TE OGH 2022/3/16 13Os139/21x

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.03.2022
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. März 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz-Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Socher, BA, in der Strafsache gegen * W* wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben als Schöffengericht vom 8. November 2021, GZ 35 Hv 80/21a-42, sowie über die Beschwerde des Angeklagten gegen den zugleich ergangenen Beschluss auf Verlängerung einer Probezeit nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil, das in Ansehung des Einziehungserkenntnisses unberührt bleibt, sowie der zugleich ergangene Beschluss auf Verlängerung einer Probezeit aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Leoben verwiesen.

Mit seiner Berufung und seiner Beschwerde wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1]       Mit dem angefochtenen Urteil wurde * W* des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG (I) sowie mehrerer Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG (II) schuldig erkannt.

[2]       Danach hat er vom 1. September 2020 bis zum 7. Juni 2021 in G*, K* und an anderen Orten des Bundesgebiets vorschriftswidrig Suchtgift

I) in einer das 25-Fache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge anderen überlassen, indem er im Urteil namentlich Genannten in wiederholten Angriffen zumindest fünf Kilogramm Marihuana mit einer Reinsubstanz von zumindest 575,5 Gramm Delta-9-THC (dem 28,7-Fachen der Grenzmenge) gewinnbringend verkaufte, und

II) ausschließlich zum persönlichen Gebrauch (US 4) erworben und besessen, nämlich Delta-9-THC-hältiges Marihuana, cocainhältiges Kokain und MDMA-hältige Ecstasy-Tabletten.

Rechtliche Beurteilung

[3]       Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5 und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

[4]            Die Verfahrensrüge (Z 4) ist im Recht:

[5]       Im Ermittlungsverfahren hatte der von der Staatsanwaltschaft bestellte Sachverständige ao Univ.-Prof. Dr. S* (ON 11) – soweit hier von Relevanz – Befund und Gutachten zum Reinheitsgehalt der im Rahmen der Hausdurchsuchung beim Beschuldigten sichergestellten Cannabisblüten erstattet (ON 16). In diesem Gutachten wird ausschließlich der (im Wege einer Gaschromatographie-Flammenionisationsdetektion ermittelte [ON 16 S 4]) Gehalt an Delta-9-THC, nicht aber jener an THCA ausgewiesen (ON 16 S 5).

[6]       Zur Hauptverhandlung am 8. November 2021 (ON 41) wurde der Sachverständige nach der Aktenlage nicht geladen (ON 1 S 26 f und ON 41 S 1; zur Bestellung des bereits im Ermittlungsverfahren bestellten Sachverständigen für die Hauptverhandlung durch Ladung siehe Ratz, Initiative, Bestellung und Führung beim Sachverständigenbeweis der StPO, ÖJZ 2018, 951 [957]; Hinterhofer, WK-StPO § 126 Rz 58; strenger Danek/Mann, WK-StPO § 221 Rz 23/3).

[7]       In dieser Hauptverhandlung stellte der Angeklagte – ohne dass zuvor das im Ermittlungsverfahren eingeholte Gutachten (ON 16) gemäß § 252 Abs 1 Z 2 oder 4 StPO (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 228 mwN) verlesen worden war – den Antrag auf „Einholung eines weiteren Gutachtens bzw Ergänzung aus dem Bereich der Pharma- und Toxikologie“ und auf „Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Pharma- und Toxikologie“ zum Nachweis des (auch) den THCA-Gehalt ausweisenden Reinheitsgehalts der sichergestellten Cannabisblüten im Tatzeitpunkt vor deren im Rahmen einer Gaschromatographie erfolgten Verbrennung (ON 41 S 12 f iVm ON 35).

[8]       Sachverständige (§ 125 Z 1 StPO) sind gemäß § 126 Abs 1 StPO zu bestellen, wenn für Ermittlungen oder für Beweisaufnahmen besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das die Strafverfolgungsbehörden durch ihre Organe, besondere Einrichtungen oder bei ihnen dauernd angestellte Personen nicht verfügen (vgl dazu RIS-Justiz RS0097283 und RS0121297). Im Fall der Beiziehung eines Sachverständigen zur Hauptverhandlung besteht die Beweisaufnahme – außer dem Fall des § 252 Abs 1 StPO – in dessen Vernehmung (Ratz, Initiative, Bestellung und Führung beim Sachverständigenbeweis der StPO, ÖJZ 2018, 951 [957]).

[9]       Bei der Prüfung der Berechtigung eines Antrags ist stets von der Verfahrenslage im Zeitpunkt der Stellung des Antrags und den bei seiner Stellung vorgebrachten Gründen auszugehen (RIS-Justiz RS0099618). Was sich nach der Antragstellung ereignet, ist daher bedeutungslos (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 325).

[10]     Im Zeitpunkt der Antragstellung war den Mitgliedern des Schöffensenats eine Beurteilung des Reinheitsgehalts der sichergestellten Cannabisblüten mangels Fachkunde weder hinsichtlich der Reinsubstanz an Delta-9-THC noch jener an THCA möglich. Durch die Abweisung des Antrags (ON 41 S 13 f) wurde der Angeklagte daher in seinen Verteidigungsrechten verletzt.

[11]     Daran ändert auch die nachträgliche, unmittelbar vor dem Schluss des Beweisverfahrens einverständlich (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO) erfolgte Verlesung des Gutachtens ON 16 (ON 41 S 14) nichts, wurde damit doch dem Antrag gerade nicht vollumfänglich entsprochen (vgl § 281 Abs 3 erster Satz StPO).

[12]     Dieser zutreffend aufgezeigte Verfahrensmangel führte zur Aufhebung des Schuldspruchs I schon bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285e StPO).

[13]     Daher konnten jene Annahmen, die den Schuldspruch nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG (II) tragen, nicht bestehen bleiben, weil dessen Zulässigkeit davon abhängt, ob dem Angeklagten im zweiten Rechtsgang neuerlich eine weitere, über § 27 Abs 1 oder 2 SMG hinausgehende (vgl insoweit § 35 Abs 1 iVm § 37 SMG) Straftat nach dem SMG zur Last liegt (RIS-Justiz RS0119278).

[14]     Es war daher mit Kassation wie im Tenor ersichtlich vorzugehen.

[15]     Die Einziehung des sichergestellten Suchtgifts gemäß § 34 SMG bleibt – da das Urteil ausreichende Feststellungen zu einer mit Strafe bedrohten Handlung (vgl Ratz in WK² StGB § 26 Rz 3) nach dem SMG enthält – von der Aufhebung des Schuldspruchs unberührt (RIS-Justiz RS0088115 [T3]).

[16]     Mit seiner Berufung und seiner Beschwerde war der Angeklagte auf die Aufhebung zu verweisen.

[17]     Hinzugefügt sei, dass das Erstgericht die in § 19a Abs 2 StGB zwingend vorgesehene Verhältnismäßigkeitsprüfung gänzlich (Z 11 dritter Fall, RIS-Justiz RS0088035 [insbesondere T7]) unterließ.

Textnummer

E134319

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0130OS00139.21X.0316.000

Im RIS seit

06.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

06.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten