Entscheidungsdatum
31.08.2021Index
10/11 Vereinsrecht VersammlungsrechtNorm
VersammlungsG 1953 §2 Abs1Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seinen Richter Mag. Pühringer über die Beschwerde des A. B. gegen das Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 18. Mai 2021, Zl. VStV/.../2021, betreffend Übertretung des § 2 Abs. 1 Versammlungsgesetz 1953 – VersG,
zu Recht e r k a n n t:
I. Das angefochtene Straferkenntnis wird behoben und das gegen den Beschwerdeführer geführte Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 Verwaltungsstrafgesetz 1991 eingestellt.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
I. Verfahrensgang
1. Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom 18. Mai 2021, Zl. VStV/.../2021, wurde über den Beschwerdeführer wegen einer Übertretung des § 2 Abs. 1 Versammlungsgesetz – VersG eine Geldstrafe in Höhe von € 50,— bzw. für den Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Tagen und 21 Stunden verhängt.
Im angefochtenen Straferkenntnis wird folgender Tatvorwurf aufgestellt:
"Sie haben es als Veranstalter der öffentlich zugänglichen Versammlung zum Thema 'Protest gegen die Abschiebung von Schülerinnen nach Georgien heute früh' welche am 28.01.2021 von 18:00 - 20:35 in Wien, C.-gasse, Marsch über D.-Platz – E.-straße – F. – G.-gasse – H. – J.-gasse – K.-gasse - L.-platz veranstaltet wurde, unterlassen, diese Versammlung spätestens 48 Stunden vor der beabsichtigten Abhaltung der zuständigen Behörde schriftlich anzuzeigen."
2. Gegen dieses Straferkenntnis wurde rechtzeitig und zulässig Beschwerde erhoben, in welcher der Beschwerdeführer die ersatzlose Aufhebung des Bescheids und die Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens beantragt. Begründet wird dies im Wesentlichen damit, dass der Bescheid rechtswidrig sei, weil § 2 Abs. 1 letzter Satz VersG eine unverhältnismäßige Einschränkung der Versammlungsfreiheit darstelle und damit verfassungswidrig sei. Weiters wurde darin angeregt, einen Antrag auf Aufhebung des § 2 Abs. 1 VersG an den Verfassungsgerichtshof zu richten, weil die darin normierte Anzeigefrist von 48 Stunden verfassungswidrig sei.
3. Die belangte Behörde traf keine Beschwerdevorentscheidung und legte dem Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde sowie den Akt des Verwaltungsverfahrens vor.
II. Sachverhalt
1. Das Verwaltungsgericht Wien legt seiner Entscheidung folgende Feststellungen zugrunde:
Am 28. Jänner 2021 erfolgte in den Morgenstunden die Abschiebung einer Wiener Schülerin und deren Familienangehörigen nach Georgien unter großem medialem und öffentlichem Interesse.
Am 28. Jänner 2021 um 15:18 übermittelte der Beschwerdeführer der belangten Behörde die Anzeige einer Versammlung mit dem Titel "Protest gegen die Abschiebung von Schülerinnen nach Georgien heute früh".
Diese Versammlung fand am 28. Jänner 2021 von 18:00 bis 20:35 Uhr in Wien statt, um unter anderem die Empörung über den Umstand der Abschiebung an sich sowie über die Art und Weise, in der diese Abschiebung erfolgte, zum Ausdruck zu bringen.
An der Versammlung nahmen etwa 1.000 Personen teil. Die Versammlung wurde unter Polizeipräsenz ohne nennenswerte Zwischenfälle abgehalten, es wurden lediglich zwei Eier in Richtung der M. geworfen, welche keinen nennenswerten Schaden anrichteten. Die zum Zeitpunkt der Versammlung geltenden Bestimmungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie wurden bei der Versammlung weitgehend eingehalten.
2. Diese Feststellungen ergeben sich aus folgender Beweiswürdigung:
Das Verwaltungsgericht Wien hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt und Würdigung des Beschwerdevorbingens.
Die Feststellungen zur erfolgten Abschiebung ergeben sich aus den übereinstimmenden Angaben im Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) vom 28. Jänner 2021 (AS 4ff) und in der Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 23. März 2021 (AS 19f). Die Feststellungen zum medialen und öffentlichen Interesse ergeben sich aus zahlreichen Medienberichten von diesem Tag (vgl. etwa: Der Standard, 28. Jänner 2021, 14:04 Uhr: https://www.derstandard.at/story/2000123677496/naechtlicher-protest-aufgeloest-und-abschiebungen-nach-georgien-durchgefuehrt; ORF, 28. Jänner 2021, 5:56 Uhr: https://wien.orf.at/stories/3087217/; Wiener Zeitung, 28. Jänner 2021, 10:44 Uhr: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/oesterreich/2090523-Kinder-trotz-Protesten-abgeschoben.html).
Die Feststellungen zur Versammlungsanzeige ergeben sich aus einer im Verwaltungsakt befindlichen Kopie dieser Anzeige und einem Ausdruck jenes E-Mails, mit dem die Anzeige bei der Behörde eingebracht wurde. Dass die Anzeige früher bzw. 48 Stunden vor der betreffenden Versammlung eingebracht worden wäre, wurde vom Beschwerdeführer nicht behauptet.
Die Feststellungen zur abgehaltenen Versammlung ergeben sich im Wesentlichen aus dem LVT-Bericht vom 28. Jänner 2021 (AS 4ff), der Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 23. März 2021 (AS 19f) sowie dem Beschwerdevorbringen. Der wesentliche Ablauf der Versammlung geht aus diesen unterschiedlichen Dokumentationsquellen im Wesentlichen ohne Widersprüche hervor.
III. Rechtliche Beurteilung
1. Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen des Versammlungsgesetzes, BGBl. 98/1953 idF BGBl. I 63/2017, lauten:
"§ 2. (1) Wer eine Volksversammlung oder überhaupt eine allgemein zugängliche Versammlung ohne Beschränkung auf geladene Gäste veranstalten will, muß dies wenigstens 48 Stunden vor der beabsichtigten Abhaltung unter Angabe des Zweckes, des Ortes und der Zeit der Versammlung der Behörde (§ 16) schriftlich anzeigen. Die Anzeige muß spätestens 48 Stunden vor dem Zeitpunkt der beabsichtigten Versammlung bei der Behörde einlangen.
[…]
§ 19 Übertretungen dieses Gesetzes sind, insofern darauf das allgemeine Strafgesetz keine Anwendung findet, von der Bezirksverwaltungsbehörde, im Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, aber von der Landespolizeidirektion, mit Arrest bis zu sechs Wochen oder mit Geldstrafe bis zu 720 Euro zu ahnden."
§ 6 Verwaltungsstrafgesetz – VStG, BGBl. 52/1991, lautet:
"§ 6. Eine Tat ist nicht strafbar, wenn sie durch Notstand entschuldigt oder, obgleich sie dem Tatbestand einer Verwaltungsübertretung entspricht, vom Gesetz geboten oder erlaubt ist."
2. Das Versammlungsgesetz definiert den Begriff der von ihm erfassten "Versammlung" nicht. Der Verfassungsgerichtshof wertet eine Zusammenkunft mehrerer Menschen nur dann als Versammlung iSd Versammlungsgesetzes, wenn sie in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation usw.) zu bringen, sodass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht. Auch sogenannte Spontanversammlungen (etwa solche, deren fristgerechte Anzeige – § 2 Abs. 1 Versammlungsgesetz – bei der Behörde unmöglich ist, ohne den Versammlungszweck zu gefährden) sind also – sofern die übrigen, oben geschilderten Voraussetzungen vorliegen – als Versammlungen iSd Versammlungsgesetzes zu qualifizieren (VfSlg. 14.366/1995, mwN; vgl. auch VwGH 22.03.2018, Ra 2017/01/0359, Rn 14f).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Rechtslage vor der Novelle BGBl. I 63/2017 war es Sinn und Zweck der im § 2 Versammlungsgesetz festgelegten Anzeigefrist von 24 Stunden vor der beabsichtigten Abhaltung der Versammlung, einerseits der Versammlungsbehörde die Beurteilung zu ermöglichen, ob ein Untersagungsgrund iSd § 6 Versammlungsgesetz vorliegt, und ihr die notwendige Zeit einzuräumen, um allenfalls erforderliche Vorkehrungen zur Sicherung des ungehinderten Verlaufs der Versammlung zu treffen, andererseits aber auch zu gewährleisten, dass auch kurzfristig mittels Abhaltung einer Versammlung – unter Einhaltung aller Vorschriften des Versammlungsgesetzes – auf aktuelle Ereignisse reagiert werden kann (vgl. etwa VfSlg. 18.572/2008; 16.842/2003).
Im Hinblick auf die verfassungsgesetzlich gewährleistete Versammlungsfreiheit ist also davon auszugehen, dass ein Verhalten, das an sich dem Tatbestand einer Verwaltungsübertretung entspricht, von der Rechtsordnung erlaubt und damit gemäß § 6 VStG dann gerechtfertigt sein kann, wenn es unbedingt notwendig ist, um die Versammlung in der beabsichtigten Weise durchzuführen (vgl. VfSlg. 18.483/2008, mwN).
3. Im vorliegenden Fall übermittelte der Beschwerdeführer am 28. Jänner 2021 um 15:18, das heißt nicht einmal drei Stunden vor Versammlungsbeginn, eine diesbezügliche Versammlungsanzeige an die Behörde, in welcher der Beschwerdeführer als "Veranstalter" der Versammlung genannt wird. Die Anzeigefrist von 48 Stunden des § 2 Abs. 1 VersG wurde somit vom Beschwerdeführer offensichtlich nicht eingehalten. Dies wurde vom Beschwerdeführer auch nicht bestritten. In objektiver Hinsicht wurde die dem Beschwerdeführer angelastete Verwaltungsübertretung damit verwirklicht.
4. In weiterer Folge stellt sich aber die Frage, ob das Verhalten des Beschwerdeführers in Hinblick auf § 6 VStG strafbar war:
4.1. Die Versammlung wurde zu dem Zweck abgehalten, auf ein an eben jenem Tag stattgefundenes Ereignis, welches mediale Aufmerksamkeit auf sich zog, zeitnah zu reagieren. Die Teilnehmenden wollten dabei durch Sprechchöre, das Schwenken von Plakaten und Schildern, gemeinsames Marschieren, Ansprachen etc. ihre Ablehnung gegenüber der erfolgten Abschiebung sowie ihre Empörung über die Art und Weise, wie diese Abschiebung erfolgte, gemeinsam zum Ausdruck zu bringen.
4.2. Im Beschwerdefall steht auf Grund der zeitlichen Abfolge der Ereignisse fest, dass die schriftliche Anzeige der Versammlung 48 Stunden vor ihrer beabsichtigten Abhaltung insofern faktisch nicht möglich gewesen wäre, als die Versammlung in ihrer vom Veranstalter intendierten Form in zeitlichem Nahezusammenhang zu dem das allgemeine Interesse weckenden Ereignis abgehalten werden sollte. Der Beschwerdeführer hatte naturgemäß keinen Einfluss darauf, wann die mit behördlichen Zwangsmitteln durchgesetzte Abschiebung stattfinden würde und konnte somit nur spontan auf das Ereignis reagieren.
Dem Beschwerdeführer könnte aber entgegengehalten werden, dass die Versammlung auch mehr als 48 Stunden nach dem Ereignis abgehalten hätte werden können, ohne ihren eigentlichen Zweck – den Protest gegen die Abschiebung – zu gefährden. Im Beschwerdefall sind daher in Hinblick auf Art. 11 Abs. 2 EMRK die öffentlichen Interessen an einer Einhaltung der Anzeigefrist von 48 Stunden in § 2 Abs. 1 VersG mit der durch Art. 11 EMRK geschützten Versammlungsfreiheit abzuwägen.
4.3. Ein Eingriff in das durch Art. 11 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende Entscheidung ohne Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art. 11 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet wurde; ein solcher Fall liegt vor, wenn die Entscheidung mit einem so schweren Fehler belastet ist, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise ein verfassungswidriger, insbesondere ein dem Art. 11 Abs. 1 EMRK widersprechender und durch Art. 11 Abs. 2 EMRK nicht gedeckter Inhalt unterstellt wurde (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung VfGH 17.6.2021, E 3728/2020, mwN).
4.4. Aus Sicht des Verwaltungsgerichts Wien kann nicht jeder Wunsch nach spontanem Reagieren auf Umstände, welche öffentliche Aufmerksamkeit erregen, automatisch bedingen, die 48-stündige Frist des § 2 Abs. 1 VersG außer Acht lassen zu dürfen. Diese Bestimmung soll nämlich der Behörde die Prüfung ermöglichen, ob ein Untersagungsgrund iSd § 6 Versammlungsgesetz vorliegt, und ihr die notwendige Zeit einräumen, um allenfalls erforderliche Vorkehrungen zur Sicherung des ungehinderten Verlaufs der Versammlung zu treffen (vgl. VfSlg. 18.572/2008; 16.842/2003, mwN). Um diese öffentlichen Interessen zu schützen, ist es daher einem Veranstalter in der Regel zuzumuten, die Versammlung spätestens 48 Stunden vor der beabsichtigten Abhaltung der Behörde schriftlich anzuzeigen.
4.5. Im Beschwerdefall ergab sich ein besonderes Interesse des Veranstalters an einer zeitnahen Abhaltung der Versammlung jedoch nicht nur aus dem Wortlaut der von ihm erstatteten Anzeige (arg.: "Protest gegen die Abschiebung […] heute früh"), sondern ist darüber hinaus im Licht der Geschehnisse nachvollziehbar:
So löste die Abschiebung, welche Auslöser für die Versammlung war, unter anderem deshalb in Teilen der Bevölkerung Empörung aus, weil sie entgegen dem Protest von zahlreichen Personen der Zivilgesellschaft und des politischen Lebens in den Morgenstunden vorgenommen wurde.
Aus Sicht des Verwaltungsgerichts Wien muss es in einer solchen Situation, zur Wahrung der aus Art. 11 EMRK rührenden Rechte möglich sein, zeitnah auf dieses behördliche Handeln in Form von organisiertem Protest im Rahmen einer Versammlung reagieren zu können. Das Abwarten von 48 Stunden bis zur Abhaltung einer solchen Versammlung könnte den Versammlungszweck dahingehend gefährden, dass die öffentliche Wahrnehmung und das mediale Interesse an der Angelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt deutlich verringert wären und auch dem Wesen einer spontanen Unmutsbekundung nicht mehr entsprochen werden könnte.
Auch aus den Materialien zur Novelle des § 2 Abs. 1 VersG, mit welcher die Anzeigefrist von 24 Stunden auf 48 Stunden verlängert wurde, ergibt sich, dass es weiterhin sogenannte Spontanversammlungen, wie sie bereits in der Judikatur ihren Niederschlag gefunden haben, geben kann und diese nicht an die 48-Stunden-Frist gebunden sein sollen (vgl. IA 2063/A 25. GP, 3).
Freilich trifft den Veranstalter bei Unterschreiten der 48-stündigen Anzeigefrist des § 2 Abs. 1 VersG im Rahmen einer solchen Spontanversammlung eine besondere Pflicht, in Kooperation mit der zuständigen Behörde auf einen möglichst reibungslosen Ablauf der Versammlung hinzuwirken und die Behörde durch die konkrete Ausgestaltung der Versammlung nicht vor unüberwindbare sicherheitstechnische oder logistische Hürden zu stellen. Der tatsächliche Verlauf der gegenständlichen Versammlung, welche trotz einer hohen Zahl an Teilnehmenden ohne nennenswerte Zwischenfälle und unter weitgehender Einhaltung der COVID-19-Bestimmungen abgehalten wurde, lässt aber erkennen, dass diesen Anforderungen im Beschwerdefall entsprochen wurde.
4.6. In Gesamtschau überwiegt daher im Beschwerdefall das Interesse des Beschwerdeführers an der Abhaltung der Versammlung weniger als 48 Stunden vor ihrer schriftlichen Anzeige das öffentliche Interesse an Einhaltung der Frist des § 2 Abs. 1 VersG. Das Nichteinhalten der Anzeigefrist von 48 Stunden erfüllt somit zwar den Tatbestand der Verwaltungsübertretung des § 2 Abs. 1 iVm § 19 VersG, jedoch ist dieses Verhalten gemäß § 6 VStG gerechtfertigt, da es vom Gesetz erlaubt war.
Das angefochtene Straferkenntnis ist aus diesem Grund zu beheben und das gegen den Beschwerdeführer geführte Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG einzustellen.
5. Zur Anregung eines Antrages auf Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof:
Das Verwaltungsgericht Wien sieht keinen Grund, der in der Beschwerde angeregten Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens beim Verfassungsgerichtshof hinsichtlich der in § 2 Abs. 1 VersG, BGBl. 98/1953 idF BGBl. I 63/2017, festgelegten Anzeigefrist von 48 Stunden, nachzukommen, da es keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Bestimmung hegt.
Der Verfassungsgerichtshof hatte in ständiger Judikatur keine Bedenken hinsichtlich der vormaligen Anzeigefrist von 24 Stunden geäußert, da es – wie bereits oben festgehalten – Sinn und Zweck dieser Regelung ist, einerseits der Versammlungsbehörde die Beurteilung zu ermöglichen, ob ein Untersagungsgrund iSd § 6 Versammlungsgesetz vorliegt, und ihr die notwendige Zeit einzuräumen, um allenfalls erforderliche Vorkehrungen zur Sicherung des ungehinderten Verlaufs der Versammlung zu treffen, andererseits aber auch zu gewährleisten, dass auch kurzfristig mittels Abhaltung einer Versammlung – unter Einhaltung aller Vorschriften des Versammlungsgesetzes – auf aktuelle Ereignisse reagiert werden kann (vgl. die bereits zitierten Erkenntnisse VfSlg. 18.572/2008; 16.842/2003, mwN).
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes Wien liegt eine Verlängerung der Frist des § 2 Abs. 1 VersG auf 48 Stunden im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung. Die Verlängerung der Anzeigenfrist erweist sich nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in die Versammlungsfreiheit, da Spontanversammlungen nach ausdrücklicher Intention des Gesetzgebers nicht an diese Frist gebunden sein sollen und bei Spontanversammlungen somit eine Verwaltungsübertretung wegen Nichteinhaltung der Anzeigenfrist im Einzelfall aufgrund der Versammlungsfreiheit gerechtfertigt sein kann bzw. der Behörde die Auflösung der Versammlung untersagt ist. Im Einzelfall kann daher durch grundrechtskonforme Auslegung des § 2 Abs. 1 VersG – wie im vorliegenden Beschwerdefall – sichergestellt werden, dass es zu keinen Verletzungen der in Art. 11 EMRK garantierten Versammlungsfreiheit kommt.
6. Gemäß § 44 Abs. 2 VwGVG konnte die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung entfallen, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
7. Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes bei nicht rechtzeitiger Anzeige einer Versammlung ab, noch fehlt es an einer solchen. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Schlagworte
Versammlung; Anzeigefrist; Nichteinhaltung der Anzeigefrist; zeitlicher Nahezusammenhang; Untersagungsgrund; Versammlungszweck; Antrag auf NormenkontrolleEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2021:VGW.001.032.9667.2021Zuletzt aktualisiert am
15.04.2022