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L92003 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung NiederösterreichNorm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Derfler, über die Revision der Niederösterreichischen Landesregierung gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 23. April 2021, Zl. LVwG-AV-100/001-2020, betreffend Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Tulln; mitbeteiligte Partei: K K in T, vertreten durch das VertretungsNetz Erwachsenenvertretung in 1200 Wien, Forsthausgasse 16-20), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
I.
1 1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. April 2021 erkannte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich der Mitbeteiligten - im Beschwerdeverfahren - monatliche Geldleistungen im Rahmen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung für den Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis einschließlich 31. März 2020 in Höhe von jeweils € 110,91 zu, wobei es die Revision nicht zuließ.
2 Begründend führte das Verwaltungsgericht - soweit für die vorliegende Revisionssache von Interesse - aus, unter Berücksichtigung der zu § 11 Abs. 3 Niederösterreichisches Mindestsicherungsgesetz (NÖ MSG) in der - nach Ansicht des Verwaltungsgerichts - „zum Entscheidungszeitpunkt durch die [belangte Behörde] geltenden Fassung“ ergangenen Judikatur (Hinweis auf VwGH 11.8.2015, Ra 2015/10/0030 = VwSlg. 19.175 A) sei der Aufwand zur Deckung des Wohnbedarfes im Sinn dieser Bestimmung dahingehend zu verstehen, dass es sich um den Aufwand zur Deckung des angemessenen Wohnbedarfes handle, also um jenen, der „zur Gewährleistung einer angemessenen Wohnsituation“ erforderlich sei.
3 Im Zuge seiner Berechnung der der Mitbeteiligten zuerkannten Leistung zur Deckung des Wohnbedarfs erachtete das Verwaltungsgericht die von der Mitbeteiligten entrichtete Miete von monatlich € 274,31 als angemessenen Wohnungsaufwand. Der 25-prozentige Anteil des Mindeststandards für den Wohnbedarf habe im relevanten Zeitpunkt € 221,37 betragen und sei vom angemessenen Wohnungsaufwand somit um € 52,94 überstiegen worden. Eine Anrechnung des von der Mitbeteiligten bezogenen Wohnkostenzuschusses in Höhe von € 115,-- als Leistung für den Wohnbedarf von dritter Seite komme nur insoweit in Betracht, als der Wohnkostenzuschuss den angemessenen Wohnungsaufwand abzüglich des 25-prozentigen Anteils des Mindeststandards übersteige (vgl. zu dieser Berechnung Punkt 4.2. des zitierten Erkenntnisses Ra 2015/10/0030).
4 3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der Niederösterreichischen Landesregierung.
5 Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
6 1. Zur Zulässigkeit ihrer Revision bringt die Revisionswerberin unter anderem vor, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 11 Abs. 3 NÖ MSG, LGBl. 9205-0 idF LGBl. Nr. 24/2016, sei der Wohnzuschuss bei der Berechnung des zustehenden Mindeststandards zur Deckung des Wohnbedarfes vom Mindeststandard iSd § 1 Abs. 2 Z 1 NÖ MSG abzuziehen (Hinweis auf VwGH 11.8.2017, Ra 2016/10/0090, sowie 21.11.2019, Ra 2018/10/0038). Die vom Verwaltungsgericht herangezogene Judikatur beziehe sich auf § 11 Abs. 3 NÖ MSG, LGBl. 9205-0 idF LGBl. 96/2015, welcher am 5. April 2016 novelliert worden und somit nicht mehr anwendbar sei. Das Verwaltungsgericht sei insofern von der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
7 2. Die Revision ist schon mit Blick auf dieses Vorbringen zulässig; sie erweist sich auch als begründet.
8 3.1. § 11 NÖ MSG, LGBl. 9205-0 in der hier maßgeblichen Fassung LGBl. Nr. 24/2016, lautet auszugsweise:
„§ 11
Mindeststandards
(1) Die Landesregierung hat ausgehend vom Ausgleichszulagenrichtsatz nach § 293 Abs. 1 lit.a bb) ASVG abzüglich des Beitrages zur gesetzlichen Krankenversicherung durch Verordnung die Höhe der Mindeststandards zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes insbesondere für folgende hilfsbedürftige Personen entsprechend den folgenden Prozentsätzen festzulegen:
1.
für alleinstehende und alleinerziehende Personen ........................
100%,
(...)
[...]
(3) Mindeststandards zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhaltes nach Abs. 1 beinhalten grundsätzlich einen Geldbetrag zur Deckung des Wohnbedarfes im Ausmaß von 25% bzw. bei hilfsbedürftigen Personen, die eine Eigentumswohnung oder ein Eigenheim bewohnen, einen Geldbetrag im Ausmaß von 12,5%. Besteht kein oder ein geringerer Aufwand zur Deckung des Wohnbedarfes oder erhält die hilfebedürftige Person bedarfsdeckende Leistungen (z.B. eine Wohnbeihilfe oder einen Wohnzuschuss), sind die jeweiligen Mindeststandards um diese Anteile entsprechend zu reduzieren, höchstens jedoch um 25% bzw. 12,5%.
[...]“
9 3.2. Die vorliegend maßgeblichen Bestimmungen des Niederösterreichischen Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes - NÖ SAG, LGBl. Nr. 70/2019, lauten:
„§ 8
Berücksichtigung von Leistungen Dritter
(1) Leistungen der Sozialhilfe sind nur soweit zu erbringen, als der jeweilige Bedarf nicht durch Geld- oder Sachleistungen Dritter gedeckt ist.
[...]
§ 12
Allgemeines
(1) Die Sozialhilfe umfasst folgende Leistungen:
[...]
2. Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs;
[...]
(4) Leistungen der Sozialhilfe sind vorrangig als Sachleistungen zu gewähren, soweit dadurch eine höhere Effizienz der Erfüllung der Leistungsziele zu erwarten ist. Leistungen für den Wohnbedarf sind, sofern dies nicht unwirtschaftlich oder unzweckmäßig ist, in Form von Sachleistungen zu gewähren. Als Sachleistung gilt auch die unmittelbare Entgeltzahlung an eine Person, die eine Sachleistung zugunsten eines Bezugsberechtigten erbringt.
(...)
§ 13
Leistungen zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts, Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs
[...]
(2) Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs umfassen den für die Gewährleistung einer angemessenen Wohnsituation erforderlichen regelmäßig wiederkehrenden Aufwand für Miete, Hausrat, Heizung und Strom sowie sonstige allgemeine Betriebskosten und Abgaben.
(...]
§ 50
Übergangsbestimmungen
[...]
(3) Allen am 1. Jänner 2020 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren auf Zuerkennung, Weitergewährung, Erhöhung oder Kürzung der Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts und Wohnbedarfs sind für die Zeit bis zum 31. Dezember 2019 die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen des NÖ Mindestsicherungsgesetzes, LGBl. 9205 in der Fassung LGBl. Nr. 23/2018, der NÖ Mindeststandardverordnung, LGBl. 9205/1 in der Fassung LGBl. Nr. 3/2019, und der Verordnung über die Berücksichtigung von Eigenmitteln, LGBl. 9200/2 in der Fassung LGBl. Nr. 45/2018, zugrunde zu legen.
[...]
(5) Abs. 3 und Abs. 4 gelten auch für Beschwerdeverfahren.
[...]
§ 51
In-Kraft-Treten
(1) Dieses Gesetz tritt am 1. Jänner 2020 in Kraft.
[...]
(3) Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes tritt das NÖ Mindestsicherungsgesetz, LGBl. 9205, außer Kraft.
[...]“
10 4. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Ansprüchen auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung um zeitraumbezogene Ansprüche handelt, für welche nicht die im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses geltende Rechtslage schlechthin maßgebend ist, sondern eine zeitraumbezogene Beurteilung vorzunehmen ist (vgl. etwa VwGH 11.8.2017, Ra 2016/10/0090, mwN). Fallbezogen ist der Leistungszeitraum vom 1. Dezember 2019 bis einschließlich 31. März 2020 relevant.
11 5. Für die Zeit vom 1. bis zum 31. Dezember 2019 ist zur Ermittlung der an die Mitbeteiligte zu gewährenden Leistungen aufgrund der Übergangsbestimmung des § 50 Abs. 3 und 5 NÖ SAG weiterhin das NÖ MSG, LGBl. 9205-0 in der Fassung LGBl. Nr. 23/2018 (wobei der hier anzuwendende § 11 Abs. 3 NÖ MSG zuletzt durch LGBl. Nr. 24/2016 geändert wurde), maßgeblich.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass durch die am 5. April 2016 in Kraft getretene Novellierung des § 11 Abs. 3 zweiter Satz NÖ MSG, LGBl. Nr. 24/2016, ausweislich der Gesetzesmaterialien durch Einfügung der Worte „bedarfsdeckende Leistungen“ sowie des folgenden Klammerausdrucks klargestellt werden sollte, dass vom maßgeblichen Mindestsicherungsbetrag zur Deckung des Wohnbedarfs unter anderem der Wohnzuschuss - unabhängig vom konkreten Wohnungsaufwand - abgezogen wird (vgl. VwGH 21.11.2019, Ra 2018/10/0038).
13 Erhält demnach - wie im Revisionsfall - die hilfebedürftige Person eine bedarfsdeckende Leistung in Form einer Wohnbeihilfe bzw. eines Wohnzuschusses, hat dies nach § 11 Abs. 3 zweiter Satz NÖ MSG zur Folge, dass die in Betracht kommenden Mindeststandards jedenfalls „um diese Anteile“ - d.h. im Ausmaß der durch die gewährte Höhe der Wohnbeihilfe bzw. des Wohnzuschusses bewirkten Bedarfsdeckung - zu reduzieren sind, höchstens jedoch um 25% (bzw. 12,5% im Fall einer Eigentumswohnung oder eines Eigenheims; vgl. dazu nochmals VwGH Ra 2018/10/0038).
14 Diese Rechtsprechung ist zur Beurteilung der an die Mitbeteiligte zu erbringenden Leistung zur Deckung des Wohnbedarfs im Dezember 2019 weiterhin maßgeblich.
15 Die vom Verwaltungsgericht vertretene Rechtsansicht gründet hingegen - wie die Revisionswerberin zutreffend aufzeigt - auf hg. Rechtsprechung zu einer im relevanten Zeitraum bereits außer Kraft getretenen Fassung des § 11 Abs. 3 NÖ MSG und ist nach dem Gesagten für die Beurteilung des Leistungszeitraumes vom 1. bis zum 31. Dezember 2019 nicht mehr einschlägig.
16 6. Mit seinem Inkrafttreten am 1. Jänner 2020 ist ab diesem Zeitpunkt das NÖ SAG auf den verfahrensgegenständlichen Leistungszeitraum anzuwenden, weil die Übergangsbestimmung des § 50 Abs. 3 NÖ SAG auch in bereits anhängigen Verfahren die weitere Anwendung des NÖ MSG nur bis zum 31. Dezember 2019 vorsieht. Die Ermittlung der an die Mitbeteiligte zu erbringenden Leistungen ab dem 1. Jänner 2020 hat somit anhand der einschlägigen Bestimmungen des NÖ SAG (vgl. insbesondere dessen §§ 8, 12, 13) zu erfolgen.
17 7. Aus diesen Gründen hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 8. März 2022
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021100096.L00Im RIS seit
06.04.2022Zuletzt aktualisiert am
11.04.2022