der Beurteilung gemäß § 21 Abs. 6a BFA-VG im Rahmen der Ermessensübung, ob eine Verhandlung durchzuführen ist, auch davon leiten zu lassen, ob die vorhandenen Ermittlungsmängel zweckmäßigerweise durch im Rahmen der Verhandlung vorzunehmende Beweisaufnahmen beseitigt werden können (vgl. VwGH 14.1.2020, Ra 2019/18/0311, mwN).
23 Fallbezogen liegen solche Ermittlungsmängel vor, die vom BVwG in der für das Zulassungsverfahren gebotenen Eile durch eine ergänzende und nähere Befragung der Revisionswerberin zu ihrer psychischen Erkrankung sowie der zeugenschaftlichen Einvernahme ihrer Schwester, beseitigt werden hätte können. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die niederschriftliche Einvernahme durch das BFA vor dem Suizidversuch der Revisionswerberin stattfand und die Behörde die Revisionswerberin nur sehr oberflächlich zur Beziehung zu ihrer Schwester befragte.
24 In weiterer Folge bedarf es einer genaueren, auf aktuellen Berichten beruhenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob die vulnerable, in Rumänien alleinstehende, Revisionswerberin bei einer Rückkehr nach Rumänien in einer Art und Weise untergebracht und medizinisch versorgt werden würde, dass ihr keine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 8 EMRK garantierten Rechte droht. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung auszuüben ist - und damit eine Zurückweisungsentscheidung nach § 5 AsylG 2005 zu unterbleiben hat -, wenn einer Außerlandesbringung Art. 3 EMRK (VwGH 5.3.2018, Ra 2018/20/0062 bis 0064, mwN) oder Art. 8 EMRK (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0192 bis 0194, mwN) entgegenstehen (vgl. VwGH 26.4.2021, Ra 2021/14/0015, mwN).
25 Die angefochtene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes war sohin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
26 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 28. März 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180347.L01Im RIS seit
18.04.2022Zuletzt aktualisiert am
10.05.2022