TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/28 Ra 2020/18/0339

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Veröffentlicht am 28.03.2022
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Index

19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §7
BFA-VG 2014 §9 Abs1
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z3
MRK Art8

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A R, vertreten durch die Kocher & Bucher Rechtsanwälte OG in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 2020, G305 2229332-1/3E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird insoweit zurückgewiesen, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Asylgesetz 2005 wendet.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger von Serbien. Nachdem das Bundesasylamt bereits im Jahr 2005 seinem Vater den Status eines Asylberechtigten zuerkannt hatte, stellte auch der damals vierjährige Revisionswerber vertreten durch seine Mutter am 16. März 2006 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesasylamt gab diesem Antrag mit Bescheid vom 29. August 2006 statt, erkannte dem Revisionswerber den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

2        Das Landesgericht für Strafsachen Graz erkannte den damals sechzehnjährigen Revisionswerber mit Urteil vom 18. Juni 2018 für schuldig, er habe

„1. im Zeitraum 5. Oktober 2017 bis 7. Februar 2018 in mehrfachen (etwa 8) Angriffen mit einer [Anm: im Jahr 2006 geborenen] unmündigen Person [...] den Beischlaf und dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, [...] ,

2. [...] [im selben] Zeitraum in mehrfachen Angriffen sich pornographische Darstellungen [derselben] unmündigen Person [...] verschafft, indem er sie dazu veranlasste, von ihr selbst hergestellte Nacktfotos [...] und Videos [...] auf sein Handy zu übermitteln.“

Das Landesgericht für Strafsachen Graz verhängte deshalb über den Revisionswerber wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens der pornographischen Darstellung Minderjähriger nach § 207a Abs. 3 zweiter Deliktsfall StGB eine Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten, wobei es einen Teil der Strafe in der Dauer von 12 Monaten bedingt nachsah. Einer dagegen gerichteten Berufung des Revisionswerbers gab das Oberlandesgericht Graz mit Urteil vom 10. Oktober 2018 teilweise statt und sah einen Teil der Freiheitsstrafe in der Dauer von 16 Monaten bedingt nach. Somit verblieb eine unbedingte Freiheitsstrafe in der Dauer von 2 Monaten.

3        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erkannte dem Revisionswerber mit Bescheid vom 26. Februar 2020 gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) den Status des Asylberechtigten ab, stellte fest, dass dem Revisionswerber die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme, erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Serbien zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot.

4        Die nicht gegen die Aberkennung des Status des Asylberechtigten, sondern nur gegen die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

5        Die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes begründete das BVwG einerseits damit, dass dem Revisionswerber bei einer Rückkehr nach Serbien kein reales Risiko einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohe, und andererseits damit, dass er ein (besonders) schweres Verbrechen begangen habe.

6        Zur Rückkehrentscheidung hielt das BVwG fest, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK sei bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genutzt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren, würden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise noch für verhältnismäßig angesehen. Die „zehn-Jahres-Grenze“ spiele jedoch nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden „kein - massives - strafrechtliches Fehlverhalten“ vorzuwerfen sei. In Fällen gravierender Kriminalität und daraus ableitbarer hoher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit stehe die Zulässigkeit der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht in Frage.

7        Der Revisionswerber befinde sich seit 14 Jahren im Bundesgebiet. Abgesehen von jenem Zeitraum, während dessen er den unbedingten Teil der über ihn verhängten Freiheitsstrafe verbüßt habe, habe er mit seinen Eltern im gemeinsamen Haushalt gelebt. Wie diese gehe er einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit nach. Ein Familienleben mit den Angehörigen seiner Kernfamilie sei zu bejahen. Zugunsten des Revisionswerbers seien die lange legale Aufenthaltsdauer, sein Familienleben, seine zeitweise Erwerbstätigkeit und seine Deutschkenntnisse zu werten. Gegen seinen Verbleib im Bundesgebiet spreche jedoch insbesondere sein massives strafrechtliches Fehlverhalten. Der Behauptung des Revisionswerbers in der Beschwerde, er habe eine „Freundin (Lebensgefährtin)“, sei zu entgegnen, dass er dies während der Einvernahme vor dem BFA noch nicht vorgebracht habe. Selbst wenn die Beschwerdebehauptung zutreffen würde, könnte dies der Interessenabwägung keine Wendung geben. Der Revisionswerber habe sich während seines 14-jährigen Aufenthaltes ungeachtet vorübergehender Erwerbstätigkeiten nicht nachhaltig am Arbeitsmarkt integriert. Es sei auch davon auszugehen, dass für den Revisionswerber nach wie vor eine gewisse Bindung an den Herkunftsstaat bestehe, zumal er dort geboren worden und vier Jahre lang aufgewachsen sei. Insgesamt sei das BFA zu Recht davon ausgegangen, dass die Rückkehrentscheidung keine Verletzung des Art. 8 EMRK darstelle.

8        Das Absehen von der Durchführung der - beantragten - mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass in der Beschwerde „kein relevantes neues bzw. kein ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen“ erstattet und den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA nicht in ausreichend konkreter und substantiierter Weise entgegengetreten worden sei.

9        Die Revision wendet sich in der Zulässigkeitsbegründung ausschließlich gegen die Rückkehrentscheidung, die entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, insbesondere zur Verhandlungspflicht, getroffen worden sei.

10       Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12       Die Revision ist teilweise zulässig und insoweit auch begründet.

13       Zu I. (Zurückweisung der Revision, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 richtet):

14       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

15       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

16       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

17       Im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 wird in der Revision kein gesondertes Zulässigkeitsvorbringen erstattet.

18       Somit werden diesbezüglich keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher insoweit gemäß § 34 Abs. 1 iVm Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.

19       Zu II.:

20       Soweit sich die Revision gegen die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtet, ist sie zulässig und begründet.

21       Die Revision bringt vor, dass das BVwG im Zusammenhang mit der auf § 52 Abs. 2 Z 3 FPG gestützten Rückkehrentscheidung entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe. In der Beschwerde sei der Revisionswerber der „negativen Gefährdungsprognose“ des BFA etwa mit dem Hinweis auf die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit und die Absolvierung einer Psychotherapie entgegengetreten.

22       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018).

23       Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 3.12.2021, Ra 2020/18/0028, mwN).

24       Ein derartig eindeutiger Fall, der es erlaubt hätte, von der mündlichen Verhandlung fallbezogen abzusehen, lag angesichts des langjährigen (rechtmäßigen) Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet und seiner in der Beschwerde geltend gemachten, für das Privat- und Familienleben maßgeblichen Umstände nicht vor. Die Straftat des Revisionswerbers war zweifellos schwer, lag im Zeitpunkt der Entscheidung aber bereits mehr als zwei Jahre zurück und wurde in jugendlichem Alter begangen. Dass unter Bedachtnahme darauf eine für den Revisionswerber günstige Entscheidung (zur Rückkehr in den Herkunftsstaat und das Einreiseverbot) jedenfalls ausgeschlossen war, ist nicht zu erkennen. Das BVwG hat daher seine Verhandlungspflicht verletzt.

25       Hinzu kommt, dass sich der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung näher damit befasst hat, welche Kriterien bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen Fremde, die sich vor der Aberkennung des Schutzstatus langjährig rechtmäßig als Asylberechtigte im Bundesgebiet aufgehalten haben und über eine entsprechende „Aufenthaltsverfestigung“ verfügen, berücksichtigt werden müssen (vgl. dazu VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0372; VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0328). Auf die Begründung dieser Erkenntnisse wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.

26       Danach ist im Rahmen der nach § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung (auch) auf die Wertungen Bedacht zu nehmen, die sich aus den Vorschriften ergeben, nach denen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nach langjähriger rechtmäßiger Niederlassung in Österreich für nicht zulässig erklärt oder an besondere Voraussetzungen geknüpft wird.

27       Eine Beurteilung nach diesen rechtlichen Leitlinien hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht vorgenommen. Es hat sich vielmehr auf jene höchstgerichtliche Rechtsprechung bezogen, die zur Frage entwickelt worden ist, ob einem unrechtmäßig aufhältigen Fremden ein aus Art. 8 EMRK ableitbares Aufenthaltsrecht zuzugestehen ist. Diese Judikatur ist, wie der Verwaltungsgerichtshof u.a. in dem zitierten Erkenntnis Ra 2021/20/0372, Rn. 49, näher ausgeführt hat, für den vorliegenden Fall aber nicht einschlägig (so bereits auch VwGH 17.2.2022, Ra 2020/18/0178).

28       Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen - gegenüber der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften angesichts der zu Unrecht nicht durchgeführten mündlichen Verhandlung prävalierender - Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

29       Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. März 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180339.L00

Im RIS seit

18.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

10.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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