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40 VerwaltungsverfahrenNorm
B-VG Art18 Abs1Leitsatz
Verstoß der Regelung der Zuständigkeit zur Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag gegen das Gebot einer präzisen Regelung der Behördenzuständigkeit; möglicher Verlust einer Instanz bei Übertragung des Wahlrechts bei Einbringung einer Berufung auf den Fall der WiedereinsetzungSpruch
Im ersten Satz des §63 Abs5 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes - AVG in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 357/1990 (wiederverlautbart mit Kundmachung BGBl. Nr. 51/1991) wird die Wortfolge ", oder bei der Behörde, die über die Berufung zu entscheiden hat" als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. Juni 1995 in Kraft.
Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Zur Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach §71 Abs4 AVG die Behörde berufen, bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war. Berufungen waren nach der Stammfassung des §63 Abs5 AVG (erster Satz) bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid erster Instanz erlassen hat. Die Novelle BGBl. 357/1990 hat durch Anfügen der Wortfolge ", oder bei der Behörde, die über die Berufung zu entscheiden hat" eine weitere Möglichkeit eingeräumt. In der Wiederverlautbarung BGBl. 51/1991 lautet der erste Satz des §63 Abs5 AVG daher (in Prüfung gezogene Wortfolge hervorgehoben):
"Die Berufung ist von der Partei binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat, oder bei der Behörde, die über die Berufung zu entscheiden hat."
1. Der Beschwerdeführer zu B91-94/93 hat in Ausländerbeschäftigungssachen die Frist zur Erhebung von Berufungen gegen Bescheide des Arbeitsamtes Krems versäumt und beim Arbeitsamt unter Nachholung der versäumten Prozeßhandlung Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingebracht. Diesen Anträgen hat das Landesarbeitsamt Niederösterreich keine Folge gegeben und die mit den nachgereichten Berufungen angefochtenen Bescheide des Arbeitsamtes bestätigt. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wertet die Berufungsbehörde das Versäumnis der Kanzleiangestellten, die Fristen einzutragen, nicht als unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis.
In den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof wird die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gerügt. Über den Antrag auf Wiedereinsetzung habe jene Behörde zu entscheiden, bei der die versäumte Prozeßhandlung vorzunehmen war. Die Berufung könne sowohl bei der ersten Instanz wie auch bei der Berufungsbehörde eingebracht werden. Da der Beschwerdeführer seine Anträge und die Berufung beim Arbeitsamt eingebracht habe, hätte auch das Arbeitsamt über seine Anträge zu entscheiden gehabt.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Beschwerden der belangten Behörde mit der Einladung zugestellt, in ihrer Gegenschrift auf die Rechtsprechung zur Notwendigkeit klarer Zuständigkeitsregelungen Bedacht zu nehmen; das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst wurde zu einer Stellungnahme eingeladen. Während das belangte Landesarbeitsamt nur Akten vorgelegt (und ihre teilweise Unauffindbarkeit eingestanden) hat, ist das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst der Meinung, wenn gleichsam ein Wahlrecht zur Einbringung der Berufung bestehe, werde
"dieses Wahlrecht auch im Falle der Versäumung der Berufungsfrist und der nachträglichen Einbringung der Berufung im Zusammenhang mit der Stellung eines Wiedereinsetzungsantrages bestehen. Hat aber die Partei einmal die Berufung (gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag) eingebracht, so hat sie insofern dieses Wahlrecht konsumiert und damit gewissermaßen die Zuständigkeit festgelegt. Diese Behörde ist sodann als diejenige anzusehen, bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war (§71 Abs4 AVG). Damit wird im Ergebnis der Partei zwar ein Wahlrecht eingeräumt, bei welcher Behörde sie den Wiedereinsetzungsantrag einbringt. Dadurch determiniert sie aber in weiterer Folge auch, welche Behörde über ihren Antrag zu entscheiden hat. Dieses Wahlrecht scheint im Hinblick auf die Festlegung einer Zuständigkeit nicht den Grundsätzen zu widersprechen, die der Verfassungsgerichtshof in seiner Judikatur zur Frage der Bestimmung der Zuständigkeit entwickelt hat (VfSlg. 6675/1972, 8349/1978, 9937/1984). Die Regelung, daß jene Behörde zuständig ist, bei der die Berufung (wenn auch verspätet) eingebracht wird, dürfte vielmehr im Sinne dieser Judikatur klar und unmißverständlich sein. Aufgrund der hier vertretenen Auslegung des §71 Abs4 AVG würde also letztlich kein Zweifel bestehen, welche Behörde zuständig ist.
Fraglich könnte nur sein, ob es zulässig ist, der Partei ein Wahlrecht einzuräumen, welche Behörde über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet. Auch auf Grund anderer Vorschriften kann sich aber der Fall ergeben, daß es einer Partei (die etwa mehrere Wohnsitze hat, sodaß gemäß §3 Z3 AVG mehrere Behörden zuständig sein können) freigestellt ist, bei einer von mehreren (im Beispiel des §3 Z3: örtlich) zuständigen Behörden den Antrag zu stellen, sodaß erst durch die Wahl der Partei die konkrete Zuständigkeit festgelegt wird (vgl. §4 AVG, der auf den hier diskutierten Fall nicht anwendbar ist!). Bislang sind solche Regelungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten offenbar nicht problematisch erschienen. Dies könnte auch für den hier vorliegenden Zusammenhang zu der Annahme führen, daß die Einräumung eines derartigen Wahlrechts verfassungsrechtlich zulässig wäre. Daß der - praktisch wohl auszuschließende - Fall denkbar wäre, daß ein und dieselbe Partei just im gleichen Augenblick sowohl bei der Behörde erster Instanz als auch bei der Berufungsbehörde einen Antrag auf Wiedereinsetzung unter gleichzeitiger Stellung des Berufungsantrages einbringt (hiefür läßt sich der geltenden gesetzlichen Regelung in der Tat keine eindeutige Zuständigkeitsregelung entnehmen!), dürfte für sich allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der Regelung führen.
Für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Regelung, wie sie §71 Abs4 AVG iVm §63 Abs5 nun enthält, kann auch ins Treffen geführt werden, daß die im Zivilrecht bekannte Einrichtung der prorogatio fori auch im Lichte des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter bisher - soweit zu sehen - als verfassungskonform angesehen wurde. So führt Walter, Gerichtsbarkeit und Verfassung, 1960, 204, aus, daß ein Gesetz verfassungswidrig sei im Hinblick auf dieses Grundrecht, wenn es 'die Grundlage für eine Entziehung durch Individualakt abgibt.'
Der Kern der durch Art83 B-VG verbürgten Garantie ist es somit, daß der einzelne vor Akten der Staatsgewalt, die eine 'Entziehung des gesetzlichen Richters' bedeuten würden, geschützt sein soll. Die Möglichkeit der Festlegung der Zulässigkeit durch Parteienvereinbarung oder durch die Ausübung eines Wahlrechts der Partei bedeutet keine derartige Eingriffsmöglichkeit der Staatsgewalt. Daher erscheint §71 Abs4 AVG iVm §63 Abs5 AVG auch im Lichte des Rechts auf den gesetzlichen Richter verfassungskonform."
2. Aus Anlaß dieser Beschwerden hat der Verfassungsgerichtshof die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der durch die Novelle BGBl. 3577/1990 angefügten Wortfolge in §63 Abs5 AVG beschlossen und folgende Bedenken geäußert:
"Während nach der Stammfassung des §63 Abs5 AVG die Berufung bei der Behörde einzubringen war, die den Bescheid erster Instanz erlassen hat, ist seit der Novelle BGBl. 375/1990 die Möglichkeit eröffnet, die Berufung entweder bei dieser Behörde einzubringen 'oder bei der Behörde, die über die Berufung zu entscheiden hat'. Für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung einer Berufung scheint daher sowohl die Behörde erster Instanz wie die Berufungsbehörde zuständig zu sein.
Wie der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung darlegt, verpflichtet jedoch Art18 in Verbindung mit Art83 Abs2 B-VG den Gesetzgeber zu einer präzisen Regelung der Behördenzuständigkeit (VfSlg. 9937/1984; vgl. seither VfSlg. 10311/1984, 11287 und 12080/1989). Es verbietet sich daher offenbar eine Auslegung, die etwa den beteiligten Behörden die Wahl läßt, wer über die Wiedereinsetzung entscheidet.
Die vom Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes erwogene Lösung einer Wahl durch den Wiedereinsetzungswerber dürfte dem Umstand zu wenig Rechnung tragen, daß durch die Einbringung eines Antrages bei der Berufungsbehörde meist die Möglichkeit verloren geht, gegen die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag noch ein Rechtsmittel zu ergreifen. Abgesehen von der Bedenklichkeit eines Rechtsmittelverzichtes vor Ergehen der Entscheidung scheint es ein eher seltener Fall zu sein, daß der Wiedereinsetzungswerber bewußt die Berufungsmöglichkeit aus der Hand gibt, indem er den Antrag bei der Berufungsbehörde einbringt. Denn die Möglichkeit der Einbringung der Berufung bei der Berufungsbehörde wurde durch die Novelle 1990 offenkundig deshalb geschaffen, weil Berufungen häufig irrtümlich bei der Berufungsbehörde eingebracht wurden und dadurch bei der für die Einbringung zuständigen Behörde erster Instanz verspätet einlangten. Noch häufiger wird es sich daher nunmehr bei den Wiedereinsetzungswerbern, die ihren Antrag bei der Berufungsbehörde einbringen, um Personen handeln, denen nicht klar ist, daß sie den Antrag - wie die Berufung, und zwar ohne Rücksicht darauf, wo sie die (verspätete) Berufung erhoben haben - auch bei der Behörde erster Instanz einbringen können, sodaß sie sich durch ihr Vorgehen ungewollt um die Berufungsmöglichkeit bringen.
Daß der Gesetzgeber sich nicht damit begnügt hat festzulegen, daß eine innerhalb der Berufungsfrist bei der Berufungsbehörde eingelangte Berufung als rechtzeitig eingebracht gilt, scheint also die Neufassung des §63 Abs5 AVG für Wiedereinsetzungswerber - entgegen der Absicht des Gesetzgebers - zu einer Art Falle zu machen. Solches zu verhindern, scheint mit ein Ziel des Erfordernisses der präzisen Regelung der Behördenzuständigkeit zu sein."
Zum Prüfungsgegenstand führt der Prüfungsbeschluß aus:
"Es ist offenkundig, daß das verfassungsrechtlich bedenkliche Ergebnis im Zusammenspiel von §63 Abs5 (neue Fassung) und §71 Abs4 AVG entsteht, obwohl jede dieser beiden Bestimmungen für sich gesehen verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Da die Berufung zunächst wohl an die erste Instanz gelangen muß (die gegebenenfalls sogar eine Berufungsvorentscheidung fällen kann), scheint Sitz der Verfassungswidrigkeit jener Teil des §63 Abs5 zu sein, der durch Einfügung einer alternativen Einbringungsmöglichkeit in das geschlossene System der Zuständigkeitsregelung (§71 Abs4) die Doppelzuständigkeit herbeiführt."
Die Bundesregierung hält die Prozeßvoraussetzungen nicht für gegeben und die Bedenken für nicht begründet.
II. Die Gesetzesprüfungsverfahren sind zulässig.
Es ist nichts hervorgekommen, was an der Zulässigkeit der Anlaßbeschwerden und der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Die Bundesregierung bestreitet allerdings, daß gegebenenfalls die Aufhebung der in dem ersten Satz des §63 Abs5 AVG angefügten Wortfolge erforderlich sei:
"Da sich die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes dagegen richten, daß im Falle der Wiedereinsetzung eine nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Zuständigkeitsbestimmung vorliege, wäre eine Verfassungswidrigkeit allenfalls dem §71 Abs4 AVG anzulasten. Wenngleich es zutrifft, daß durch die Aufhebung der angefochtenen Wortfolge die im Einleitungsbeschluß angesprochene Verfassungswidrigkeit beseitigt würde, ist darauf hinzuweisen, daß mit der Aufhebung der in Prüfung gezogenen Wortfolge im §63 Abs5 auch die einen anderen Fall (nämlich die Einbringung von Berufungen) regelnde gesetzliche Anordnung aufgehoben würde.
Gegen diese Regelung sind im Einleitungsbeschluß keine Bedenken geltend gemacht. Die Aufhebung der entsprechenden Wortfolge würde daher bedeuten, daß der Verfassungsgerichtshof durch die Aufhebung auch eine Bestimmung beseitigt, gegen die er keine Bedenken hat. Dies dürfte dem vorhin dargestellten Grundsatz widersprechen, daß die Aufhebung derart zu erfolgen hätte, daß in geringst möglicher Weise in den gesetzgeberischen Willen eingegriffen wird (vgl. zB VfSlg. 7376/1974, 7726/1975 und 9374/1982)."
Der Verfassungsgerichtshof teilt zwar die Auffassung der Bundesregierung, daß eine Aufhebung der in Prüfung stehenden Wortfolge auch die verfassungsrechtlich unbedenkliche Möglichkeit der Einbringung der Berufung bei der Berufungsbehörde beseitigen würde, er kann aber den daran geknüpften Erwägungen nicht beipflichten. Auch §71 Abs4 AVG ist verfassungsrechtlich unbedenklich und regelt für andere Fälle der Wiedereinsetzung die Zuständigkeit in eindeutiger Weise; das bedenkliche Ergebnis entsteht - wie schon der Einleitungsbeschluß dartut - aus dem Zusammenspiel dieser Vorschrift mit §63 Abs5 AVG (neuer Fassung). Der Mangel liegt aber näher bei §63 Abs5 AVG, weil dieser durch Eröffnung einer Alternative für die Prozeßhandlung die Zuständigkeit zur Entscheidung vom Zufall der Einbringung abhängig macht.
III. Die Bedenken sind auch
begründet. Die in Prüfung gezogene Wortfolge widerspricht angesichts der Regelung des §71 Abs4 AVG dem aus Art18 in Verbindung mit Art83 Abs2 B-VG abzuleitenden Gebot einer präzisen Regelung der Behördenzuständigkeit.
1. Die Bundesregierung äußert sich in der Sache wie folgt:
"Geht man mit dem Verfassungsgerichtshof davon aus, daß die vorliegende Rechtslage bedeutet, daß im Falle der Wiedereinsetzung gemäß §71 Abs4 iVm §63 Abs5 AVG nunmehr die Wahlmöglichkeit des Wiedereinsetzungswerbers besteht, die Wiedereinsetzung bei der Behörde erster Instanz oder bei der Berufungsbehörde einzubringen, wodurch sich auch die Zuständigkeit bestimmt, so könnte auch dies eine eindeutige Regelung bedeuten. Das Bedenken, daß die Norm Art18 iVm Art83 Abs2 B-VG widerspreche, wäre insofern nicht zutreffend. Wie der Verfassungsgerichtshof im Einleitungsbeschluß ausführt, gründen seine Bedenken jedoch insbesondere darauf, daß dem Wiedereinsetzungswerber möglicherweise ohne sein Wissen durch die Einbringung bei der Berufungsbehörde die Möglichkeit der Berufungserhebung genommen würde.
Dieses Bedenken richtet sich nun nicht dagegen, daß die Norm nicht erkennen lasse, wer zuständig sei; sie richtet sich vielmehr dagegen, daß die Rechtslage den Rechtsunterworfenen nicht bekannt sein könnte.
Die Bundesregierung geht daher davon aus, daß die Norm zwar hinreichend bestimmt ist, daß jedoch die vom Verfassungsgerichtshof vorgetragenen (weiteren) Bedenken unter Umständen dazu führen, daß eine verfassungsrechtlich unzulässige Norm vorliegt.
Dem Einleitungsbeschluß des Verfassungsgerichtshofes ist jedoch nicht zu entnehmen, gegen welche verfassungsrechtliche Bestimmung eine Norm, die ein Wahlrecht einräumt, sodaß die im Einleitungsbeschluß dargestellte Rechtsfolge des Verlusts einer Berufungsinstanz eintreten könnte, verstoßen sollte. Die Bundesregierung vermag auch keine derartige verfassungsrechtliche Bestimmung zu erkennen.
Wenn den Rechtsunterworfenen verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten der Rechtsverfolgung offen stehen, von denen jede unterschiedliche prozessuale Folgen nach sich zieht, spricht der Umstand, daß weniger informierte Staatsbürger durch die Entscheidung für eine Variante eventuell ungewollt bestimmte Rechtsfolgen auslösen oder nicht auslösen (hier: daß gegen die Entscheidung Berufung erhoben werden kann), noch nicht gegen die Verfassungsmäßigkeit der Regelung. Eine im weitesten Sinn vergleichbare Situation ist etwa bei der Möglichkeit, einen Devolutionsantrag zu stellen (§73 Abs2 AVG) oder Säumnisbeschwerde an den VwGH zu erheben (§27 VwGG), gegeben. Auch in diesen Fällen kann der Rechtsunterworfene letztlich darüber disponieren, ob er eine weitere verwaltungsbehördliche Entscheidung erhalten kann oder nicht. Des weiteren werden allfällige Gestaltungsmöglichkeiten im materiellen Recht (etwa im Steuerrecht) stets nur von fachkundigen Personen oder fachkundig beratenen Personen optimal ausgenützt werden können. Für den vorliegenden Zusammenhang ist aber auch zu bemerken, daß fraglich ist, ob die vom Verfassungsgerichtshof aufgezeigte Konsequenz der 'Verkürzung um eine Instanz' angesichts der zur Verfügung stehenden Beschwerden an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts tatsächlich eine derartige Auswirkung darstellt, daß etwa das Gebot der Gewährleistung eines effizienten Rechtsschutzes verletzt wäre."
2. Ausgangspunkt der Bedenken des Gerichtshofes ist das hier nicht neuerlich abzuleitende Gebot einer präzisen Regelung der Behördenzuständigkeit (Art18 iVm Art83 Abs2 B-VG). Die Bundesregierung verschiebt den Akzent, wenn sie dem Prüfungsbeschluß unterstellt, der Verfassungsgerichtshof ginge davon aus, daß eine präzise Regelung im Sinne eines Wahlrechts des Wiedereinsetzungswerbers vorliege, und führe ein solche Wahlrechte verbietendes neues Erfordernis ein, das keiner Norm des Verfassungsrechts zu entnehmen sei. Vielmehr hat der Gerichtshof nur die in den Beschwerdeverfahren als Alternative zur Annahme einer wahlweisen Zuständigkeit zweier Behörden nach deren Gutdünken vorgeschlagene Möglichkeit erwogen, daß die unklare Zuständigkeitsregelung dem Wiedereinsetzungswerber die Wahl lassen könnte, seinen Antrag entweder bei der Behörde erster oder bei der Behörde zweiter Instanz einzubringen, und bezweifelt, ob eine solche Auslegung die Vorschrift bestimmt genug macht. Entgegen dem Ausgangspunkt der Äußerung der Bundesregierung ist nämlich festzuhalten, daß das Gesetz seinem Wortlaut nach nicht dem Wiedereinsetzungswerber ein Wahlrecht einräumt, an wen er sein Begehren richten kann, sondern diejenige Behörde für zuständig erklärt, bei der die versäumte Prozeßhandlung "vorzunehmen war", was aber zufolge des Wahlrechtes für die Einbringung der Berufung gerade nicht eindeutig ist (und für den Fall der gleichzeitigen Antragstellung bei beiden Behörden auch keine Lösung ermöglicht).
Schon die Äußerung des Bundeskanzleramtes-Verfassungsdienst in den Anlaßbeschwerdeverfahren zeigt nämlich auf, daß die Frage, ob bei einem Verbrauch des Wahlrechts durch Einbringung der Berufung auch die Wahlmöglichkeit für die Einbringung des Wiedereinsetzungsantrages entfällt, verschieden beantwortet werden kann. Kommt etwa - wie dies sehr häufig der Fall ist - die Verspätung der Berufung erst nach ihrer Einbringung ans Licht und bringt daher der Wiedereinsetzungswerber nur den Wiedereinsetzungsantrag ein (weil die Berufung ja schon vorliegt und daher nicht nachgereicht werden kann), so muß er nach Vorstellung der Bundesregierung den Wiedereinsetzungsantrag offenbar bei der Berufungsbehörde einbringen, wenn er bei dieser die Berufung eingebracht hatte, obwohl die Berufung dort nur eingebracht werden konnte, nicht aber eingebracht werden mußte, die versäumte Prozeßhandlung also nicht dort - wie §71 Abs4 AVG formuliert - "vorzunehmen war", sondern gleicherweise bei der ersten Instanz hätte vorgenommen werden können. Stünde dem Wiedereinsetzungswerber die Zuständigkeit der ersten oder zweiten Instanz für die Entscheidung über sein Begehren tatsächlich ebenso zur Wahl wie die Stelle, an der er seine Berufung einzubringen hat, so müßte er - wie im Prüfungsbeschluß erwogen - den Antrag ohne Rücksicht darauf, wo er die (verspätete) Berufung erhoben hat, auch bei der Behörde erster Instanz einbringen und diese solcherart zur Entscheidung zuständig machen können.
Das Bedenken des Gerichtshofes, daß die Neufassung des §63 Abs5 für Wiedereinsetzungswerber zu einer Art Falle (und die zusätzliche Möglichkeit der Einbringung bei der Berufungsbehörde zu einem Danaergeschenk) werden kann, knüpft also gerade an den Umstand an, daß die Bedingungen des behaupteten Wahlrechts im Gesetz nicht klargelegt werden und der Wiedereinsetzungswerber sich nicht nur dann um eine Instanz brächte, wenn er das Rechtsmittel bei der Berufungsbehörde eingebracht (und nach Meinung der Bundesregierung dadurch diese Wahlmöglichkeit konsumiert) hat, sondern regelmäßig auch dann, wenn er noch die Möglichkeit der Antragstellung bei jener Behörde hätte, die den Bescheid erster Instanz erlassen hat, von dieser Möglichkeit aber mangels Kenntnis der Zusammenhänge nicht Gebrauch macht.
Entgegen der Auffassung der Bundesregierung geht es also nicht darum, daß der Wiedereinsetzungswerber von einer eindeutig geregelten Wahlmöglichkeit nicht Kenntnis nimmt - was er selbst zu verantworten hätte -, sondern darum, daß die Wahlmöglichkeit - so sie denn bestünde - im Gesetz nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit geregelt wäre. Mit anderen Worten: Mag auch die Annahme eines aus der Wahlmöglichkeit für die Einbringung der Berufung abgeleiteten Wahlrechts für den Wiedereinsetzungsantrag die Beliebigkeit der Zuständigkeit nach Wahl der Behörden vermeiden, tut sie doch ihrerseits dem Gebot der präzisen Regelung der Behördenzuständigkeit noch immer nicht Genüge.
Deshalb geht sowohl der vom Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst unternommene Vergleich der vorliegenden Rechtslage mit anderswo in der Rechtsordnung enthaltenen Wahlmöglichkeiten als auch der Hinweis der Bundesregierung im Gesetzesprüfungsverfahren auf den Verlust einer Instanz durch Devolution oder Säumnisbeschwerde am Kern der Sache vorbei. Denn die mit diesen Begehren ausgelöste Zuständigkeitsänderung ist eindeutig.
Ob eine Vorschrift die erforderliche Bestimmtheit aufweist, hängt nicht zuletzt von den mit ihrer Auslegung verbundenen Folgen ab. Der mögliche unbeabsichtigte Verlust einer Instanz ist ein gewichtiger, gegen die Übertragung des Wahlrechts bei Einbringung der Berufung auf den Fall der Wiedereinsetzung sprechender Gesichtspunkt. Die Zuständigkeit zur Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag ist daher nicht mit hinreichender Deutlichkeit festgelegt. Der diese Mehrdeutigkeit herbeiführende, durch die Novelle BGBl. 357/1990 eingeführte zweite Fall im ersten Satz des §63 Abs5 AVG ist daher wegen Verstoßes gegen Art18 iVm Art83 Abs2 B-VG als
verfassungswidrig aufzuheben.
Die Aussprüche über das Inkrafttreten der Aufhebung und die Kundmachung stützen sich auf Art140 Abs5 B-VG, der Ausspruch über das Nichtwiederinkrafttreten früherer Vorschriften beruht auf Art140 Abs6 B-VG.
Da von einer mündlichen Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten war, hat der Gerichtshof von einer mündlichen Verhandlung abgesehen.
Schlagworte
VfGH / Prüfungsgegenstand, Behördenzuständigkeit, Wiedereinsetzung, Verwaltungsverfahren Berufung, Berufung (Einbringungsstelle), Zuständigkeit VerwaltungsverfahrenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1994:G20.1994Dokumentnummer
JFT_10059376_94G00020_00