Index
E6JNorm
AsylG 2005 §20 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des M H Z, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Februar 2021, W155 2203718-1/13E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 12. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen mit seiner Verfolgung durch die Taliban begründete.
2 Mit Bescheid vom 24. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 In seiner gegen diesen Bescheid betreffend die Versagung des Status des Asylberechtigten gerichteten Beschwerde machte der Revisionswerber insbesondere geltend, dass sein mit ergänzender Stellungnahme erstattetes Vorbringen hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung nicht berücksichtigt worden sei und ihm auch deswegen in seiner Heimat Verfolgung drohe.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 24. Februar 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
5 Begründend ging das BVwG unter anderem davon aus, dass beim Revisionswerber eine „überzeugende asylrelevante homo- bzw. bisexuelle Orientierung“ nicht vorliege und er deshalb keiner Verfolgung bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat ausgesetzt sei. Beweiswürdigend verwies das BVwG diesbezüglich auf die Aussage des Revisionswerbers vor dem BFA über seine Verlobung, die vor der Einreise nach Österreich in Pakistan von seinen Eltern arrangiert worden sei, wobei er zur Verlobten keinen Kontakt gehabt habe. Dagegen habe er in der Beschwerdeverhandlung angegeben, homosexuell zu sein, obwohl er dies weder in den Einvernahmen vor dem BFA noch im Rahmen seiner jahrelangen psychotherapeutischen Behandlung erwähnt habe und insbesondere gegenüber seiner Familie und seinen Freunden nach wie vor geheim halte. Daher erscheine der Revisionswerber auch unglaubwürdig, wenn er nicht zu seiner sexuellen Neigung stehe. Seinem Vorbringen sei nicht zu entnehmen, dass er „offen“ homosexuell lebe. Er sei nicht Mitglied von „Queer Base“ und suche auch die Nähe zur Homosexuellen-Szene nicht, sondern knüpfe Kontakte über das Internet. Weder lebe er aktuell in einer Beziehung, noch habe er in der Vergangenheit eine feste homo- oder bisexuelle Liebesbeziehung gehabt. Seine Wünsche seien „grundsätzlich auf das Ausleben sexueller Bedürfnisse“ gerichtet. Die knappe und oberflächliche Beantwortung der gestellten Fragen resultiere aus dem Mangel an eigenen Erlebnissen, die „die Reifung der behaupteten homosexuellen Identität“ begleitet hätten. Der Revisionswerber sei nicht in der Lage gewesen, das Auftreten erster homosexueller Empfindungen nachvollziehbar zu erzählen.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:
7 Zur Zulässigkeit macht die Revision insbesondere die Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung des BVwG in Bezug auf die sexuelle Orientierung des Revisionswerbers geltend. Wenngleich für das Vorliegen einer bestimmten sexuellen Orientierung das aktuelle Bestehen einer Partnerschaft ohne Belang sei, werde dem Revisionswerber angelastet, (derzeit) keine homosexuelle Partnerschaft zu führen. Das BVwG sei zur Einschätzung gelangt, der Revisionswerber sei in die Homosexuellen-Szene nicht eingebunden, obwohl er angegeben habe, Szenelokale zu frequentieren und einschlägige Dating-Apps zu verwenden. Den Umstand, dass der Revisionswerber nicht „Mitglied von Queer Base“ sei, habe das BVwG ungeachtet der Tatsache zu seinen Lasten ausgelegt, dass es sich bei „Queer Base“ um eine Beratungsstelle handle, die überhaupt keine Mitglieder aufnehme. Entgegen der Annahme des BVwG habe der Revisionswerber durchaus in seiner jahrelangen psychotherapeutischen Behandlung von seiner homosexuellen Neigung berichtet, wie auch einem im Verfahren vorgelegten Befund zu entnehmen sei, in dem der besonders problematische „Coming Out-Prozess“ des Revisionswerbers hervorgehoben worden sei.
8 Die Revision ist zulässig und aus nachstehenden Erwägungen auch berechtigt:
9 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 22.11.2021, Ra 2020/19/0207, mwN).
10 Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof bei Behandlung einer zulässigen Revision auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. erneut VwGH Ra 2020/19/0207, mwN).
11 Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich seiner Schlussfolgerung, der Revisionswerber weise keine („überzeugende asylrelevante“) homo- bzw. bisexuelle Orientierung auf, nicht.
12 Das BVwG führte beweiswürdigend zunächst ins Treffen, dass der Revisionswerber seine sexuelle Orientierung nicht bereits in den Einvernahmen vor dem BFA und im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung erwähnt habe. Zum einen trägt dieser Hinweis für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens schon angesichts der Angaben des Revisionswerbers in der Verhandlung, wonach er sich erst 2018 seiner Homosexualität endgültig im Klaren gewesen sei, nichts bei. Zum anderen steht die Annahme, der Revisionswerber habe seine Homosexualität in den psychotherapeutischen Sitzungen nicht thematisiert, mit dem Akteninhalt - worauf auch die Revision zu Recht hinweist - im Widerspruch.
13 Davon abgesehen hat der Verwaltungsgerichtshof unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union bereits darauf hingewiesen, dass Aussagen eines (behauptetermaßen homosexuellen) Asylwerbers nicht allein deshalb für nicht glaubhaft erachtet werden dürfen, weil er seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht habe. Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere seine Sexualität, betreffen, könne allein daraus, dass diese Person, weil sie zögerte, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben habe, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig sei (vgl. VwGH 4.8.2021, Ra 2021/18/0024, Rn. 16, unter Hinweis auf EuGH 2.12.2014 Rechtssache A., B., C., C-148/13, C-149/13, C-150/13; insbesondere Rn. 69 und 72).
14 Im Übrigen lassen die getroffenen Länderfeststellungen zu Afghanistan jedenfalls den Schluss zu, dass Homosexuelle aus diesem Kulturkreis ihre sexuelle Orientierung insbesondere vor der eigenen Familie möglichst verschweigen. Deshalb wird die Ansicht des BVwG, der Revisionswerber erscheine unglaubwürdig, wenn er nicht zu seiner sexuellen Neigung stehe, der Realität nicht gerecht. In Anbetracht der Angaben des Revisionswerbers in der Verhandlung lassen sich die Ausführungen des BVwG, wonach er nur Kontakte über das Internet knüpfe und die Nähe zur Homosexuellen-Szene nicht suche, einerseits mit dem Akteninhalt nicht in Einklang bringen und bieten andererseits - wie etwa auch der Hinweis auf das Fehlen einer „Mitgliedschaft“ bei „Queer Base“ - keinerlei Begründungswert.
15 Da sich das BVwG zur Begründung der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung des Revisionswerbers ganz überwiegend auf diese unschlüssigen Erwägungen stützte, erweist sich die Beweiswürdigung als unvertretbar.
16 Das angefochtene Erkenntnis ist allerdings zusätzlich mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts behaftet, die vom Verwaltungsgerichtshof vorrangig aufzugreifen ist. Dem steht nicht entgegen, dass die Ausführungen der Revision zu ihrer Zulässigkeit eine Abweichung des angefochtenen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (nach dem Gesagten zutreffend) in Bezug auf die Vertretbarkeit der Beweiswürdigung, nicht aber in Bezug auf die Frage der Entscheidungszuständigkeit des Verwaltungsgerichtes ins Treffen geführt hat, weil der Verwaltungsgerichtshof im Fall einer zulässigen Revision nicht auf jene Rechtsfragen beschränkt ist, die zur Zulässigkeit vorgebracht wurden (vgl. etwa VwGH 15.10.2015, Ra 2014/11/0065).
17 § 20 Abs. 1 AsylG 2005 bestimmt, dass ein Asylwerber, der seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen ist, es sei denn, dass er anderes verlangt. Gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 gilt dies auch für das Verfahren vor dem BVwG, wenn der Asylwerber den Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
18 Im vorliegenden Fall brachte der Revisionswerber - wie eingangs bereits wiedergegeben - spätestens in der Beschwerde vor, aufgrund seiner sexuellen Orientierung verfolgt zu werden.
19 Ausgehend davon hätte die Beschwerde des Revisionswerbers, in welcher eine Einvernahme durch eine (weibliche) Richterin gemäß § 20 Abs. 1 iVm Abs. 2 erster Satz AsylG 2005 nicht verlangt wurde, einem (männlichen) Richter zugewiesen werden und der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG durch einen (männlichen) Richter einvernommen werden müssen.
20 Nach dem Zweck des § 20 Abs. 2 AsylG 2005 soll die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Gleiches gilt für die Furcht vor noch nicht stattgefundenen, sondern drohenden Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. VwGH 26.5.2021, Ro 2020/19/0002, mwN).
21 Im vorliegenden Fall erklärte der Revisionswerber erstmals im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung nach entsprechender Belehrung durch die Verhandlungsrichterin im Hinblick auf § 20 AsylG 2005, dass er die Durchführung der Verhandlung durch die anwesende Richterin beantrage und mit der Beiziehung der ebenfalls anwesenden Dolmetscherin einverstanden sei. Eine derartige Erklärung entspricht nicht dem in § 20 Abs. 2 AsylG 2005 vorgesehenen Verlangen, das - entgegen dem sonst geltenden Grundsatz - eine Einvernahme durch eine (weibliche) Richterin erlaubt und spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen gewesen wäre (vgl. auch jüngst VfGH 15.12.2021, E 3248/2020, sowie bereits VfSlg. 20.260/2018).
22 Da das BVwG somit nicht in der gesetzmäßigen, nach § 20 Abs. 2 AsylG 2005 vorgeschriebenen Besetzung entschieden hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufzuheben.
23 Der Ausspruch über den Kostenersatz beruht auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. März 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 62013CJ0148 A VORABEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190132.L00Im RIS seit
06.04.2022Zuletzt aktualisiert am
11.04.2022